Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 65 (2017), 4

Titel der Ausgabe 
Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 65 (2017), 4
Weiterer Titel 
Weltkriege, Vietnam, NPD-Parteiverbot

Erschienen
Erscheint 
4 Ausgaben pro Jahr
ISBN
ISSN 0042-5702
Preis
Jahresabo: 59,80€, Stud.abo: 34,80€ Mitgl.abo. hist. u pol. Fachverbände: 49,80€, Online-Zugang: 49€, Print+Online-Abo 72€

 

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Institution
Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Land
Deutschland
c/o
Redaktion Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte Institut für Zeitgeschichte, Leonrodstraße 46b, 80636 München, vfz@ifz-muenchen.de
Von
Jaroschka, Gabriele

Abstracts deutsch

Peter Lieb, Der deutsche Krieg im Osten von 1914 bis 1919. Ein Vorläufer des Vernichtungskriegs?

In den letzten Jahren diskutierte vor allem die englischsprachige Forschung über einen „German Way of War“. Das deutsche Kaiserreich habe im Vergleich zu anderen Staaten einen militärischen „Sonderweg“ beschritten. Kennzeichnend hierfür sei vor allem eine radikalere Kriegführung gewesen, wie sich in den Kolonialkriegen und im Ersten Weltkrieg gezeigt habe. Damit wird eine Kontinuität der deutschen Militärkultur vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg postuliert. Der vorliegende Aufsatz prüft diese These anhand der Ostfront des Ersten Weltkriegs und kommt zu dem Ergebnis, dass die Annahme einer spezifisch deutschen Militärkultur im Kaiserreich und einer Kontinuität von der Kriegführung an der Ostfront des Ersten Weltkriegs zum „Unternehmen Barbarossa“ vielfach Züge einer Rückprojektion trägt. Im Vergleich zur österreichisch-ungarischen sowie zur russischen Armee war das deutsche Militär bis 1917 noch am ehesten um Zurückhaltung bemüht. Die Erfolge des Bolschewismus seit Ende 1917 führten schließlich zu einem mentalen Umbruch; die Befehlslage verschärfte sich nun, wie die Bekämpfung der Widerstandsbewegung in der Ukraine 1918 verdeutlichte. Gleichzeitig bemühte sich die deutsche Armee aber auch, die Zivilbevölkerung weitgehend zu schonen. Einen weiteren Radikalisierungsschub zeigten die Kämpfe im Baltikum 1919. Diese mögen einen formativen Charakter für die spätere NS-Bewegung gehabt haben, nicht jedoch für das Militär, denn die „Baltikumer“ galten dort als „disziplinloser Haufen“.

Edward Harrison, Spurensuche. Hugh Trevor-Ropers Sondermissionen 1945/46 und seine Quellen für „Hitlers letzte Tage“

Hugh Trevor-Ropers Untersuchung im Herbst 1945 und sein späteres Buch wurden von Geoffrey Parker und Sarah Douglas in The Journal of Military History neu bewertet. Parker bezweifelt, dass eine Einzelperson so viele Zeugen alleine habe befragen und ihre Aussagen in weniger als sechs Wochen habe sichten können und schließt daraus, dass Trevor-Roper die meiste Zeit mit der Lektüre der Transkripte von Befragungen, die andere durchgeführt hatten, verbracht habe. Douglas schreibt, dass eine Kollektivleistung von zahllosen Befragern aus ganz Europa zu „The Last Days of Hitler“ geworden sei, einem Buch, dessen Text in allen Auflagen gleich geblieben sei. Tatsächlich zeigen zahlreiche Primärquellen, dass Trevor-Roper während seiner Untersuchungen im Herbst 1945 mindestens achtzehn Zeugen oder Hinweisgeber auf Zeugen interviewte und dabei in elf Fällen signifikante Befragungen stattfanden. Trevor-Roper war ein außergewöhnlich effektiver Befrager, der Details und bedeutende Aussagen entlocken konnte, die früheren Befragern entgangen waren. Sein Verlangen, selbst Zeugen zu befragen, war schließlich auch darin begründet, dass er immer wieder Probleme mit von anderen durchgeführten Befragungen hatte. Tatsächlich kommen die Mehrzahl der Belege in seinem Buch nicht aus Befragungen, sondern aus Vorkriegsbüchern, nachrichtendienstlichen Dokumenten der Kriegszeit, Abhörprotokollen, Tagebüchern, Memoiren, Nachkriegspublikationen und Dokumenten von Hitler oder der Regierung Dönitz.

