A. Wirsching: Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg?

Titel
Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg?. Politischer Extremismus in Deutschland und Frankreich 1918 - 1933/39. Berlin und Paris im Vergleich


Autor(en)
Wirsching, Andreas
Reihe
Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, 40
Erschienen
München 1999: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
x+ 702 S.
Preis
€ 79,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bert Hoppe, HUB

Worin liegen die deutschen Besonderheiten des Scheiterns der Weimarer Republik und was war daran Teil einer allgemeineren "europäischen Krankheit"? Obwohl diese grundlegende Frage zu den umstrittensten der jüngeren Geschichte gehört, liegen bisher relativ wenige Untersuchungen vor, die die Krisengeschichte mehrerer Länder im Europa der Zwischenkriegszeit miteinander vergleichen 1. Andreas Wirsching will diese Forschungslücke mit einer Studie füllen, in der er einen Vergleich auf gleich zwei Ebenen durchführt: Der Autor untersucht die Entwicklung der extremen Linken und der extremen Rechten in Berlin und Paris in den Jahren 1918 - 1933 bzw. 1939, wobei die beiden Hauptstädte stellvertretend für ihr Land stehen.

Als analytisches Arbeitsinstrument zur Inventarisierung und Wertung der nationalen Gemeinsamkeiten und Unterschiede dient ihm der Idealtyp der "totalitären Bewegung", den Wirsching in Anlehnung an die klassische Totalitarismustheorie von Carl J. Friedrichs entwickelt hat. Das oft als zu statisch kritisierte, strukturanalytische Verfahren dieser Totalitarismustheorie dynamisiert er jedoch durch das Hinzufügen einer historisch-genetischen Dimension: Welche sozialen, gesellschaftlichen, regionalen und mentalen Triebkräfte und Rahmenbedingungen ermöglichten oder begünstigten die Entstehung, Entwicklung und den Erfolg totalitärer Bewegungen? Welche Wechselwirkungen gab es zwischen den Extremen von links und von rechts?

Als roter Faden dient dabei das Paradigma des "Bürgerkrieges", in dem sich auf beiden Seiten des politischen Spektrums "latente und offene Bedrohungsängste, Mißbehagen an den politischen Zuständen und Aggressivität bündelten." (S. 22). Die Bedrohungsängste wurden vor allem durch die Propaganda der Kommunisten ausgelöst - sie ließen nach dem Ende des Ersten Weltkrieges keinen Zweifel daran, daß sie den revolutionären Bürgerkrieg als historisch notwendig und infolgedessen auch wünschenswert betrachteten. Die Angst vor dem Bürgerkrieg war daher während der gesamten Zwischenkriegszeit ein entscheidender Mobilisierungsfaktor für die extreme Rechte, die sich angesichts der kommunistischen Herausforderung zu gegebenenfalls gewaltsamer "Notwehr" berechtigt sah. Die Angst vor der "roten Gefahr" war dabei in Berlin sehr viel größer als in Paris: Angesichts von über 1000 Toten in der deutschen Hauptstadt in der ersten Jahreshälfte 1919 infolge kommunistischer Aufstandsversuche erschien die Drohung des Bürgerkrieges in Berlin um einiges realer als in Paris, wo die sozialen Unruhen der Nachkriegszeit weit weniger blutig verliefen.

Das Ausufern der Gewalt in Berlin resultierte auch daraus, daß die deutschen Kommunisten das politische und soziale System "konsequenter" ablehnten als ihre französischen Genossen: Der PCF hatte seine Wurzel im französischen Syndikalismus und war deshalb mit Rücksicht auf seine Wählerschaft gezwungen, eine "gleichsam 'opportunistische' Interessenpolitik zu betreiben" (S. 614). Die KPD hingegen hatte sich weitgehend von der sozialen Realität abgekoppelt und war somit anfälliger für einen "revolutionären Voluntarismus". Die Charakterisierung der Spartakisten durch den deutschen Gewerkschafter Richard Müller - sie seien meist "nur theoretisch" gebildet und ließen "häufig das Verständnis für den praktischen Tageskampf vermissen" (S. 41) - traf im Grunde auch für den größten Teil der KPD-Mitglieder während der Weimarer Republik zu.

Der ultralinke Schwenk der Komintern im Jahre 1928 hatte dementsprechend gegensätzliche Auswirkungen auf die französischen und die deutschen Kommunisten: Dem PCF liefen Wähler und Mitglieder in Scharen davon, da sie sich nicht mehr von den Kommunisten in ihrem Kampf für soziale Verbesserungen vertreten fühlten. Die KPD hingegen profitierte von der neuen Taktik - ihre Mitglieder und Wähler, die im Vergleich zu denen des PCF zu einem immer größeren Teil aus Arbeitslosen bestanden, tendierten strukturell zu einer radikalen Haltung. Zudem erschien die mit der ultralinken Taktik verbundene Sozialfaschismusthese in Berlin plausibler als in Paris.

