Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 68 (2017), 5–6

Titel der Ausgabe 
Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 68 (2017), 5–6
Weiterer Titel 
Osmanisches Europa

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Institution
Geschichte in Wissenschaft und Unterricht
Land
Deutschland
c/o
Prof. Dr. Michael Sauer Universität Göttingen Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte Didaktik der Geschichte Waldweg 26 37073 Göttingen Tel. 0551/39-13388 Fax 0551/39-13385
Von
Sauer, Michael

Editorial

von Peter Burschel

Wenn die historische Forschung heute von "osmanischem Europa" spricht, meint sie in aller Regel mehr als einen geographisch-politischen Raum an der europäischen Peripherie. "Osmanisches Europa" wird vielmehr als Konzept verstanden, das dazu dienen soll, Südosteuropa gesamteuropäisch zu perspektivieren und damit aus den tradierten Narrativen nationaler Geschichtsschreibungen zu lösen. Das Konzept "osmanisches Europa" zielt vor diesem Hintergrund nicht zuletzt auch auf eine entideologisierte südosteuropäische Schulbuchkultur. In anderen Worten: Das Konzept ermöglicht es, die Geschichte Südosteuropas als "entangled history" jenseits mythologischer Engführungen zu analysieren. Ein Forschungsfeld, das dabei immer wieder eine Rolle spielt, ist die Periodisierung; ein anderes die Zeitökonomie in den untersuchten Gebieten.

Nachdem Markus Koller in die Genese von Begriff und Konzept "osmanisches Europa" eingeführt hat, fragt Konrad Petrovszky am Beispiel von zwei griechischen Chroniken des frühen 17. Jahrhunderts nach dem "Zugehörigkeitsbewusstsein" der beiden geistlichen Verfasser.

Ziel des Beitrags ist es, über das Konzept "osmanisches Europa" die Spielräume christlich-orthodoxer Selbstthematisierung in multikonfessionellen Kontexten genauer zu bestimmen, als das bislang möglich war. Differenzmarkierungen spielen dabei ebenso eine Rolle wie inter- und transkulturelle Grenzgänge. Stefan Rohdewald knüpft unter umgekehrten Vorzeichen an diesen Beitrag an und nimmt den Mitte des 17. Jahrhunderts entstandenen Bericht des wohl bekanntesten osmanischen Reiseschriftstellers Evliya Çelebi über Albanien und Makedonien in den Blick. Im Mittelpunkt steht dabei die Rekonstruktion des "Zusammenhangs des Uneinheitlichen". Das Osmanische Reich erscheint aus dieser Perspektive geradezu als Garant sprachlicher, religiöser und "ethnischer" Differenz bzw. Indifferenz, wobei nicht zuletzt der Bezug auf das Oströmische Reich auffällt. Ein Bezug, der in aller Deutlichkeit vor Augen führt, wie eng "westliche" und "östliche" Historiographien aufeinander bezogen sein konnten.

Eine ganz andere Perspektive wählt Michael Weise, der das Gewalthandeln kroatischer Söldner untersucht, die im Dreißigjährigen Krieg auf kaiserlich-ligistischer Seite kämpften. Reiter, die im Ruf besonderer Brutalität standen. Weise kann zeigen, dass die durchaus nachhaltigen Vorstellungen vom "grausamen Balkan" als Zuschreibungen verstanden werden müssen, die "realhistorisch" wenig belastbar sind. Indem er das Gewalthandeln der kroatischen Söldner auf die spezifischen Grenzerfahrungen, Kriegsökonomien und Ehrvorstellungen des "osmanischen Europa" zurückführt, gelingt es ihm, Strategien des sogenannten "Kleinen Krieges" freizulegen, die durchaus "zweckrational" motiviert waren.

Auch der abschließende Beitrag von Andreas Helmedach ist der historischen Gewaltforschung verpflichtet. Helmedach untersucht die militärischen Auseinandersetzungen zwischen dem Osmanischen Reich und der Republik Venedig vom ausgehenden Mittelalter bis zum Ende des 18. Jahrhunderts und räumt dabei mit einer ganzen Reihe liebgewonnener Vorstellungen interkulturellen bzw. interreligiösen Gelingens auf. Vor allem im 16. und 17. Jahrhundert lässt sich eine deutliche wechselseitige Intensivierung – ja, Entgrenzung – systematischen Gewalthandelns feststellen, das bis zu frühen Formen "ethnischer Säuberungen" reichen konnte. Fast en passant wird dabei deutlich, wie sich im Windschatten der venezianisch-osmanischen Auseinandersetzungen Staatsbildungsprozesse von nachhaltiger Tragweite vollzogen. Gleichzeitig begann Europa im 18. Jahrhundert, das zunehmend entosmanisierte osmanische Europa zu "balkanisieren", indem es dieses Europa als das ganz andere Europa entdeckte, das gewissermaßen an die Stelle des Osmanischen Reiches trat.

