Vorgänge 175, 45 (2006), 3

Titel der Ausgabe 
Vorgänge 175, 45 (2006), 3
Weiterer Titel 
Sterben und Selbstbestimmung

Erschienen
Erscheint 
4 Ausgaben pro Jahr
Anzahl Seiten
164 Seiten
Preis
12 Euro

 

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Institution
vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik
Land
Deutschland
c/o
Redaktion vorgänge Dieter Rulff (verantwortlicher Redakteur) Haus der Demokratie und Menschenrechte Greifswalder Str. 4 10405 Berlin Tel.: 030/2175 0858 Fax.: 030/2363 8206
Von
Dieter Rulff

Sehr geehrte Damen und Herren
die neue Ausgabe der gesellschaftspolitischen Vierteljahresschrift "Vorgänge" ist erschienen. Sie widmet sich dem Thema "Sterben und Selbstbestimmung" und will mit ihren Beiträgen die philosophischen, ethischen, juristischen und politischen Aspekte dieser Problematik erhellen und auf diese Weise Orientierungen für die aktuelle Diskussion um Patientenverfügungen und Sterbehilfe geben.

Wenn von Sterben und Selbstbestimmung die Rede ist, dann hat diese Selbstbestimmung wenig von der freien Entfaltung der Persönlichkeit, die sich sonst mit diesem Begriff verbindet. Der Gedanke richtet sich vielmehr auf die Beendigung erlittener oder die Vermeidung befürchteter Qual. Solchermaßen eingegrenzt ist die Selbstbestimmung am Lebensende in Deutschland zum Gegenstand einer heftigen ethischen Kontroverse geworden. Ihr wird die Verpflichtung des Staates zum Schutz und die Selbstverpflichtung der Ärzte zum Erhalt des Lebens, in manchen strengen christlichen Augen auch die Pflicht der Betroffenen zu leben entgegen gehalten. Der Wunsch nach Selbstbestimmung des Lebensendes wird unter der Hand als Ausdruck mangelnder Fürsorge genommen und nicht wenige mutmaßen gar, sollte einem Töten auf Verlangen stattgegeben werden, dieses Verlangen von unlauteren Nutzenkalkülen durchsetzt würde. An der politischen Oberfläche fokussiert sich die Kontroverse auf die Frage, welche Verbindlichkeit dem Willen, den ein Patient verfügt, zukommt. Doch in der Antwort, welche die Bundesjustizministerin und der Bundestag darauf finden werden, wird sich das Selbstverständnis dieser Gesellschaft spiegeln.

Die Vorgänge wollen mit dieser Ausgabe ein paar Orientierungspunkte für diese Selbstverständigung anbieten. Dazu begeben wir uns zunächst an die Grundlinie, die die Selbstbestimmung mit dem Selbstmord verbindet – oder beide trennt. Ralf Stoecker geht vier entscheidenden Fragen nach: muss man, darf man, will man und kann man Suizid begehen? Antworten findet er u.a. bei Camus und Seneca, bei Hume und Wittgenstein, in der Empirie und der Psychopathologie. Sie führen ihn u.a. zu der Forderung nach einem Handlungsverständnis, das sowohl dem Selbstverständnis gerecht wird, mit dem viele Suizidenten ihren Akt als frei ansehen, als auch der überwältigenden Korrelation von Suizidalität und Psychopathologie. Andreas Frewer weitet den Blick historisch auf ein Sterben, das nicht wie das heutige verdrängt, sondern als ars moriendi, guter Tod oder – als dieser Begriff noch nicht von den Nazis pervertiert war – Euthanasie Gegenstand kultureller Erörterungen über den richtigen Umgang mit sich selbst war. Volker Gerhardt ruft gleichfalls aus historischer Perspektive die untrennbare Verbindung von Selbstbestimmung, Freiheit und Würde in Erinnerung und folgert, dass niemandem verwehrt werden könne, sich selbst zu töten, und niemals einer, eine Gruppe oder auch ein Schiedsgericht über das Lebensende eines anderen verfügen dürfe. Allerdings bedingen die gleichen Normen, dass beim Sterbeverlangen kein anderer zur Hilfe oder Beihilfe verpflichtet werden darf. Rosemarie Will gibt einen profunden Überblick über die aktuelle Gesetzeslage und Rechtssprechung zur Sterbehilfe – deren Lücken erst zu der Tabuisierung der Sterbehilfe geführt haben. Wills Überblick mündet in zwei Schlussfolgerungen: Die zivilrechtlichen Regelungen der Patientenverfügung müssen incidenter davon ausgehen, dass die Sterbehilfe außerhalb der unmittelbaren Sterbephase strafrechtlich zulässig ist. Und es wäre sinnvoll, wenn zunächst die strafrechtliche Zulässigkeit der Sterbehilfe durch Ergänzung des Strafgesetzbuches geregelt würde.

