Leviathan 47 (2019), 2

Titel der Ausgabe 
Leviathan 47 (2019), 2
Weiterer Titel 

Erschienen
Baden Baden 2019: Nomos Verlag
Erscheint 
vierteljährlich
Anzahl Seiten
148 Seiten
Preis
Jahrespreis 98,00 € (Druckausgabe und elektronische Ausgabe)

 

Kontakt

Institution
LEVIATHAN. Berliner Zeitschrift für Sozialwissenschaft
Land
Deutschland
c/o
Leviathan, Berliner Zeitschrift für Sozialwissenschaft, Redaktion Dr. Claudia Czingon, Wissenschaftszentrum Berlin, Reichpietschufer 50, D-10785 Berlin; Tel. +49 30 25491 536; E-Mail: claudia.czingon@wzb.eu
Von
Claudia Czingon

Zu diesem Heft – (Neo-)Liberalismus und Geschichtsphilosophie in der Kritik

Die Welt, so liest man, befindet sich im Handelskrieg. Immer neue Meldungen über weitere Eskalationsstufen im transatlantischen Handelskonflikt erregen seit dem Amtsantritt des US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump die Gemüter. Das Versprechen, Amerikas gigantisches Handelsdefizit zu verringern, gehört zum Leitmotiv seiner Präsidentschaft. Seit Anfang 2018 verhängen die USA Import- und Strafzölle auf unterschiedlichste Produkte insbesondere aus China und der EU, worauf diese wiederum mit Gegenzöllen reagieren. Zuletzt hat Trump Autoimporte als „nationales Sicherheitsrisiko“ eingestuft und die Erhebung von Importzöllen angekündigt – woraufhin die EU mit einer Beschwerde vor der Welthandelsorganisation sowie mit weiteren Gegenzöllen drohte.

Diese Zuspitzung in den internationalen Handelsbeziehungen und die Zunahme protektionistischer Maßnahmen scheinen auf den ersten Blick nicht so ganz ins „neoliberale Zeitalter“ zu passen, in dem wir uns soziologischen Zeitdiagnosen zufolge seit einigen Jahrzehnten befinden – zumindest nicht, wenn man unter Neoliberalismus eine wirtschaftspolitische Leitidee versteht, die auf das „Um- oder Zurückschalten des modernen Kapitalismus auf ‚selbstregulierte‘ Märkte“ und die „weltweite Revitalisierung der kapitalistischen Akkumulationsdynamik vermittels Deregulierung, Privatisierung und Marktexpansion aller Art und in alle nur denkbaren Richtungen“ zielt. Einer solchen allumfassenden Expansion des Marktes laufen die gegenwärtig zu beobachtenden Schutzmaßnahmen geradezu entgegen. Michael Hüther, der Chef des Instituts der deutschen Wirtschaft, bezeichnet sie gar als „Sargnagel auf den freien Handel“.

Wie lassen sich diese Entwicklungen erklären? Was ist los mit dem „Neoliberalismus“? Eine erhellende Antwort finden wir im Beitrag unseres Autors Timur Ergen. Er wirft einen Blick zurück in die Geschichte und stellt fest, dass selbst Ronald Reagan, der neben Margaret Thatcher als zentraler Wegbereiter einer neoliberalen Wirtschaftspolitik gilt, seine radikalen Steuersenkungen (eine Maßnahme, die auch Trumps Wirtschaftspolitik kennzeichnet) mit Schutzzöllen und anderen handelspolitischen Interventionen verknüpfte. Zur Erklärung dieser zunächst eigenartigen Kombination von Liberalismus (nach innen) und Protektionismus (nach außen) eignen sich dem Autor zufolge weder interessen- noch ideenbasierte Ansätze. Vielmehr, so seine These, seien es Erzählungen über die Zukunft – in Reagans Fall wirtschaftliche Niedergangsszenarien –, die dazu führten, dass sich Koalitionen pragmatisch (und gerade nicht ideologisch oder interessengetrieben) bilden beziehungsweise verschieben und somit ihre ganz eigenen Wirkkräfte und Zugzwänge entfalten. Am Ende erscheint es – auch in neoliberalen Zeiten – durchaus folgerichtig, dass ein und dieselbe Regierung zu scheinbar widersprüchlichen Maßnahmen greift und eine liberale Steuerpolitik mit einer protektionistischen Handelspolitik verbindet.

