P. Schöttler (Hg.): Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft

Titel
Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918-1945.


Herausgeber
Schöttler, Peter
Erschienen
Frankfurt am Main 1997: Suhrkamp Taschenbuch Verlag
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
€ 12,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sebastian Conrad, Arbeitsstelle für Vergleichende Gesellschaftsgeschichte, Freie Universität Berlin

Der von Peter Schöttler (Historiker am Centre Marc Bloch in Berlin) herausgegebene Sammelband ist ein wichtiger Beitrag zur Geschichte der Geschichtswissenschaft in der Zeit des Dritten Reiches. Er unterscheidet sich auffallend von zahlreichen Stellungnahmen zu diesem Thema, die im Stile hagiografischer Nachrufe eine kritische Auseinandersetzung mit der Geschichtsschreibung des Dritten Reiches meiden. Hier werden nicht nur allgemeine Überlegungen zur moralischen Bewertung von Verstrickung und Schuld präsentiert, sondern in der Mehrzahl der sieben Beiträge eine Fülle neuen Materials ausgebreitet, das geeignet ist, die lange unterbliebene Aufarbeitung der Geschichte der eigenen Disziplin auf eine breitere Grundlage zu stellen. Zwei Schwerpunktsetzungen lassen sich bei der Lektüre des Bandes ausmachen, die im Folgenden auch gesondert behandelt werden sollen: einerseits die Kritik an der Rolle der Historiker während des Dritten Reiches; und andererseits die Auseinandersetzung mit der Frage, ob denn die ideologische Verstrickung der Zunft eine methodische Innovation oder 'wissenschaftlichen Fortschritt' ausschloss.

Der kritische Anspruch des Bandes wird bereits von Peter Schöttler in seiner Einleitung herausgestellt, die einen informativen Überblick über Forschungsstand und Fragestellung bietet. Dabei wird der "massive Beitrag der Universitätshistoriker [...] zur intellektuellen Legitimation des Regimes" im Nationalsozialismus (S. 15) in den Vordergrund gestellt. Durch diese Blickrichtung wird der Anschluss an eine Debatte gewonnen, die in den letzten Jahren vor allem von Karl-Heinz Roth und Goetz Aly angestoßen wurde. Dabei wurde einer Reihe von Historikern der Vorwurf gemacht, als "Vordenker der Vernichtung" zur nationalsozialistischen Politik des Völkermordes beigetragen zu haben. In der Mehrzahl der von Schöttler versammelten Beiträge wird diese Perspektive - mehr oder weniger explizit - aufgegriffen.

Bernd Faulenbach (über die Historiografie während der Weimarer Republik), Willi Oberkrome (über die 'Volksgeschichte') und Karen Schoenwälder (über die Einstellung der Historiker zum Nationalsozialismus) skizzieren in ihren überblicksartigen Darstellungen das Verhältnis der Historikerschaft zur Politik und Ideologie der Zeit. In allen drei Aufsätzen, die weitgehend auf bereits publiziertem Material beruhen, wird bereits die große Faszination des Nationalsozialismus auf die Mehrzahl der deutschen Historiker deutlich.

Mit neuem Material warten dagegen die Beiträge von Ingo Haar, Karl Heinz Roth, Gadi Algazi und Peter Schöttler auf. Ingo Haar, dessen Dissertation über "Historiker im NS-Regime" vor dem Abschluss steht, greift bei seiner Rekonstruktion der Königsberger Ostforschung auf umfangreiche Archivstudien zurück. Im Mittelpunkt steht dabei eine Gruppe 'revisionistischer' Historiker um Hans Rothfels (zu der Theodor Schieder, Werner Conze, Rudolf Crämer und Erich Maschke gehörten), deren weltanschauliche Nähe zur völkischen Rhetorik der Jugendbewegung der 1920er-Jahre Haar in einem ausführlichen ersten Teil nachweist. In einem zweiten Schritt unterzieht der Autor die Schriften von Hans Rothfels aus den frühen 1930er-Jahren einer kritischen Lektüre und dokumentiert die Affinität zur nationalsozialistischen Ideologie. "Die Königsberger Historiker", so resümiert Haar "träumten von einer konföderierten Völkerordnung unter deutscher Führung" (S. 82).

