Historische Sozialkunde 46 (2016), 4

Titel der Ausgabe 
Historische Sozialkunde 46 (2016), 4
Weiterer Titel 
Essen in globalen und lokalen Kontexten

Erschienen
Erscheint 
vierteljährlich
Anzahl Seiten
48 S.
Preis
€ 6,00

 

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Institution
Historische Sozialkunde: Geschichte, Fachdidaktik, politische Bildung
Land
Austria
c/o
Die Zeitschrift wurde Ende des Jahres 2018 eingestellt. Der "Verein für Geschichte und Sozialkunde" ist seit Juni 2019 aufgelöst. Ein Kontakt zu den ehemaligen Herausgebern ist nicht mehr möglich.
Von
Fuchs, Eduard

Editorial
Hubert Christian Ehalt und Klara Löffler

Essen und Trinken sind die zentralen Praktiken, die die Grundlage des physischen und kulturellen (Über-)Lebens bilden. Die Kultur des Essens stand und steht im Zentrum von Handlungen und Diskursen, die auch für Strukturen und Ordnungen, Normen und Werte anderer Handlungs- und Alltagsfelder Bedeutung haben.
Im Zuge der Entwicklungen der Modernisierung – Industrialisierung, Ökonomisierung, Differenzierung der Arbeitsteilung und der Öffentlichkeit, Bürokratisierung und Demokratisierung – wurde die Bedürfnisbefriedigung von Hunger und Durst jedenfalls im westlichen Kontext entproblematisiert. Hungersnöte und Hungerrevolten haben dort lediglich historische Bedeutung.
Der Hunger ist in einer Welt, in der die Arm-Reich-Schere wieder aufgeht, alles andere als nur ein historisches Phänomen: 795 Millionen Menschen, etwa elf Prozent der Weltbevölkerung haben zu wenig zu essen. Jeden Tag sterben 15.000 Kinder an Unterernährung. Wenn man bedenkt, dass es in einer technologisch und logistisch hochgerüsteten Welt in kürzester Zeit gelingt, teures Kriegsgerät an Einsatzorte zu bringen, dann sollte angenommen werden, dass dies auch für die Nahrungsmittel ginge, die notwendig wären, um den Hunger in der Welt zu beenden.
Die Kultur der Produktion von Nahrungsmitteln, deren agrarische Kultivierung, Zubereitung und Verzehr – individuell und kollektiv – spiegelt die großen Entwicklungen der gegenwärtigen Welt: Globalisierung, Ökonomisierung, Individualisierung, Ästhetisierung, Bedeutungsgewinn der Wissensgesellschaft und ethischer Werte und einer nachhaltigen Produktion.
Globalisierung: Lebensmittelerzeugung und -handel sind globalisiert, das heißt, dass sie, bevor sie beim Endverbraucher landen, häufig (zehn)tausende Kilometer – gegen jede Logik einer nachhaltigen Wirtschaft – unterwegs sind. Widerstand dagegen regt sich insbesondere im Zusammenhang mit der Debatte über den Klimawandel und dessen Verursachung durch den Verbrauch fossiler Energie.
Ökonomisierung: Die Lebensmittelwirtschaft gehorcht nicht individuellen Bedürfnissen und den regionalen Möglichkeiten von Erzeugung, Vertrieb und Verbrauch, die einem nachhaltigen Haushalten entsprechen würden. Es geht vorrangig nicht um die Stillung der individuellen Bedürfnisse der Essenden, sondern um die Gewinne von Lebensmittelhandel und -industrie.
Individualisierung: Essbedürfnisse, Appetit, mögliche Objekte und Orte des Verzehrs, die sozialen Konstellationen innerhalb derer gegessen wird, der alltägliche oder festliche Rahmen, Mahl oder Imbiss wurden in den letzten 50 Jahren zunehmend den kollektiven Ordnungen entzogen, sie wurden entritualisiert, ihre Dramaturgie wurde der individuellen Gestaltung der essenden Akteurinnen und Akteure überantwortet. An die Stelle des gemeinsamen Mahles, für das um Gottes Segen gebetet wurde, trat der Verzehr – häufig alleine und beiläufig – von Snacks und Sandwitches. Auch gegen diese Entwicklung regt sich Widerstand. Gegen den Verlust von Gemeinsamkeit beim Essen werden Initiativen ins Leben gerufen: eine Studentin erzählt von der Gründung eines „Abendverschönerungsvereins“, dessen Kern die Gestaltung von gemeinsamem Essen ist.
Ästhetisierung: Der Geschmack ist eine Qualifikationsinstanz, die neben der Reizung des Gaumens und durch Gerüche, in immer stärkerem Maß aber auch optische Reize in das Kalkül mit einbezieht. Gut schmeckt – das wissen alle Anbieter aus einer großen empirischen Datenbasis – was schön und gut aussieht. Dies gilt für rohe Nahrungsmittel, für Convenience Food und für das Aussehen der Speisen in Restaurants oder bei Festen. Foodstyling und Fooddesign sind zentrale Begriffe der Lebensmittelbranche geworden. Die Supermärkte bieten wohlgeordnete und den VerbraucherInnen wohlbekannte Farb- und Formenräusche.
