C. Kuretsidis-Haider: "Das Volk sitzt zu Gericht"

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Titel
"Das Volk sitzt zu Gericht". Österreichische Justiz und NS-Verbrechen am Beispiel der Engerau-Prozesse 1945-1954


Autor(en)
Kuretsidis-Haider, Claudia
Reihe
Österreichische Justizgeschichte 2
Erschienen
Innsbruck 2006: StudienVerlag
Anzahl Seiten
496 S.
Preis
€ 53,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang Form, Forschungs- und Dokumentationszentrum Kriegsverbrecherprozesse, Philipps-Universität Marburg

Schon während des Zweiten Weltkriegs diskutierten die Alliierten, wie sie auf deutsche Kriegsverbrechen reagieren sollten. Die Moskauer Deklaration vom Oktober 1943 war in dieser Hinsicht wohl eines der bedeutendsten Ergebnisse. Es wurde festgelegt, dass deutsche Gräueltaten in den Ländern geahndet werden sollten, in denen sie begangen worden waren oder noch würden. Ausgenommen hiervon blieb allerdings die strafrechtliche Verfolgung der Hauptkriegsverbrecher. Dass man den Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg einrichtete, wurde später, in Frühjahr 1945 entschieden.

In Anlehnung an die Moskauer Deklaration begann die Österreichische Provisorische Regierung ab Ende Mai 1945 damit, ein Gesetzeswerk zu entwickeln, auf dessen Grundlage Kriegsverbrechen in Österreich verfolgt werden sollten. Die mit Sozialdemokraten, Kommunisten und Vertretern der Österreichischen Volkspartei besetzte Regierung beschloss nach nur wenigen Wochen das so genannte Kriegsverbrecher Gesetz (S. 45ff.). Für die Aburteilung wurden besondere Spruchkörper – Volksgerichte – errichtet. Damit stand Österreich nicht alleine in Europa; Volksgerichte gab es in mehreren Ländern, wie z.B. in der Tschechoslowakei. Claudia Kuretsidis-Haider befasst sich im ersten Teil ihres Buches mit der Relevanz von Gerichtsakten als historischen Quellen, die sie vor allem auch als einen Spiegel des österreichischen Umgangs mit der NS-Zeit bewertet (S. 31). Im darauf folgenden Kapitel werden sehr anschaulich und in angenehm knapper Form die Entstehungsgeschichte des Gesetzes und die damit zusammenhängenden Problembereiche skizziert. Insbesondere wird auf den allfällig diskutierten Sachverhalt des Rückwirkungsverbot näher eingegangen (S. 53ff.).

Im Zentrum ihrer Arbeit steht einer der umfangreichsten Verfahrenskomplexe der Volksgerichtsbarkeit in Österreich, der sich praktisch über dessen gesamten Zeitraum erstreckte. Es ging um Verbrechen an ungarisch-jüdischen Zwangsarbeitern, die bei Süd-Ost-Wall Arbeiten (Lager Engerau bei Pressburg / Bratislava) Sklavenarbeit leisten mussten. Als die Befreiung nahte, trieb das Bewachungspersonal die ausgemergelten Menschen in einem Gewaltmarsch in Richtung Deutsch-Altenburg und weiter per Schiff Richtung KZ Mauthausen: Über 100 Zwangsarbeiter starben. Insgesamt fanden zwischen August 1945 und Juli 1954 sechs Ermittlungsverfahren statt. Neben den Engerau-Prozessen kam es in Wien, Graz und Linz zu einer Reihe weiterer Süd-Ost-Wall-Verfahren; so beispielsweise wegen Massakern an ungarischen Juden in Rechnitz und Strem und in Deutsch-Schützen (Burgenland). Allesamt zählen sie zu den so genannten Endphaseverbrechen. 21 Angeklagte standen vor Gericht; neun von ihnen wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet; dies waren rund 20 Prozent aller Todesurteile. Kein anderer Verfahrenskomplex wurde von den Volksgerichten mit gleicher Härte beurteilt.

Mit einer Anzeige eines Wiener Metzgers begannen im Mai 1945 die umfangreichsten gerichtlichen Ermittlungen wegen NS-Verbrechen in der unmittelbaren Nachkriegsgeschichte Österreichs. Der 1. Engerau-Prozess (14. bis 17. August 1945, S. 69-114) richtete sich gegen vier Angehörige der Wachmannschaft und wurde nicht nur in Wien mit großer Aufmerksamkeit verfolgt, wie die breite Zeitungsberichterstattung über den Prozess belegt. Die Frage der Ahndung von NS-Verbrechen war kurz nach Kriegsende auch außerhalb Österreichs ein viel diskutiertes Thema, fanden doch zeitgleich in London die Verhandlungen um die Einrichtung eines Internationalen Militärgerichtshofes statt. Die Welt war sozusagen sensibilisiert. Dies galt gleichfalls für den zweiten Engerau-Prozess von 12. bis 15. November 1945 gegen weitere fünf Wachleute (S. 115-153), der fast zeitgleich mit dem Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess begann.