Steuersenkungen gelten aus liberaler Perspektive als ein beliebtes Instrument angebotsorientierter Wirtschaftspolitik, mit dem das Ziel verfolgt wird, das Wirtschaftswachstum voranzutreiben, Arbeitsplätze zu schaffen und letztendlich – so die Erwartung – die Staatskassen auf diese Weise wieder aufzufüllen. Diese Sichtweise ist hochumstritten, und angesichts zunehmender sozioökonomischer Ungleichheit wird in der Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft immer wieder die gegenteilige Strategie – eine steuerpolitische Umverteilung von oben nach unten – gefordert. Das ist die politische Seite der Steuerproblematik. Es gibt auch eine, wenngleich nicht weniger umstrittene, moralische. Gerade diejenigen, die es sich am ehesten leisten können, Steuern zu zahlen, unternehmen gerne den Versuch, dies zu vermeiden, indem sie ihr Vermögen oder ihren Unternehmenssitz in ausländische Steuerparadiese verlagern und damit die hiesigen Regelungen umgehen. Enthüllungen von Steuerskandalen wie die Panama Papers oder die Cum-Ex-Geschäfte in der Finanzbranche haben in der Vergangenheit immer wieder zu heftigen Debatten über die Steuermoral der Reichen und Privilegierten geführt. Die tägliche Flut an neuen Berichten, Analysen und Meinungsartikeln scheint in letzter Zeit jedoch abgeebbt zu sein. Um das Thema ist es seltsam still geworden. Solche konjunkturellen Schwankungen der öffentlichen Debatte zur Steuermoral sind nichts Neues, wie Korinna Schönhärl in ihrem Beitrag zeigt. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg sei in der Bundesrepublik intensiv über die angeblich defizitäre Steuermoral in der Bevölkerung diskutiert worden, wohingegen dieses Thema in den 1950er Jahren fast gänzlich aus der öffentlichen Debatte verschwunden sei. Die Autorin führt das weniger auf eine Zunahme der Steuerehrlichkeit als vielmehr auf den Wirtschaftsaufschwung zurück, der zu dieser Zeit Fahrt aufnahm und das Problem allenfalls weniger dringlich erscheinen ließ. Im Steuermoral-Diskurs der frühen Bundesrepublik rekonstruiert Schönhärl drei zentrale Narrative, mit denen jeweils unterschiedliche Gruppen ihre politischen Forderungen rechtfertigten. Ihre Berücksichtigung der machtpolitischen Komponente offenbart nicht nur, welche Narrative sich im Diskurs durchsetzen konnten, sondern auch, wie sich dominierende Narrative im Zeitverlauf änderten und wie sich dementsprechend auch die politischen Maßnahmen zur Verbesserung der Steuermoral wandelten.

Probleme der Steuermoral und der steuerpolitischen Umverteilung berühren in ihrem Kern die Frage nach sozialer Gerechtigkeit, die, wie wir wissen, ganz unterschiedlich beantwortet werden kann. In der wissenschaftlichen und öffentlichen Debatte lassen sich hier grob zwei dominante Positionen unterscheiden. Auf der einen Seite die liberale, die den Markt als grundlegendes gesellschaftliches Ordnungsprinzip anerkennt und einen auf Leistung beruhenden Verteilungsmodus für angemessen hält; auf der anderen Seite die linke Gegenposition, die dem Markt grundsätzlich skeptisch gegenübersteht, das Ordnungs- und Verteilungspotenzial der angeblich „unsichtbaren Hand“ anzweifelt und seine staatliche Einhegung fordert, um auf politischem Wege einen sozialen Ausgleich zwischen den vom kapitalistischen Gesellschaftssystem Privilegierten und Benachteiligten zu schaffen. So sehr sich diese beiden Positionen unterscheiden, teilen sie doch eine fundamentale konzeptionelle Gemeinsamkeit. Beide betrachten das Verhältnis von Markt und Staat als ein antagonistisches, wenn nicht gar feindliches. Aus Sicht der einen erscheint die andere als notwendiges Übel, die man, wenn man sich ihr schon nicht gänzlich entziehen kann, zumindest doch so weit wie möglich zurückdrängen will. Mariana Mazzucato wagt demgegenüber eine andere Sicht auf die Dinge, die in den Ohren der Vertreterinnen und Vertreter beider Positionen unerhört klingen mag. In Anlehnung an Karl Polanyi, der Markt und Staat als untrennbare Einheit konzipiert, fordert sie ein neues Verständnis des Staates, das seiner aktiven Rolle als „market-maker“, als marktschaffender und -gestaltender – nicht bloß intervenierender, regulierender – Instanz Rechnung trägt. Dabei stützt sie sich auf die Beobachtung, dass öffentliche Institutionen bei vielen marktwirtschaftlichen Innovationen und Unternehmensgründungen als wichtigste Leitinvestoren fungieren – häufig noch vor privaten Risikokapitalgebern. Die Konsequenz daraus hat eine fiskalische und gleichsam verteilungspolitische Dimension: Als Marktakteur muss es dem Staat, also Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern, zustehen, nicht nur die mit den wirtschaftlichen Aktivitäten verbundenen Risiken der Investitionen zu tragen, sondern auch von den Gewinnen zu profitieren.