Wissensgesellschaft und Ethik: Die Bürgerinnen und Bürger des 21. Jahrhunderts wurden und werden im Hinblick auf alle genannten Entwicklungen kritischer, ideenreicher und kreativer. Als KonsumentInnen nehmen sie die Nahrungsmittelproduktion kritisch ins Visier; der Entwicklung der Entritualisierung begegnen sie mit neuen Formen einer inszenierten und gestalteten Gemeinsamkeit; dem allgegenwärtigen Zeitdruck wird mit Initiativen der Verzögerung (Slow Food) gegengesteuert; der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich und der Gefahr eines neues Hungers, auch in den reichen westlichen Ländern, wird mit engagierten Projekten – „Wiener Tafel“, „Fairteiler“ (öffentlicher Kühlschrank gegen Lebensmittel-Verschwendung) u. a. – begegnet.
Die Zahl der Menschen, die sich aus ganz unterschiedlichen Gründen – Gesundheit, Tierethik – vegetarisch und vegan ernähren, wächst. Immer mehr Menschen entscheiden sich gegen den Verzehr von Fleisch, weil sie das Essen von Tieren als Kannibalismus an den „Brüdern und Schwestern“ in der Evolution ansehen.
Das Themenheft der Beiträge hat die Zielsetzung zu zeigen, dass bei Entwicklungen die Knappheit von Lebensmitteln und die Hungerdiskurse tendenziell zurückgedrängt und gleichzeitig ethische und ästhetische Diskurse und Praktiken forciert haben, das Essen im Mittelpunkt geblieben ist.
Der politische Modus, wie in unserer Gesellschaft die großen und drängenden Fragen nicht nur rund um das Essen verhandelt werden, ist nicht selten einer, der diese historischen Prozesse und gesellschaftliche Relationen vernachlässigt. Dem wollen wir mit dem vorliegenden Themenheft entgegenwirken. Aus der Perspektive historischer Dimensionierung gegenwärtiger Phänomene wird Essen als Element des konkreten Lebensvollzugs wie auch von Imaginationen und Ideologien relativiert und als Gegenstand von Diskursen und Praktiken in Prozessen der Modernisierung von Gesellschaften, hier von mitteleuropäischen Gesellschaften Österreichs und Deutschlands, vorgestellt. Was und wie gegessen wird, so zeigen die ausgewählten Beiträge, ist stets davon abhängig, was für welche soziale Gruppe wann verfügbar, machbar, vorstell- und erzählbar ist und in die Alltagspraktiken eingeht.
Wenn der Sozial- und Wirtschaftshistoriker Andreas Weigl entlang von zeitgenössischen Bestandsaufnahmen die Entwicklung des Konsums von Nahrungsmitteln wie Kartoffeln, Fleisch und Zucker im Österreich des 19. und des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts nachzeichnet, betont er, dass deren Verfügbarkeit, dass Auswahl und Zubereitung sowohl von technologischen, ökonomischen und räumlichen Gegebenheiten als auch von kulturellen und sozialen Rahmenbedingungen abhängig waren. Er lenkt den Blick etwa auf die Wechselbeziehungen zwischen Stadt und Land und erläutert die Verschlechterung der Versorgungslage auf dem Land als Effekt von Urbanisierungs- und Industrialisierungsprozessen gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Gleichzeitig führt er vor, wie Nahrungsmittel wie die Kartoffel gerade aufgrund ihrer breiten Verfügbarkeit in bestimmten sozialen Milieus lange Zeit keine soziale Akzeptanz fand.
Die Historikerin und Museologin Roswitha Muttenthaler legt das Augenmerk auf die dingliche Ausstattung der Küche und wie diese die Kulturtechniken des Essens veränderte. Verknüpft mit der Geschichte von Technologien wie der des Kühlschranks, der Küchenmaschine und des Kochgeschirrs wie auch jener neueren Gerätschaften, die das geselligen Kochen am Tisch erlauben, skizziert sie, wie sich, hier in Erinnerungserzählungen, ein Bedeutungswandel vollzogen hatte, wie diese Dinge des zunehmenden Komforts zunächst mit hohen Erwartungen und Wunschvorstellungen verbunden, dann aber zunehmend selbstverständlich benutzt wurden und zugleich zum Wandel von Geschmacksvorstellungen und Lebensstilen beitragen konnten.