In der deutschen Hauptstadt standen die Sozialdemokraten gewissermaßen auf der anderen Seite der Barrikade: Sie stellten u.a. den Berliner Polizeipräsidenten und die meisten Gewerkschaftsführer. In Paris hingegen standen dem PCF weder sozialistische Gegner in Staat oder Verwaltung gegenüber, noch eine dem ADGB vergleichbar dominierende reformistische Gewerkschaft, die es zu "entlarven" galt. Im Gegenteil: Während in Preußen z.B. "aus Wahlen hervorgegangene kommunistische Kommunalbeamte prinzipiell nicht durch die Aufsichtsbehörden bestätigt" wurden und die KPD nach Wirschings Interpretation somit "grundsätzlich und gleichsam strukturell auf die außerparlamentarische Aktion verwiesen" (S. 410) war, stellte der PCF in der Pariser Banlieue eine ganze Reihe von Bürgermeistern und wurde so zumindest teilweise integriert.

Im Gegensatz zu Klaus-Michael Mallmann betont Wirsching deshalb, daß in der Weimarer Republik kein "linksproletarisches Milieu" existiert habe; statt dessen konstatiert er eine Flucht der KPD in eine zunehmend nach außen abgeschlossene "Gegenwelt". 2 Wenn es "Sozialdemokraten wider Willen" gegeben hat, so zeigt der Vergleich zwischen KPD und PCF, dann hat es sie in Frankreich gegeben.

Die radikalere, "totalitärere" Haltung der KPD im Vergleich zum PCF läßt sich insbesondere daran ablesen, daß das Bürgerkriegsparadigma am Ende der 20er Jahre in Berlin eine weit größere Rolle spielte als in Paris. Die von der Komintern ausgegebene Parole, der drohende, "imperialistische" Krieg gegen die Sowjetunion müsse von den westeuropäischen Kommunisten in einen Bürgerkrieg verwandelt werden, wurde von vielen PCF-Mitgliedern als "lächerlich" abgetan. Sie waren in der Regel auch gar nicht willens, die Bürgerkriegspropaganda tatsächlich umzusetzen: Die Teilnahme an paramilitärischen Organisationen wurde "von den im Beruf stehenden Parteigenossen eher als Zumutung gewertet" (S. 261). In Berlin hingegen waren viele Skeptiker spätestens nach dem "Blutmai" von 1929 davon überzeugt, sich in einer latenten Bürgerkriegssituation zu befinden, die die KPD zu gewaltsamer Gegenwehr berechtige.

Nicht nur die deutschen Kommunisten näherten sich stärker dem Idealtyp der totalitären Bewegung als ihre französischen Genossen, auch die Rechte war in Berlin radikaler als in Paris. Intensiv befaßt sich Wirsching in diesem Zusammenhang mit den Thesen von Ernst Nolte. Die Stärke und Radikalität des französischen Rechtsextremismus waren - so weist er nach - "abhängige Variablen" von der Stärke und Radikalität der französischen Kommunisten (S. 516). Daher stimmt Wirsching mit Nolte überein, daß der französische "Faschismus" im Zeichen der "Notwehr" in erster Linie durch seinen "Antibolschewismus" definiert wurde. Mit Blick auf die NSDAP betont Wirsching jedoch die z. T. prinzipiell unterschiedliche Motivlage in diesem Teil des rechtsextremen Lagers in Deutschland. Zwar wurde das "faschistische Potential" auch hierzulande in erster Linie durch die Furcht vor einer bolschewistischen Revolution mobilisiert. Im Gegensatz zu Frankreich spielte jedoch der völkische Antisemitismus in der Weimarer Republik auf der Rechten eine entscheidende Rolle und fand in der NSDAP seine organisatorische Fassung. Diese völkisch-antisemitische Ideologie hatte in Deutschland zudem eine eigenständige Tradition und war bereits vor der russischen und der deutschen Revolution der Jahre 1917/18 ausgebildet: Insofern könne der völkische Antisemitismus der NSDAP nicht - so argumentiert Wirsching gegen Nolte - als eine Art übersteigerter Antibolschewismus bezeichnet werden. Vielmehr hätten die völkischen Ideologen in den Revolutionen lediglich eine Bestätigung ihres Weltbildes gesehen(S. 313): Aus der "jüdischen Weltverschwörung" wurde eine "jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung".