Wie den Königsberger Schülern von Hans Rothfels wird auch dem Werk Otto Brunners häufig eine gewichtige Rolle bei der Entstehung der Struktur- und Sozialgeschichte attestiert. Gadi Algazi (Tel Aviv) bestreitet in seiner ausführlichen Analyse von Brunners Hauptwerk "Land und Herrschaft" aber dessen methodisch innovativen Charakter und betont stattdessen die politisch reaktionären Tendenzen, die in der Logik der Argumentation Brunners verankert seien. Er rekonstruiert den Einfluss der Zeit auf Thematik, Denkfiguren und Sprache in Brunners Werk und kommt zu dem Schluss, dass es sich hierbei weniger um eine histoire totale als um "eine Variante totalitärer Geschichtsschreibung" handelte (S. 181).

Karl Heinz Roth (Hamburg) setzt sich mit der 'Ostforschung' auseinander. Sein Beitrag zielt auf die gegenseitige Durchdringung von wissenschaftlicher Tätigkeit und der Praxis des Völkermords. Er verfolgt den Lebensweg des Historikers Hans Joachim Beyer, dessen rücksichtslose Verquickung von Wissenschaft und Politik der "planvollen Umsiedlungs-, Vertreibungs- und Vernichtungspraxis den Weg" bahnte (S. 279). Beyers Geschichtsschreibung wies große weltanschauliche Parallelen zur NS-Ideologie auf und dokumentierte die Transformation von Wissenschaft "zu einem Instrument der Macht" (S. 266). Denn seine "historiografische Gelehrsamkeit" führte Beyer nicht nur auf Lehrstühle an den Universitäten in Posen und Prag, sondern hatte ihn schon zur Beratung der Vernichtungspolitik im besetzten Polen qualifiziert.

Peter Schöttler schließlich erweitert die Perspektive auf die Westforschung (von Historikern wie Franz Steinbach, Franz Petri, Ernst Anrich). Er unternimmt dabei den Versuch, zwischen Westforschung und nationalsozialistischer Westexpansion eine Beziehung zu etablieren, die über bloße ideologische Affinitäten hinausgeht. Dabei stützt er sich auf Material, das die Nutzung der Arbeiten von Historikern durch die nationalsozialistische Politik dokumentiert. Auch die Westforschung, so Schöttlers Fazit, war de facto eine "Einmarschhistorie" und lieferte "eine relativ konsistente Begründung dafür [...], dass große Teile des 'Westraumes' [...] annektierbar wurden" (S. 231).

Der kritische Blickwinkel dieser Aufsätze, der in der Regel auch durch Tonlage und Rhetorik unterstrichen wird, dürfte aus dieser knappen Zusammenfassung deutlich geworden sein. Peter Schöttler macht dies bereits in seiner Einleitung deutlich: "Kritische Geschichtsschreibung kann [...] nicht umhin, über 'Opfer' und 'Täter' gleichermaßen zu forschen, ja zu 'ermitteln'." (S. 21) Er sieht - in Anlehnung an Marc Bloch - im Historiker einen Untersuchungsrichter, und dies ist auch die Perspektive, die in der Mehrzahl der Beiträge eingenommen wird. Dadurch stehen bei der Suche nach Ursachen dafür, dass im "Dritten Reich [...] die deutsche Geschichtsschreibung [...] so nachhaltig versagte" (S. 20), vor allem einzelne Wissenschaftler im Blickpunkt der Analyse; die Autoren rekonstruieren die Instrumentalisierung von Historikern durch die verbrecherische Politik des Nationalsozialismus.

Schöttler plädiert zwar in der Einleitung für eine Analyse "im Sinne des Foucaultschen Diskursbegriffs" (S. 19). In diesem Buch allerdings - das mag man begrüßen oder bedauern - wird diesem Rat nur selten gefolgt. Ein solches Projekt könnte immerhin über die Bewertung einzelner Historiker hinausgehen, über die 'Ermittlung' ihrer Intentionen und Absichten sowie die Berechnung ihres Einflusses auf die Gesellschaft. Stattdessen ließe sich dann noch mehr Gewicht auf die Prinzipien und Logiken legen, die die diskursiven und nichtdiskursiven Praktiken der Zeit strukturierten. Damit wäre möglicherweise ein Zugang zum Problem der Komplizität von Wissenschaft und Machtpolitik denkbar, der über die Vorstellung von der Instrumentalisierung einer potentiell 'unschuldigen' Wissenschaft durch eine reaktionäre Ideologie hinausginge.