Wie der Umgang mit dem Essen nicht nur von Verfügbarkeit und Versorgung mit Nahrungsmitteln in spezifischen historischen und politischen Konstellationen bestimmt ist, sondern immer auch mit kollektiven Identitätspolitiken in Wechselbeziehung steht, ist Gegenstand der Reflexionen des Ethnologen Konrad Köstlin. Er kontextualisiert die Typisierung von Speisen unterschiedlichster Herkunft zu einer, genauer: zu „der Wiener Küche“, wie sie in einer langen Mediengeschichte in Reiseführern und Kochbüchern verdichtet worden ist, mit dem, die Transformationen der Moderne kompensierenden Narrativ der Stadt Wien als einer gemütlichen Metropole.
Die Funktion von Essen in Identitätspolitiken ist es auch, mit der sich die beiden Europäischen Ethnologen Lina Franken und Gunther Hirschfelder beschäftigen. Sie setzen bei den in der Gegenwart so prominenten und stark moralisch aufgeladenen Narrativen über das „richtige Essen“ an und zeigen, wie dieses Erzählen in bestimmten Milieus eingesetzt wird, um sich und den eigenen Lebensstil aufzuwerten und gegenüber anderen Lebensweisen abzugrenzen. Die Bandbreite, in der heute Nahrungsmittel etwa in Österreich und Deutschland zur Verfügung stehen, mag zwar sehr groß sein; gleichzeitig aber steht dieses Angebot und stehen die Praktiken des Essens in (post-)industriellen Gesellschaften unter einem hohen Legitimationsdruck.
Diesen grundlegenden Auseinandersetzungen mit Phänomenen des Essens im Wechselspiel mit dem Projekt der Moderne schließt sich ein Glossar – ohne einen Anspruch von Vollständigkeit – an. Die Funktion dieser kleinen Sammlung von Themen rund um das Essen ist es, einen Einblick in die Vielfalt und die Vieldeutigkeit des Phänomens zu geben – mit dem Ziel, die Diskurse und Praktiken rund um das Essen, denen wir in der Gegenwart begegnen und die wir täglich pflegen als historisch geworden, kulturell überliefert und sozial eingeübt – und damit ein bisschen besser – zu verstehen.
Im Fachdidaktikbeitrag von Bernhard Trautwein sondiert dieser am Beispiel des Nahrungsmittels Milch bzw. der österreichischen Milchwirtschaft Möglichkeiten, historische Denkprozesse durch historisches Fragen im Unterricht in Gang zu setzen. Der hier vorgestellte Unterrichtsvorschlag knüpft an eine aktuelle und manchmal durchaus kontrovers geführte Debatte an. Das Problem sinkender Milchpreise bei gleichzeitig steigenden Verbraucherpreisen in den Geschäften sowie die wirtschaftliche Situation mancher österreichischer bzw. europäischer Milchbauern ist dabei Ausdruck eines grundlegenden Transformationsprozesses, der in vielen Wirtschaftsbereichen festzustellen ist. Neben den Akteuren der Milchwirtschaft betrifft dieser Prozess auch die SchülerInnen, die als KonsumentInnen Maßnahmenpakete zur Unterstützung der österreichischen bzw. europäischen Milchwirtschaft in Form von Steuern, Abgaben und Milchpreisen mitfinanzieren und gleichzeitig auf ein nie da gewesenes Sortiment von Milch- und Molkereiprodukten aus der ganzen Welt zurückgreifen können. Das Ziel dieses Unterrichtsvorschlags besteht einerseits darin, SchülerInnen am Beispiel des Nahrungsmittels Milch auf Basis von bereitgestelltem Arbeitswissen und ausgewähltem (Quellen-)Material eigene historische Fragestellungen und sinnhafte Narrationen entwickeln zu lassen. Andererseits soll dieser Prozess mit Hilfe „der Matrix historischen Denkens“ offen gelegt und zum Abschluss reflektiert werden.

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

Hubert Christian Ehalt / Klara Löffler
Essen und Nahrung. Entwicklungen und Alltagswelten
S 2

Andreas Weigl
Im Zeichen des Backhendels oder der Erdäpfelsuppe? Zur Geschichte der Ernährung in Österreich vom Vormärz bis in die Zwischenkriegszeit
S 5

Roswitha Muttenthaler
Die Utopie der selbsttätigen Küche
S 14

Lina Franken / Gunther Hirschfelder
Politik mit Messer und Gabel Ideologisiertes Essen zwischen Selbstoptimierung und Weltverbesserung
S 21

Konrad Köstlin
Die Wiener Küche. Ein Alleinstellungsmerkmal avant la lettre
S 25

Hubert Christian Ehalt / Klara Löffler
Glossar
S 32

Fachdidaktik

Bernhard Trautwein
Milch historisches Denken Überlegungen zum historischen Lernen am Beispiel der österreichischen Milchwirtschaft
S 38

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