Wirsching geht in seiner Argumentation allerdings gleich wieder einen Schritt zurück, indem er behauptet, daß der "völkisch-antisemitische Ideologiekern [des Nationalsozialismus] freilich nur von einer Minderheit durchschaut oder gar geteilt wurde." Das faschistische - also primär antibolschewistische - Potential sei von der NSDAP "abgeschöpft" und im "völkisch-antisemitischen Sinne instrumentalisiert" worden (S. 620). Gab es in der NSDAP, so ließe sich diese Formulierung interpretieren, also quasi "Antisemiten wider Willen"?

Wirsching beruft sich in dieser Frage vor allem auf eine Untersuchung von Peter Merkl, die auf einer Stichprobe von 581 Nationalsozialisten basiert. Demzufolge gaben nur 12,5% der in dieser Gruppe erfaßten Nationalsozialisten Juden als Hauptobjekt ihres Hasses an, 10,6% hingegen Kommunisten und 44,7% "Marxisten". 3 Die Feststellung, genuine Antisemiten seien in der NSDAP in der Minderheit gewesen, überrascht dann doch - zumal sie die Unterscheidung zwischen den französischen Faschisten, die Wirsching wegen ihrer "relativen Ideologiearmut" als "halbtotalitär" charakterisiert, und den Nationalsozialisten, die vor allem ihr völkischer Antisemitismus zu einer "vollausgeprägten totalitären Bewegung" gemacht habe (S. 618), in Frage stellt.

Trotzdem sind die wesentlichen Thesen des Buches stimmig. Wirsching sieht für das Berlin der Weimarer Republik eine "entscheidende formale Parallele" zwischen den völkischen Antisemiten der NSDAP und den Kommunisten: Beide Bewegungen kamen dem Idealtyp der "totalitären Bewegung" näher als die französischen "Faschisten" und der PCF. Sie waren von der sozialen und gesellschaftlichen Realität weitgehend abgekoppelt und pflegten ihre Überzeugung, die Geschichte aufgrund bestimmter "Naturgesetze" erklären zu können. Bei beiden Bewegungen resultierte daraus der Wille, ihre "Einsicht" in die Naturgesetze gewaltsam durchzusetzen (S. 325).

Im Paris der Zwischenkriegszeit hingegen ist eine solch starke gegen die Republik gerichtete Ideologisierung nicht aufzufinden. Dies schlägt sich nicht nur in einer insgesamt niedrigeren Gewaltbereitschaft nieder. Sowohl die extreme Linke und als auch die extreme Rechte nahmen zudem in einem begrenzten Rahmen auf nationale Traditionen der Dritten Republik Bezug und bewahrten somit noch eine gewisse Nähe zum politischen common sense. Auf der Rechten verlieh der siegreiche Ausgang des Krieges der republikanischen Staatsform auch unter ihren Kritiker einen gewaltigen Legitimationsschub. Auf der Linken konnte sich derweil der PCF in den "Hauptstrom der nationalen politischen Kultur" (S. 348) integrieren, indem er sich z.B. der revolutionären Tradition des Sturmes auf die Bastille bemächtigte.

In der Weimarer Republik hingegen diente die nationale Geschichte den politischen Extremisten in erster Linie als negativer Bezugspunkt und läßt so erkennen, wie schmal das Fundament war, auf dem die Weimarer Republik gebaut war: Die Niederlage im Ersten Weltkrieg hatte die Rechte in Deutschland nachhaltig traumatisiert und die Demokratie diskreditiert; die extreme Linke litt am Phantomschmerz der fehlenden Revolution. KPD und NSDAP waren deshalb sehr viel stärker als PCF und die französischen "Faschisten" darauf angewiesen, Traditionen zu "erfinden", um ihre politische Identität zu demonstrieren. Da diese "invented traditions" vor allem auf der Erinnerung an die Opfer politischer Gewalttaten beruhten, leisteten sie auf ihre Weise "der extrem ideologischen, gewaltsamen und abstrakt-volutaristischen Entwicklung Vorschub" (S. 360), die Anfang der 30er Jahre schließlich in die Spirale der Gewalt in Berlin mündete, die zum Scheitern der ersten deutsche Demokratie entscheidend beitrug.

Anmerkungen:
1 Vgl. insbesondere: Charles S. Maier: Recasting Bourgois Europe. Stabilisation in France, Germany, and Italy in the Decade after World War I, 2. Aufl., Princeton 1988.
2 Klaus-Michael Mallmann: Kommunisten in der Weimarer Republik. Sozialgeschichte einer revolutionären Bewegung, Darmstadt 1996. Siehe dazu auch die Diskussionsbeiträge in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte von Wirsching [45 (1997), S. 449-466] und Mallmann [47 (1999), S. 401-415].
3 Peter H. Merkl: Political Violence under the Swastika. 581 Early Nazis, Princeton/NY 1975, S. 322f., 340ff., 522f.

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