Nach den ersten Monaten der österreichischen Volksgerichtsbarkeit kehrte allerdings der Prozessalltag ein. Die allenthalben anberaumten Gerichtstermine minderten in gewisser Weise das Spektakuläre des Geschehens, obwohl der Höhepunkt der Volksgerichtsbarkeit erst ein Jahr später zu verorten ist. In diesen Zeitraum fiel der 3. Engerau-Prozess von 16. Oktober bis 4. November 1946 (S. 155-250). Er war mit zehn Angeklagten – darunter die beiden Lagerkommandanten sowie weitere Hauptverantwortliche – das größte der sechs besprochenen Verfahren. Wie in keinem anderen Verfahren schlichen sich Ermittlungspannen ein. Irgendwann im März/April 1946 verschwand aus ungeklärten Umständen eine ganze Reihe von Unterlagen, sodass der Fortgang des Verfahrens in Gefahr geriet (S. 159). Es konnten offensichtlich nicht alle Akten rekonstruiert werden, weshalb das Vorverfahren im 3. Engerau-Prozess nicht vollständig untersucht werden konnte.

Nach dem Ende des Verfahrens bemühte sich die Staatsanwaltschaft Wien vergeblich, weiteren mutmaßlichen Hauptverantwortlichen für die Verbrechen in Engerau den Prozess zu machen. Es folgten vier Jahre mehr oder weniger intensiver staatsanwaltschaftlicher Tätigkeit, die letztendlich von wenig Erfolg gekrönt waren, denn eine Hauptverhandlung hat es nach den von Kuretsidis-Haider als 4. Engerau-Prozess bezeichneten Ermittlungen nicht gegeben (S. 251-275). Es handelt sich nicht um einen abgeschlossenen Akt, vielmehr finden sich viele angefangene Ermittlungen, Verfahrensabtrennung, Widereingliederungen in das Verfahren und auch einfach tote Enden, die sich scheinbar im Nichts auflösten. Im Jahr 1949 wurden die staatsanwaltlichen Ermittlungen letztlich eingestellt. Der zeithistorische Quellenwert des Gerichtsakts darf jedoch nicht unterschätzt werden. So fand sich eine ganze Reihe von Abschriften aus vorangegangenen Strafsachen, die ansonsten nicht überliefert wären.

Die Fahndungen nach Tätern aus dem Engerau-Komplex wurden in den 1950er-Jahren weitergeführt. Nach vier Jahren gingen zwei Hauptverdächtige ins Netz der Polizei. Die beiden darauf folgenden Verfahren, der 5. und 6. Engerau-Prozess, am 12. und 13. April 1954 bzw. zwischen dem 26. und 29. Juli 1954, bildeten den Schlusspunkt einer nunmehr fast 10jährigen Investigationstätigkeit – wie auch der österreichischen Volksgerichtsbarkeit insgesamt, die nach dem Abzug der Alliierten im Dezember 1955 abgeschafft wurde. Beide Verfahren fielen in einen Zeitraum, der von Claudia Kuretsidis-Haider mit „Schlussstrichmentalität“ charakterisiert wird. Sie resümiert für den 5. Prozess: „Man war bemüht, den Prozess ohne größeren Aufwand abzuwickeln, darauf bedacht, ein möglichst mildes Urteil zu fällen.“ (S. 396f.) Wenngleich man sich fragen kann, ob denn 10 Jahre Kerker wirklich am unteren Ende der Sanktionsskala zu verorten sind, ist sicherlich nicht mehr die gleiche Härte zu spüren, wie kurz nach Ende des Krieges – Heinrich Trnko wird nach nur vier Jahren Strafvollzug entlassen. Der sechste und letzte der Engerau-Prozesse stellt sich etwas anders dar: Mit einer bisher nicht zu verzeichnenden Anzahl von Zeugen war man offensichtlich gewillt, den Willen zur Abrechnung mit dem NS-Regime zu demonstrieren. Weshalb es überhaupt zu zwei getrennten Prozessen gekommen war, konnte nicht aufgeklärt werden. Gerichtsakten belegen sicherlich Vieles, lüften aber nicht alle Geheimnisse staatsanwaltschaftlicher Prozessstrategie. Eine Auflösung des Sachverhalts hätten, wenn sie denn gesprächig gewesen wären, letztendlich wohl nur die beteiligten Staatsanwälte und deren Vorgesetzte bis hin zum Justizminister geben können, was aber 50 Jahre später nicht mehr möglich war.

Kuretsidis-Haider beschränkt sich in Ihrer Analyse nicht auf den strafprozessualen Kern, die Anklage und das Urteil. Vielmehr umfasst die überaus materialreiche Publikation auch die Ermittlungstätigkeit der Sicherheitsbehörden und der Staatsanwaltschaft – insgesamt mehr als 8.000 Seiten Gerichts- und Polizeiakten. Insbesondere der Vergleich von Vorverfahren und Hauptverhandlung vermittelt dem Leser die Besonderheiten der Prozesse auf sehr eindrückliche Art und Weise: Änderungen im Erkenntnisinteresse der Justiz, Aussageverhalten der Zeugen und Beschuldigten und nicht zuletzt, welche Tathandlungen sich in der Anklage kondensierten bzw. fallengelassen wurden. Die vertikalen Verfahrensschnitte betten sich nahtlos in horizontale, chronologische Betrachtungen ein. Dem Leser erschließen sich mit solcher Methodik Sichtfenster, die bei einer sequenziellen Analyse kaum eröffnet würden. Es wäre sehr zu wünschen, dass sich die heute praktisch tätigen Juristen in größerem Maß als bisher mit Rechtsgeschichte befassen, wofür die Arbeit von Claudia Kuretsidis-Haider sich vorzüglich eignen würde.

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