Martin Großheim, Der Krieg und der Tod. Heldengedenken in Vietnam

Der vietnamesische Staat praktiziert bis heute ein Totengedenken, dass die hohen menschlichen Verluste in den Kriegen gegen Frankreich und die USA rechtfertigen und als selbstlose Opfer für den Kampf um die Unabhängigkeit und den Aufbau des Sozialismus überhöhen soll. Im Mittelpunkt stehen kommunistische Kader und Soldaten, die ihr Leben seit 1925 im Einsatz für die Revolution und gegen Kolonialismus und Feudalismus in glorreicher Weise geopfert haben und denen damit der Status „revolutionärer Märtyrer“ (liệt sỹ) gebührt. Dieses restriktive und hierarchisierte Totendenken, das seinen Ausdruck in ca. 3.000 Heldenfriedhöfen im ganzen Land und anderen Erinnerungsorten findet, dient in Vietnam bis heute als Kernelement des staatlichen Erinnerungsprojekts zur Legitimierung der kommunistischen Einparteienherrschaft. Seit der Beginn der Reformpolitik (đổi mới) im Jahre 1986 lassen sich jedoch verstärkt private Formen des Totengedenkens außerhalb des restriktiven staatlichen Heldenkults beobachten, die von zivilgesellschaftlichen Akteuren getragen werden. Als Beispiele stellt der Artikel das Gedenken an die im zweiten Vietnamkrieg gefallenen Soldaten der 1975 untergegangenen Republik Vietnam sowie an die militärischen Opfer der militärischen Auseinandersetzungen mit der Volksrepublik China vor, die bislang im staatlichen Totengedenken keine zentrale Rolle spielten.

Diskussion

Sylvain Schirmann, Zur Frage französischer Kredite für Deutschland 1930/31. Frankreichs politischer Ansatz

Die wirtschaftliche und politische Krise in Deutschland sowie Brünings Revisionismus beunruhigten die französische Führung seit Beginn der Verhandlungen über den Youngplan. Vor diesem Hintergrund versuchte Paris, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Finanzhilfen zu nutzen, um das Reich zu kontrollieren. Wenn auch die französischen Finanzvorschläge von 1930 als oberflächlich eingestuft werden können, gehören diejenigen von 1931 einer anderen Kategorie an. Frankreich sah sie als Teil eines französischen Plans für Europa und in Verbindung mit einem internationalen Hilfsprogramm mit den anderen Westmächten. Konzipiert als politisches Instrument, waren diese Vorschläge indes nicht geeignet, die schwierige Finanzsituation Deutschlands beheben, während die Politik Brünings ihrerseits nicht dazu beitrug, die französische Haltung zu ändern.

Dokumentation

Pavel Polian, Das Ungelesene lesen. Die Aufzeichnungen von Marcel Nadjari, Mitglied des jüdischen Sonderkommandos von Auschwitz-Birkenau, und ihre Erschließung

Die Dokumentation ist der Geschichte der Auffindung und Erschließung der handschriftlichen Aufzeichnungen von Marcel Nadjari (1917–1971) gewidmet, eines griechischen Juden, der Mitglied des Sonderkommandos von Auschwitz-Birkenau war, welches an den Gaskammern und Krematorien Dienst tun musste. Es geht um eine von insgesamt neun analogen Aufzeichnungen, die von fünf Mitgliedern des Sonderkommandos als Kassiber aus dem Zentrum der Vernichtung angefertigt und dort für die Nachwelt versteckt wurden. Nadjaris Manuskript lag 35 Jahre in einer Thermoskanne im Boden begraben und wurde erst 1980 gefunden. Sein Zustand war so schlecht, dass nur etwa 10 Prozent des Textes lesbar waren. Der russische Computerspezialist Aleksandr Nikitjaev konnte jedoch mittels Multispektralaufnahmen nahezu 90 Prozent des Textes lesbar machen, was einen ganz neuen Zugang zu dem Text eröffnet, der in dieser Form hier erstmals veröffentlicht wird.

Abstracts english

Peter Lieb, The German Eastern Front, 1914-1919. A Precursor of the War of Extermination?

In recent years, mostly in Anglophone circles, there has been a discussion regarding a “German Way of War”. According to this thesis, the German Empire embarked on a military “Sonderweg” [special path] in contrast to other states. This was supposedly particularly evident in a more radical form of warfare exhibited during colonial wars and the First World War. This view postulates a continuity of German military culture between the First and the Second World War. The present article tests this thesis by means of an examination of the Eastern Front during the First World War and concludes that the supposition of a specifically German military culture during the German Empire and a continuity between the form of warfare practised on the Eastern Front of the First World War and “Operation Barbarossa” often bears the markings of a backward-looking projection. In comparison to the Austro-Hungarian as well as the Russian Army, the German military was the most restrained until late 1917. Ultimately the success of Bolshevism since late 1917 led to a radical mental change; the state of command now exasperated, as the counterinsurgency in Ukraine in 1918 demonstrated. Simultaneously the German Army also largely tried to go easy on the civilian population. A further surge of radicalisation was revealed in the conflicts in the Baltic States in 1919. These may have possessed a formative character for the later Nazi movement, but not for the military, who saw the “Baltic fighters” as “undisciplined rabble”.