Inhaltsverzeichnis

INHALT DER GWU 5–6/2017

BEITRÄGE

Abstracts (S. 242)

Editorial (S. 244)

Beiträge

Markus Koller
Das "osmanische Europa" – konzeptionelle Überlegungen zu einem "alten" Begriff (S. 245)

Konrad Petrovszky
"Wir, die armen Rhomäer". Selbstverortungen christlicher Geschichtsschreiber im Osmanischen Reich (S. 250)

Stefan Rohdewald
Beschreibungen von Uneinheitlichkeit im "Osmanischen Europa" am Beispiel von Evliya Çelebis Bericht über Albanien und Makedonien (S. 265)

Michael Weise
Gewaltprofis und Kriegsprofiteure. Kroatische Söldner als Gewaltunternehmer im Dreißigjährigen Krieg (S. 278)

Andreas Helmedach
Venedig und die Osmanen. Europäisch-christlich-islamische Beziehungen in der Frühen Neuzeit und die Rolle der Gewalt (S. 292)

Kerstin Brückweh
Digitale Geschichtswissenschaft in der Lehre. Ergebnisse aus dem interdisziplinären Pilotprojekt "'Gute Arbeit' nach dem Boom.. Eine Längsschnittanalyse von SOFI-Studien mit eHumanities-Werkzeugen" (S. 311)

INFORMATIONEN NEUE MEDIEN

Greogor Horstkemper
Südosteuropa, Rumelien, Balkan (S. 330)

LITERATURBERICHT

Martin Kintzinger
Mittelalter und spätes Mittelalter, Teil I (S. 333))

NACHRICHTEN (S. 357)

AUTORINNEN UND AUTOREN (S. 360)

ABSTRACTS DER GWU 5–6/2017

Markus Koller
Das "osmanische Europa" – konzeptionelle Überlegungen zu einem "alten" Begriff
GWU 68, 2017, H. 5/6, S. 245 – 249
Der Begriff "osmanisches Europa" wurde vom Weimarer Geographen Johann Georg Heinrich Hassel im Jahre 1820 geprägt, der darunter den osmanischen Machtbereich in Südosteuropa verstand. Im Fokus standen für ihn die politischen und sozio-ökonomischen Strukturen in diesem Raum, so dass mit diesem Terminus ein stärkerer Blick auf das Handeln der regionalen Akteure einherging. Diesen Perspektivwechsel, der in der historischen Forschung insbesondere seit den späten 1980er Jahren zu beobachten ist, nehmen auch die Beiträge im vorliegenden Band ein. Sie zeigen die vielfältigen Beziehungen in den südosteuropäischen Grenzräumen und die Einbindung des "osmanischen Europas" in gesamteuropäische Kontexte auf.

Konrad Petrovszky
"Wir, die armen Rhomäer". Selbstverortungen christlicher Geschichtsschreiber im Osmanischen Reich
GWU 68, 2017, H. 5/6, S. 250 – 264
Die Beschäftigung mit der Geschichte der Individualisierung, ob aus historisch-anthropologischer oder ideengeschichtlicher Perspektive, schlägt sich mittlerweile in einer stattlichen Bibliographie nieder, die den osmanischen Raum jedoch nur bruchstückhaft berücksichtigt. Das Interesse an der vormodernen Schriftkultur in Südosteuropa bleibt bislang auf ihren faktischen Informationswert beschränkt. In der Tat war gerade der christliche Kulturkreis des multikonfessionellen Raums durch einen nur geringen Grad an Schriftlichkeit und ein hohes Maß an Konventionsgebundenheit derselben gekennzeichnet, was den Spielräumen der Artikulation von Subjektivität recht enge Grenzen setzte. Wie sich dies jedoch im Verlauf des 17. Jahrhunderts zu ändern begann, zeigt der Beitrag anhand zweier griechischer Chroniken aus der ersten Hälfte des Jahrhunderts. Indem diese auf die Selbstthematisierung ihrer geistlichen Verfasser hin befragt werden, treten jenseits des bloßen Tatsachenberichts insbesondere auch Aspekte des Alltags und des gesellschaftlichen Umfelds in Erscheinung, die im spezifischen Gebrauch der Volkssprache, in der Artikulation von Gewalterfahrung sowie in der Hervorhebung der sozialen und religiösen Bezüge der Schreiber greifbar werden. Die Perspektive der Selbstzeugnisforschung erweist sich dabei als fruchtbar, um zu einem neuen und verfeinerten Blick auf die christlich-orthodoxe Schriftkultur im osmanischen Europa zu gelangen und die allmähliche Öffnung derselben für subjektive Bezugsräume aufzuzeigen.

