Deutschland Archiv 45 (2012), 1

Titel der Ausgabe 
Deutschland Archiv 45 (2012), 1
Weiterer Titel 
Nonkonformität und Widerstand, Zeitgeschichte im Film

Erschienen
Bielefeld 2012: W. Bertelsmann Verlag
Erscheint 
4x im Jahr
ISBN
978-3-7639-5069-0
Anzahl Seiten
192 S.
Preis
14,90 €

 

Kontakt

Institution
Deutschland Archiv: Zeitschrift für das vereinigte Deutschland
Land
Deutschland
c/o
]init[ Redaktion Köpenicker Straße 9 10997 Berlin
Von
Ohse, Marc-Dietrich

EDITORIAL

»Grenzen und Mauern sind geradezu eine Grunderfahrung für meine Generation geworden«, schrieb der ostdeutsche Bürgerrechtler Ludwig Mehlhorn anlässlich des 25. Jahrestages des Mauerbaus 1986: »Im Schutz und im Schatten der Mauer« habe sich »trefflich eine Politik der Abgrenzung und Abschottung realisieren« lassen, »an deren Folgen unser gesamtes gesellschaftliches Leben schwer ... erkrankt ist.« Das war überall in der DDR zu spüren – im Alltag ebenso wie in der Kultur, in Literatur, Film und Bildender Kunst.

Drei Jahre später durchbrachen die Ostdeutschen diese Abschottung, überwanden den Eisernen Vorhang zunächst in Ungarn, wo er als erstes durchtrennt worden war, und wenige Wochen später auch in der DDR selbst. Freiheit war das Motiv dieses Aufbruches, erst nachdem die Mauer gefallen war, kam die Forderung nach (staatlicher) Einheit hinzu. »Freiheit« ist auch das Leitmotiv Joachim Gaucks, der am 18. März (nach Redaktionsschluss) wohl zum Bundespräsidenten gekürt werden wird – auf den Tag genau 22 Jahre, nachdem er für das Neue Forum in die Volkskammer gewählt worden ist. Mit Gauck rückt nach Bundeskanzlerin Angela Merkel der zweite Ostdeutsche in eines der politischen Spitzenämter der Bundesrepublik Deutschland. Wie Merkel hat auch Gauck zunächst nicht den oppositionellen Gruppen angehört, die seit Anfang/Mitte der 1980er-Jahre in der DDR entstanden. Allerdings hat Gauck als Pfarrer kirchlichen Basisgruppen einen Raum gewährt, hat er auf dem Rostocker Kirchentag 1988 die Grenzen und Mauern der DDR öffentlich angesprochen: »Wir würden bleiben, wenn wir gehen dürften.« Gauck war also kein Angepasster, er verstand sich nicht als »Bürger« der DDR, sondern als deren »Staatsinsasse«.

Die Anwürfe, die derzeit von ehemaligen Bürgerrechtlern gegen Gauck vorgetragen werden, dürften auch darauf zurückgehen, dass er – im Gegensatz zu vielen anderen – nicht auf eine Reform des sozialistischen Systems in der DDR setzte. Gaucks Thema war schon damals »Freiheit«. »Freiheit« stand auch auf seinen Plakaten als Volkskammer-Kandidat des Neuen Forums, und gemeint war damit: Freiheit statt Sozialismus. Da Gauck dieses Leitmotiv wie eine Monstranz vor sich herträgt, halten ihm einige Kritiker ein »konservatives, teilweise reaktionäres Weltbild« vor (Daniela Dahn), während andere von ihm eine Erweiterung seiner Perspektive verlangen. So meinte Friedrich Schorlemmer gegenüber der »taz«, Gauck singe ein »Loblied auf die Freiheit. Ich vermisse das Loblied auf die Gerechtigkeit.«

Als Bundespräsident wird Joachim Gauck sicherlich mehr zu sagen haben und in der Tat zu mehr etwas sagen müssen als zur Freiheit. Gauck verbindet dies gern mit der Forderung nach der Übernahme von Verantwortung. Verantwortung meint aber mehr als nur politisches, zivilgesellschaftliches Engagement, ist auch soziale Verantwortung, um anderen überhaupt erst zivilgesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Soziale Verantwortung ist ein Gebot der Stunde – gerade im Angesicht der Eurokrise, des demografischen Wandels, der Probleme einer Einwanderungsgesellschaft, die Gaucks Amtsvorgänger mit dem Satz provokant zuspitzte, der Islam gehöre zu Deutschland. Um Verantwortung geht es schließlich auch bei der Entwicklung unseres demokratischen Systems, bei Fragen nach Bürgerbeteiligung und Volksentscheiden, die vor allem durch die sogenannten »Wutbürger« in den Fokus der Öffentlichkeit geraten sind.

Um Verantwortung ging es auch all jenen, die sich in der DDR für Frieden, Umwelt und Menschenrechte engagierten. Dies ist einer der Schwerpunkte des vorliegenden Deutschland Archivs, das sich über die Themenfelder »Nonkonformismus« und »Zeitgeschichte im Film« Fragen nach Freiheit und Verantwortung in der Diktatur und in der Demokratie nähert.