Hier ist hingegen von "intellektuellen Vordenkern" die Rede, die wissenschaftliche und gesellschaftliche Prozesse "steuerten" (Roth, S.263). "Historiographische Gelehrsamkeit transformierte sich zu einem Instrument der Macht" (Roth, S.266). Auch der Titel des Bandes evoziert den instrumentalen Charakter, der der Geschichtswissenschaft hier zugemessen wird. Für die Autoren geht es um die Frage, "inwieweit die Geschichtswissenschaft subjektiv und objektiv dazu beitrug, das nationalsozialistische Herrschaftssystem [...] zu stützen und [...] zu legitimieren." (Schoenwälder und Schöttler, S.16) Die einzelnen Beiträge sind daher vom Erstaunen und Erschrecken darüber gekennzeichnet, dass einer als Wissenschaft begriffenen Geschichtsschreibung das Abgleiten in die Barbarei überhaupt möglich ist. Diese Fragestellung allerdings, das nur in Parenthese, basiert zumindest auf der Möglichkeit, zwischen Wissen und Macht, zwischen Methode und Ideologie säuberlich zu trennen.

Diese Perspektive bestimmt auch die Behandlung der übergreifenden Problematik, mit der sich fast alle Aufsätze auseinandersetzen, und zwar die Frage nach dem Innovationspotential von Ost- und Westforschung im Dritten Reich. "In welchem Ausmaß sind historische Forschungsergebnisse, die während des Nationalsozialismus erarbeitet und veröffentlicht wurden, überhaupt wissenschaftlich ernstzunehmen?" (Schöttler, S. 17) Die Mehrzahl der hier versammelten Aufsätze wendet sich gegen die Interpretation von Willi Oberkrome, aber auch an anderer Stelle von Winfried Schulze oder Jürgen Kocka, die zu dem Schluss kommen, dass sich in einigen Werken der Volksgeschichte "die heuristischen Möglichkeiten einer frühen Reformhistoriographie" (Oberkrome, S. 115) bereits andeuteten. Auch wenn Oberkrome von der Volksgeschichte keine direkte Linie zur Struktur- und Sozialgeschichte der Nachkriegszeit ziehen mag, kennzeichnet er die von Soziologie, Volkskunde und Landesgeschichte beeinflussten Neuansätze dennoch als "methodisch innovativ" (S. 113).

Mehrheitlich erheben die anderen Autoren dieses Bandes Einspruch gegen die Oberkrome-These, dass die am Begriff des Volkes orientierte Geschichtsschreibung der 1930er-Jahre "anscheinend essentielle Grundlagen einer späteren Sozialgeschichte antizipiert hat" (Oberkrome, S. 111). Karl Heinz Roth etwa spricht von der "Fragwürdigkeit des jüngsten Versuchs ..., die Volkstumsgeschichtsschreibung des deutschen Faschismus in eine Dichotomie von verwerflichen revisionistischen Zielstellungen und interdisziplinär- innovativer Konzeptionsbildung aufzuspalten" (S. 316). Hier wird also gefordert, die wissenschaftlichen Texte jener Zeit intensiver auf ihre interne Logik und Kohärenz hin zu befragen, statt die angebliche Innovation anhand von formalen Kriterien beinahe apodiktisch zu behaupten. Denn die methodischen Erweiterungen seien nicht zu trennen von der rassistischen und mörderischen Praxis der nationalsozialistischen Expansionspolitik.

Dabei wird allerdings deutlich, dass der hier gewählte Maßstab für die Bewertung methodischer Ansätze in letzter Instanz ein politischer ist. Während also Oberkrome zwischen methodischer Innovation und der politischen "Funktionalisierung [...] im Interesse des 'Dritten Reiches'" (S. 111) unterscheidet, erscheinen in den Augen seiner Kritiker West- und Ostforschung von vornherein als moralisch problematisches Projekt. Für Peter Schoettler, um diese Sichtweise an einem Beispiel zu illustrieren, waren es ihre "ideologischen Blockaden", die es der Westforschung "so schwer machten, ihren Innovationsanspruch einzulösen" (S. 228). Gegenüber Oberkromes Versuch, zwischen Methode und politischen Implikationen zu differenzieren, beharren die anderen Autoren dieses Bandes nachhaltig auf dem Primat der Politik und wollen "eine Trennung von Ziel und Methodik nicht zulassen" (Roth, S. 316).