Stefan Rohdewald
Beschreibungen von Uneinheitlichkeit im "Osmanischen Europa" am Beispiel von Evliya Çelebis Bericht über Albanien und Makedonien
GWU 68, 2017, H. 5/6, S. 265 – 277
Europäische Geschichte wird zunehmend in ihrer transkontinentalen oder globalen Verflechtung reflektiert. Mit Deutungen des "Osmanischen Europa" sollen überregionale Bezüge der Geschichte des Osmanischen Reichs im gesamteuropäischen Kontext zugänglich gemacht werden. Am Beispiel des Reiseberichtes von Evliya Çelebi über Albanien und Makedonien soll die zeitgenössische Beschreibung des sprachlich, religiös und "ethnisch" überaus uneinheitlichen Vielvölkerreiches als Verhandlung und Herstellung von (In-)Differenz reflektiert werden: In der – die wahrgenommene Komplexität nur teilweise reduzierenden – Darstellung des Hauptstädters stellten gerade rhomäische (griechische), albanische, slavische, orthodoxe, schiitische und sunnitische Beschreibungselemente den Osmanischen Staat vor Ort und in seinem Gesamtzusammenhang her.

Michael Weise
Gewaltprofis und Kriegsprofiteure. Kroatische Söldner als Gewaltunternehmer im Dreißigjährigen Krieg
GWU 68, 2017, H. 5/6, S. 278 – 291
Die kroatischen Söldner, die im Dreißigjährigen Krieg auf kaiserlich-ligistischer Seite kämpften, galten lange Zeit als Synonym für den Terror, den eine zügellose Soldateska über die deutsche Zivilbevölkerung brachte. Der Aufsatz untersucht das Gewalthandeln der "Kroaten" aus einer anderen Perspektive. Unter der Leitthese, dass diese fremden Söldner nicht einfach nur wilde Barbaren waren, sondern (auch) als zweckrational agierende Kriegsunternehmer verstanden werden können, werden verschiedene konkrete Gewaltsituationen und -kontexte untersucht und analysiert. Ohne die Gewalt rechtfertigen oder verharmlosen zu wollen, soll dargelegt werden, dass diese Spezialisten des Kleinen Krieges den Einsatz und die Intensität der Gewaltmittel ihren jeweiligen Zielen anpassten und einen durchaus ökonomischen Umgang mit der Gewalt pflegten.

Andreas Helmedach
Venedig und die Osmanen. Europäisch-christlich-islamische Beziehungen in der Frühen Neuzeit und die Rolle der Gewalt
GWU 68, 2017, H. 5/6, S. 292 – 310
Aus der Sicht der historischen Gewaltforschung werden die Konfrontationen zwischen dem Osmanischem Reich und der Republik Venedig seit dem ausgehenden Mittelalter betrachtet. Drei Phasen osmanisch-venezianischer Begegnungen seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts zeichnen sich dabei ab: Im Spätmittelalter unterschieden sich die Beziehungen zwischen beiden Staaten und Gesellschaften trotz des markanten Unterschieds in der dominierenden Religion in der Praxis nicht grundsätzlich von denen zwischen Venezianern und anderen Europäern. Schubweise verhärtete sich während des 16. Jahrhunderts der Umgang miteinander und die Gewaltsamkeit nahm zu; eine Entwicklung, die ihren Höhepunkt wohl in der Mitte des 17. Jahrhunderts erreicht hat. Zwischen 1718 und 1797 folgte ein knappes Jahrhundert des Friedens zwischen Osmanen und Venezianern; Ursache hierfür war aber nicht die mit der europäischen Aufklärung gemeinhin verbundene größere Toleranz gegenüber dem Islam, sondern der Machtverlust der beiden Protagonisten, durch den die bisherigen Interessengegensätze irrelevant geworden waren.

Kerstin Brückweh
Digitale Geschichtswissenschaft in der Lehre. Ergebnisse aus dem interdisziplinären Pilotprojekt "'Gute Arbeit' nach dem Boom. Eine Längsschnittanalyse von SOFI-Studien mit eHumanities-Werkzeugen"
GWU 68, 2017, H. 5/6, S. 311 – 329
Historikerinnen und Historiker haben in den "Archiven der Sozialwissenschaften" (Pleinen/Raphael) derzeit vier Aufgaben zu erfüllen. Sie sollen erstens inhaltliche Fragen beantworten, zweitens an der Bereitstellung der Quellen in einer für die historische Forschung langfristig nutzbaren Form mitwirken und zugleich Datenschutzvorgaben einhalten. Drittens müssen sie die Bedenken von Datenhaltern gegenüber Sekundäranalysen ausräumen und viertens im Dialog mit diesen und mit Informatikern typisch geschichtswissenschaftliche Anforderungen an die Entwicklung von IT-Werkzeugen zur Erschließung der Quellen formulieren. Im Aufsatz wird der Einsatz in der Lehre als eine Möglichkeit zur (Teil-)Bewältigung dieser Aufgaben vorgestellt. Im Zentrum steht dabei die aus den 1980ern stammende Studie "Jugend und Krise" des Soziologisches Forschungsinstituts Göttingen (SOFI).

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