Inhaltsverzeichnis

ZEITGESCHICHTE/ZEITGESCHEHEN

Manfred Jäger: Nachschrift zu Nachreden und Nachrufen. Zum Tode Christa Wolfs (1929 – 2011), S. 5–15

Steffen Schoon: Gefestigt und begrenzt – die NPD in Mecklenburg-Vorpommern. Eine Betrachtung anhand der Landtagswahl 2011, S. 16–23

Christian Halbrock: Die unabhängigen Umweltgruppen der DDR. Forschungsstand und Rückblick, S. 24–32

Lothar Tautz: Die Friedens- und Umweltbewegung in der mitteldeutschen Industrieregion. Eine Ergänzung zu Christian Halbrock, Die unabhängigen Umweltgruppen der DDR, S. 32–33

Sandra Pingel-Schliemann: »Sie haben mich zum Verräter gemacht…«. Die Inszenierung von Gerüchten durch den DDR-Staatssicherheitsdienst, S. 34–43

Helmut Müller-Enbergs: Minderjährige IM – ein Forschungsstand, S. 44–49

Anja Schröter: Eingaben im Umbruch. Ein politisches Partizipationsinstrument im Verfassungsgebungsprozess der Arbeitsgruppe »Neue Verfassung der DDR« des Zentralen Runden Tisches 1989/90, S. 50–59

Udo Baron: Pippi Langstrumpf – oder: Was ist ein Linksautonomer, S. 60–68

Michaela S. Ast: Flucht und Vertreibung im bundesdeutschen Spielfilm der 1950er-Jahre und heute, S. 69–78

Anne Barnert: »Besuche von drüben«. Ost-West-Begegnungen im DDR-Spielfilm der 1970er- und 80er-Jahre, S. 79–85

Franziska Kuschel: »Keine NATO-Sender mehr dulden«. Westmedien in der DDR der Sechzigerjahre, S. 86–91

FORUM

Rainer S. Elkar: Revolutionäre Wege zur Freiheit. 1948/49 und 1989/90 – Parallelen und Unterschiede, S. 92–104

Alexander Leistner: Das Lob der ersten Schritte und der Nutzen von Vielfalt und Konflikt. Strömungen und Schlüsselfiguren der unabhängigen DDR-Friedensbewegung, S. 105–116

Ilko-Sascha Kowalczuk: Es gab viele Mauern in der DDR, S. 117–126

Klaus Christoph: »Politikverdrossenheit«, S. 127–135

Manfred Wilke: Das Leben der Anderen – Wieslers Verweigerung, S. 136–146

REZENSIONEN

Bärbel Bohley: Englisches Tagebuch; Kerstin Engelhardt, Norbert Reichling (Hg.): Eigensinn in der DDR-Provinz; Martin Gutzeit, Helge Heidemeyer, Bettina Tüffers (Hg.): Opposition und SED in der Friedlichen Revolution; Rainer Eckert: SED-Diktatur und Erinnerungsarbeit im vereinten Deutschland (Karl Wilhelm Fricke), S. 147–151

Mark Lehmstedt: Die geheime Geschichte der Digedags; Dietrich Löffler: Buch und Lesen in der DDR; Winfried Barner (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart; Helmut Peitsch: Nachkriegsliteratur 1945 – 1989; Richard Kämmerlings: Das kurze Glück der Gegenwart; Michael Braun: Wem gehört die Geschichte?; Ute Dettmar, Mareile Oetken (Hg.): Grenzenlos (Rüdiger Thomas), S. 152–160

Anke Kuhrmann, Doris Liebermann, Annette Dorgerloh: Die Berliner Mauer in der Kunst; Kunst in Ost und West seit 1989, Hg. Präsident und Direktorium der Bayerischen Akademie der Schönen Künste; Franziska Dittert: Mail Art in der DDR; Gundula Schulze Eldowy: Berlin in einer Hundenacht/Berlin on a Dog’s Night; Gundula Schulze Eldowy: Am fortgewehten Ort (Karin Thomas), S. 161–171

Walter Rüegg (Hg.): Geschichte der Universität in Europa; Geschichte der Universität Leipzig 1409 – 2009, Hg. Universität Leipzig; Günter Heydemann, Francesca Weil (Hg.): »Zuerst wurde der Parteisekretär begrüßt, dann der Rektor…«; Tobias Schulz: »Sozialistische Wissenschaft«; Wolfgang Girnus, Klaus Meier (Hg.): Die Humboldt-Universität Unter den Linden 1945 bis 1990; Eckhard Müller-Mertens: Existenz zwischen den Fronten; Erhard Geißler: Drosophila oder die Versuchung; Hartwig Bernitt, Horst Köpke, Friedrich-Franz Wiese: Arno Esch; Matthias Lienert: Zwischen Widerstand und Repression; Martin Morgner: In die Mühlen geraten (Ilko-Sascha Kowalczuk), S. 172–190

DIE AUTORINNEN UND AUTOREN DIESES HEFTES, S. 191

IMPRESSUM, S. 192

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