Was eine solche Ergänzung beinhalten muss, erläutert Torsten Verrel, der Gutachter zu diesem Thema beim diesjährigen Juristentag ist. Um den Betroffenen, den Ärzten und Angehörigen mehr Rechtssicherheit zu geben, sollten in das StGB Vorschriften eingefügt werden, in denen geregelt ist, unter welchen Voraussetzungen Behandlungsbegrenzungen, lebensverkürzende leidensmindernde Maßnahmen und die Mitwirkung am Selbstmord straflos sind. Aktive Sterbehilfe bliebe in Deutschland weiterhin verboten. Dies entspricht nicht, darauf weist Wolfgang van den Daele in seinem Beitrag hin, der Wertehaltung der Bevölkerung. Fast Dreiviertel von ihr spricht sich gegen ein Verbot der aktiven Sterbehilfe aus. Dem entgegen steht die Haltung der entscheidenden Eliten. Nun muss Politik nicht dem Mehrheitswillen des Volkes folgen, allerdings ist eine Gesetzgebung, welche dieses belehren will, prekär. Renate Künast will dieser Alternative die Zuspitzung nehmen, indem sie darauf verweist, dass die Einstellung zum Sterben auch durch die Art, wie die Gesellschaft damit umgeht, geprägt wird. Gefordert sei eine neue ars moriendi, ein Ausbau von Betreuung und Palliativmedizin, um dem Sterben seinen Schrecken zu nehmen. Hartmut Kreß erkennt in der Positionierung der Enquetekommission des Bundestages allerdings die Tendenz, den bislang bestehenden Konsens über die Akzeptanz der passiven Sterbehilfe auszuhöhlen. Die Selbstbestimmung wird sozial kontextualisiert und auf diese Weise relativiert. Mit dem Argument der Fürsorge wird die Verfügung der Patienten ärztlichen Entscheidungen und konsilaren Beratungen nachgeordnet. Kreß wendet sich dagegen, dass die Fürsorge gegen die Selbstbestimmung ausgespielt wird. Dass es in der mitunter langen Lebensphase vor dem Sterben vielfach an Fürsorge mangelt, macht Valentin Aichele mit seiner Betrachtung der Situation in den Alten- und Pflegeheimen deutlich. Zu häufig würden dort die menschenrechtlich garantierten Mindeststandards nicht eingehalten.

Dieter Birnbacher vergleicht die Praxis der Sterbebegleitung in Deutschland und den Niederlanden. Er hinterfragt die Bedeutung, die hierzulande der Unterscheidung zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe beigemessen wird. Er hält die aktive Sterbehilfe jedoch lediglich dann für akzeptabel, wenn ihr ein eindeutiges Verlangen des urteilsfähigen Patienten zugrunde liegt. Grosso modo attestiert er, trotz einzelner Bedenken, der niederländische Praxis, die patientenfreundlichere zu sein. In den Niederlanden ist wie im US-Bundesstaat Oregon und in der Schweiz der assistierte Suizid legal. Während er in den ersten beiden Staaten ärztlich assistiert wird, wird er in der Schweiz von Laien durchgeführt. Stella Reiter-Theil vergleicht die unterschiedlichen Praktiken, vor allem auch ihr Missbrauchspotenzial und empfiehlt für die Schweiz eine stärkere, aber auch klarer definierte Rolle der Mediziner.

Die meisten Menschen haben keine Angst vor dem Tod, wohl aber vor den Schmerzen, die mit Krankheit und Sterben verbunden sind. Dies ist eine der Erfahrungen, die Ulrich Finckh in seiner jahrzehntelangen Arbeit als Pfarrer gesammelt hat. Der eigene Tod wird gern verdrängt und wenn er naht, verdrängt das Wie des Sterbens häufig die existenziellen Fragen, die am Ende des Lebens stehen.

Ein Essay von Jutta Roitsch über den Mann, für den Publizistik und Politik noch eine Einheit darstellten, über Karl Hermann Flach, sowie Susanne Uhl`s Wiederentdeckung überkommener Vorstellungen über das Steuerwesen in der aktuellen Fiskalpolitik und eine Rezension des neuen Buches von Niall Ferguson von Carlo Adam runden diese Ausgabe der Vorgänge ab, zu der ich Ihnen eine anregende Lektüre wünsche.

Ihr
Dieter Rulff

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

Editorial, 1

Ralf Stoecker
Ein wirklich ernstes philosophisches Problem
Philosophische Reflexionen über den Suizid, 4

Andreas Frewer
Der „gute Tod“
Euthanasie und Sterbehilfe in der Geschichte, 24

Volker Gerhardt
Selbstbestimmung in der Biopolitik
Zehn Punkte zur Orientierung über das Alte im Neuen, 36

Rosemarie Will
Das Recht auf einen menschenwürdigen Tod
Sterbehilfe und Patientenverfügung als grundrechtliche Freiheit zur Selbstbestimmung43

Torsten Verrel
Rechtssicherheit tut not
Plädoyer für eine strafrechtliche Regelung der Sterbehilfe, 72

Wolfgang van den Daele
Selbstbestimmung am Lebensende
Der Konsens der Eliten und die Meinung der Bevölkerung, 81

Renate Künast
Last exit Sterbehilfe?, 87

Hartmut Kreß
Die Patientenverfügung ist eine Entscheidungüber sich selbst
Fürsorge darf nicht gegen Autonomie ausgespielt werden, 92

Valentin Aichele
Selbstbestimmung vor dem Lebensende
Der Mangel an gesellschaftlicher Aufmerksamkeit und staatlicher Verantwortung in der Altenpflege, 100

Dieter Birnbacher
Besser aber verbesserungswürdig
Unter ethischen Aspekten ist die niederländische Praxis der Sterbehilfe der deutschen vorzuziehen, 108

Stella Reiter-Theil
Ärztliche Beihilfe zum Suizid oder „Laienhilfe“?
Ein Vergleich zwischen der Schweiz, Oregon und den Niederlanden, 117

Ulrich Finckh
Der verdrängte Tod
Ein Erfahrungsbericht, 136

Essay
Jutta Roitsch
Zwischen FDP und FR
Wirken und Wirkung des Politikers und Publizisten Karl-Hermann Flach, 140

Kommentare und Kolumnen

Susanne Uhl
Die Gebührengesellschaft
Die Steuerpolitik kehrt zu ihren Anfängen zurück, 148

Kritik

Carlo Adam
Krieg der Welten
Niall Ferguson wirft einen imperialen Blick auf das 20. Jahrhundert, 159

Autorinnen und Autoren, 161

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