Eine Tagung im November 2023 in Weimar fragte jüngst nach dem „fotografierten Sozialismus“ und wie die visuelle Aneignung eine gesellschaftliche Wirklichkeit erzeugt. Die Autorin Annett Gröschner beendete ihren Impuls mit dem warnendwerbenden Hinweis, sich trotz der Allverfügbarkeit von digitalen Bildspeichern einmal im Jahr die Zeit zu nehmen und ein herkömmliches Fotoalbum anzulegen – auch als haptisches Backup gegen unerwartete Speicherverluste.
Über unterschiedliche Zugänge nähern sich die Heftbeiträge dem Spannungsverhältnis zwischen Wirklichkeit und Inszenierung, welches das Medium Fotografie seit Anbeginn durchzieht. Waren Fotos einst lediglich Illustrationen von Geschehnissen, sind sie längst selbst zu vielschichtigen Quellen geworden. Nicht nur die Werke von professionellen Fotografen/innen, sondern auch private Fotosammlungen avancieren zum Gegenstand der historischen Forschung. Mit der Visual History fragt eine eigene Disziplin nach der Visualität von Geschichte(n) und dem kollektiven Bildgedächtnis. Für die Jahrzehnte der SED-Diktatur mit ihren immanenten Fotografierverboten stellt sich die Frage, was nicht, selten oder nur unter persönlichen Risiken fotografiert wurde. Hier kommt den Archiven der Gegenüberlieferung eine Schlüsselrolle zu. Schrittweise haben sich in wenigen Jahrzehnten zwei gravierende Verschiebungen ergeben: Erstens sind wir fast alle zu Bildproduzenten geworden (messbar nur noch in Gigabyte), zweitens hat sich die Bildherstellung weitgehend vom greifbar-sinnlichen Material entkoppelt. Der Übergang von analoger zu digitaler Fotografie ist endgültig, der Unterschied zwischen Original und Kopie unmerklich. Auf der anderen Seite hat der Prozess der Digitalisierung für den umfassenden und demokratischen Zugriff auf Unmengen historischer Fotos gesorgt, weil wertvolle Bildbestände schonend gescannt und damit langfristig gesichert werden können. Dem gegenüber stellt die Bildgenerierung durch „künstliche Intelligenz“ ganz neue Herausforderungen an unseren quellenkritischen Umgang mit Medieninhalten. Und während „das Recht am eigenen Bild“ zum geflügelten Wort aufgestiegen ist, wird kontrovers über die Reichweite technischer Bildlöschung diskutiert. Der Berliner Fotograf Harald Hauswald, berühmt für seine Aufnahmen des DDR-Alltags der 1980er Jahre, stellt eine weitere Tendenz fest: „Alle fotografieren sich ständig, aber keiner will mehr fotografiert werden.“
TITELTHEMA BILDWELTEN
03 Rudolf Heym – Dampfloks knipsen Bilder aus einem abgeschlossenen Sammelgebiet
08 Bernd Lindner – „Aufnahmen, die unwiederbringlich sind“ Sozialdokumentarische Fotografie aus der DDR
14 „Ein gutes Bild muss beim Betrachter eine Geschichte in Bewegung setzen.“ Ein Gespräch mit dem Fotografen Harald Hauswald
19 Sandra Pingel-Schliemann/Thilo Wierzock – Innenansichten der DDR-Grenztruppen Eine Foto- und Textdokumentation
24 „Das vergisst man nicht, wenn der Freund ermordet wird.“ Ein Gespräch über das Projekt De-Zentralbild mit Julia Oelkers und Isabel Enzenbach
29 Christoph Ochs – Das Fotoarchiv der Robert-Havemann-Gesellschaft Ein Arbeitsbericht
34 Lutz Wohlrab – „Ich sehe was, was Du nicht siehst“ Die Post-Kunst von Oskar Manigk
ZEITGESCHICHTE
38 Peter Joachim Lapp – „Als Christen sozialistisch leben“ Ulbrichts Pfarrerbund
42 Christoph Stamm – „Eine doppelte Provokation und deshalb nützlich“ Zur Entstehung des Buches „Ein deutscher Kommunist“ von Robert Havemann im Jahr 1978
49 Reinhard Wulfert – Untersuchungshaft statt Dissertation Meine Rolle am Rande der Jenaer Friedensgemeinschaft
ZEITGESCHEHEN / DISKUSSION
55 Utz Rachowski – „Richtet euch Büchereien des Herzens ein“ Mein Freund Adam Zagajewski
60 Stefan Winzer – Verstehen, Vernetzen, Verwurzeln Ein retrospektiver Werkstattbericht aus Südthüringen
64 Daniel Börner – Was wäre, wenn ... Spielendes Lernen in der Geschichtsvermittlung
REZENSIONEN
66 Jörg Bernhard Bilke – „Nur das Werk wiegt.“ Brigitte Reimann wird wiederentdeckt
68 Bernd Lippmann – Weibliche Mitarbeiter Frauen im Dienst der Staatssicherheit
70 Daniel Börner – Von „getrübt“ zu „umkämpft“ Rainer Eckerts geschichtspolitische Einblick