Edward Harrison, Searching for Traces. Hugh Trevor-Roper’s Special Missions in 1945-46 and his Evidence for “The Last Days of Hitler”

Hugh Trevor-Roper’s investigation in autumn 1945 and his subsequent book have been reappraised by Geoffrey Parker and Sarah Douglas in The Journal of Military History. Parker questions whether a single person could have interrogated numerous witnesses single-handed and sifted their evidence in less than six weeks and suggests that Trevor-Roper spent most of his time reading the transcripts of interrogations carried out by others. Douglas writes that a collective effort of countless interrogators from all over Europe became “The Last Days of Hitler”, a book the text of which she asserts remains the same through every edition. In fact extensive primary sources show that during his autumn enquiry Trevor-Roper personally questioned at least eighteen witnesses or persons with leads to witnesses, and in eleven of these cases a significant interrogation took place. Trevor-Roper was an exceptionally effective interrogator who elicited detail and meaning which had escaped previous questioners. His eagerness to question witnesses himself was not least due to recurrent problems with interrogations carried out by others. Indeed the majority of evidence in his book did not come from interrogations, but from pre-war books, wartime intelligence documents, eavesdropping material, diaries, memoirs, post-war publications, and documents originating from Hitler or the Doenitz government. Once published, the text of “The Last Days of Hitler” was changed significantly for later editions.

Martin Großheim, War and Death. Remembering Heroes in Vietnam

To this day, the Vietnamese State practises a form of remembering the dead, which is designed to justify the high human losses in the wars against France and the USA and to stylise the dead as selfless martyrs in the struggle for independence and the implementation of Socialism. At the centre are the Communist cadres and soldiers, who since 1925 gloriously sacrificed their lives in their service for the revolution and against colonialism and feudalism and who thus deserve the status of “revolutionary martyrs” (liệt sỹ). To date, this restrictive and hierarchical form of remembering the dead, which is expressed in approximately 3 000 Heroes’ Cemeteries throughout the country as well as other memorial sites, serves as a core component of the Vietnamese state remembrance project to legitimise Communist one-party rule. Since the beginning of reform policies (đổi mới) in 1986, however, private forms of remembering the dead outside restrictive state hero worship can increasingly be observed among civil society representatives. The article presents two examples: The commemoration of the fallen soldiers of the Republic of Vietnam, which collapsed in 1975, as well as the military victims of the military conflicts with the People’s Republic of China, who so far do not play a central role in state-driven remembrance.

Sylvain Schirmann, The Question of French Loans to Germany in 1930/31. The French Approach

The economic and political crisis in Germany as well as the revisionism of Brüning alarmed the French authorities from the onset of negotiations regarding the Young Plan. Against this background, Paris then attempted to utilise economic cooperation and financial aid to control the Reich. Even if the French financial propositions of 1930 can be considered as superficial, those of 1931 conversely elong to a different category. France viewed them as part of a French plan for Europe linked to a form of international aid together with the other Western powers. Conceived as a political instrument, this aid was not capable of regulating the frail financial situation in Germany, while Brüning’s policies, for their part, did not prompt France to modify its approach.

Pavel Polian, Reading the Unread. The Deciphering of the Account of Marcel Nadjari, Member of the Jewish Sonderkommando in Auschwitz-Birkenau

This documentation is dedicated to the history of the finding and deciphering of the handwritten account of Marcel Nadjari (1917–1971), a Greek Jew who was a member of the Sonderkommando in Auschwitz-Birkenau, which had to work in the gas chambers and crematoria. It covers one of a total of nine analogous accounts which were composed by five members of the Sonderkommando as a secret message from the centre of extermination and hidden there for posterity. For 35 years, Nadjari’s manuscript remained buried in a thermos flask in the ground and was only discovered in 1980. Its condition was so bad, that only approximately ten percent of the text were legible. The Russian computer specialist Aleksandr Nikityaev however has been able to make almost 90 percent of the text legible through the use of multispectral images, permitting a whole new form of access to the text, which is published here in this form for the first time.

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

Aufsätze

Peter Lieb
Der deutsche Krieg im Osten von 1914 bis 1919
Ein Vorläufer des „Vernichtungskriegs“?

Edward Harrison
Spurensuche
Hugh Trevor-Ropers Sondermissionen 1945/46 und seine Quellen für „Hitlers letzte Tage“

Martin Großheim
Der Krieg und der Tod
Heldengedenken in Vietnam

Diskussion

Sylvain Schirmann
Zur Frage französischer Kredite für Deutschland 1930/31
Frankreichs politischer Ansatz

Dokumentation

Pavel Polian
Das Ungelesene lesen
Die Aufzeichnungen von Marcel Nadjari, Mitglied des jüdischen Sonderkommandos von Auschwitz-Birkenau, und ihre Erschließung

Gutachten des IfZ

Das Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte zum zweiten NPD-Verbotsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht

Nachruf

Hans-Peter Schwarz, dem langjährigen Herausgeber der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte und früherem Vorsitzenden des Wissenschaftlichen Beirats zum Gedenken

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Dokumentation der Podiumsdiskussion „Cultural Turn und NS-Forschung“ vom 15. Mai 2017
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