Auch Oberkromes Kritiker allerdings lösen sich nicht grundsätzlich vom Konzept der Innovation. Für sie bemisst sich der innovative Charakter einer Forschungsrichtung aber an seinem politischen, d.h. emanzipatorischen Gehalt. Die Annales-Historiografie gilt Schöttler daher auch als innovativ, weil sie beispielsweise eine - aus heutiger Sicht - "'positive' Grenzgeschichte" wie die Lucien Febvres ermöglichte. Auch wenn die deutsche Westforschung mit identischen Methoden operiert hätte, müsste man ihr dieses Attribut absprechen, "weil das völkische Dogma und das Dogma vom Erbfeind derartige Fragestellungen von vornherein ausschlossen" (S. 260). Der Vergleich mit der Annales-Schule (Schöttler, S. 232) unterstreicht, dass hier der Begriff der methodischen Innovation nicht prinzipiell abgelehnt wird, sondern nur dann, wenn die vorgebliche 'Innovation' von einer reaktionären Politik vereinnahmt wird. Dabei fällt aus dem Blick, dass keine methodische Neuerung gänzlich unberührt bleibt von den sozialen Bedingungen ihrer Konstitution; das gilt auch für die Annales-Historiografie, fuer die Zeitgeschichte nach dem Krieg oder auch für die deutsche Sozialgeschichte. Man wird der Frage daher nicht gänzlich ausweichen können, ob nicht doch bestimmte methodische Neuerungen eine Erweiterung bzw. Verschiebung der Fragestellungen, Themen oder Quellenbestände ermöglichen - auch wenn sie gleichermaßen (aber: welche Methode liefe da nicht Gefahr) von einer reaktionären Ideologie in Anspruch genommen werden können.

Möglicherweise wäre es aber viel versprechender, den Begriff der 'Innovation' selbst zu problematisieren. Denn im Grunde teilen beide Seiten der Debatte eine Auffassung von Innovation, die noch von der Hoffnung auf die befreiende Wirkung der Wissenschaft durchdrungen ist. Ob also die Autonomie der Methode behauptet oder aber am Primat des Politischen festgehalten wird: beide Seiten setzen auf das progressive Potential wissenschaftlicher Innovation. Eine methodische Ausweitung muss jedoch nicht als Fortschritt in einem normativ aufgeladenen Sinne verstanden werden, sondern kann auch als Perspektivenänderung, als Paradigmenwechsel begriffen werden - mit je spezifischen gesellschaftlichen Voraussetzungen und Wirkungen. Auch hier könnte ein Ansatz weiterführen, der der gegenseitigen Durchdringung von Wissen und Macht als konstitutiver Bedingung jeder Wissenschaft Rechnung tragen würde.

Die wissenschaftsgeschichtliche Einordnung von Volksgeschichte, West- oder Ostforschung dürfte somit weiterhin umstritten bleiben. Unbestritten ist jedoch, dass bei der Aufarbeitung der Geschichtsschreibung im Nationalsozialismus immer noch ein Nachholbedarf herrscht, der zunächst durch intensive Einzelstudien verringert werden muss. Der vorliegende Band vereint die kritische Perspektive, die bei der Behandlung dieses Themas bisher häufig zu kurz kam, mit der Erschließung neuen Materials und leistet so einen wesentlichen Beitrag zu einem informierten Umgang mit der Geschichte der historischen Disziplin. Die Beispiele zeigen, wie wichtig und notwendig solche Einzelfallstudien sind - die dann zugleich die Möglichkeit schaffen, über die Bewertung individueller Verstrickungen hinauszugehen. Auf einer solchen Grundlage wäre dann die Lösung von der personalisierenden Perspektive denkbar, die durch eine Rekonstruktion der Regeln des historiografischen Diskurses und seiner Verbindungen zum gesellschaftlichen Kontext zu ergänzen wäre.

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