Eine solche Konzeption des Verhältnisses von Markt und Staat verhält sich konträr zu den Modellannahmen der neoklassischen Wirtschaftstheorie, die die Wirtschaftswissenschaften bis heute dominieren. Zu ihren Annahmen zählt neben dem selbstregulierenden Marktsystem, das sich durch vollkommenen Wettbewerb auszeichnet und von sich aus zum Gleichgewicht tendiert (staatliche Interventionen sind hier unnötig, wenn nicht gar schädlich), auch die handlungstheoretische Grundprämisse der rationalen Wahl, die von Vertreterinnen und Vertretern der Rational-Choice-Theorie mittlerweile auf sämtliche gesellschaftliche Bereiche auch jenseits des Wirtschaftssystems übertragen wurde. Dieses Handlungsmodell, das vom nutzenmaximierenden, rational-kalkulierenden Individuum ausgeht, wurde inzwischen vielfach, selbst innerhalb der Wirtschaftswissenschaften, kritisiert und erweitert (zum Beispiel in der Verhaltensökonomie) beziehungsweise durch andere handlungstheoretische Konzeptionen ersetzt (etwa in der Wirtschaftssoziologie). Unser Autor Uwe Schimank fügt dieser Kritik am Rational-Choice-Ansatz eine wichtige und bislang unerforschte Facette hinzu, indem er das nichtrationale Entscheiden (anstelle des nichtrationalen Handelns, das in der Soziologie einen viel größeren Anklang findet) in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen stellt. Ausgehend von drei empirischen Fallbeispielen, die sich auf unterschiedliche Problembereiche beziehen (Individuum, Organisation und Gesellschaft), geht er der Frage nach, auf welche Handlungsstrategien Akteure zurückgreifen, um extrem komplexe Entscheidungssituationen zu bewältigen, die dem Autor zufolge nicht nur Randerscheinungen sind, sondern den Alltag vieler Menschen prägen. Damit bereichert er die soziologische Handlungstheorie um das analytische Konzept des „Coping“, das zu einem besseren Verständnis kreativen Handelns unter Bedingungen hoher Unsicherheit beitragen kann.

In komplexen Entscheidungssituationen befinden sich auch Menschen, die sich – aus welchen Gründen auch immer – die Frage stellen müssen, ob sie ihr Zuhause, ihre Familie und Freunde verlassen sollen, und wenn ja, auf welche Weise sie sich an einem anderen Ort beziehungsweise in einem anderen Land ein neues, sichereres Leben oder eines mit besseren Zukunftsperspektiven aufbauen können. Sie werden dann zu Migrantinnen, Geflüchteten und Exilanten, wie seinerzeit der Staats- und Verfassungstheoretiker Otto Kirchheimer, der kurz nach Hitlers Machtübernahme 1933 ins Exil floh und währenddessen einige Jahre am ebenfalls exilierten Institut für Sozialforschung in New York eine Beschäftigung fand. In seinem Beitrag unternimmt Hubertus Buchstein den Versuch, die Schriften Kirchheimers, die zu dieser Zeit entstanden sind, für eine Kritische Theorie der Politik fruchtbar zu machen. Er konzentriert sich dabei insbesondere auf die Kontroverse zwischen Kirchheimer und Horkheimer im Zusammenhang mit der institutsinternen Forschung zum Nationalsozialismus, in der die politiktheoretischen Differenzen der beiden besonders deutlich zutage treten. Horkheimers negativer Geschichtsphilosophie und gesellschaftstheoretischen Globaldeutungen entgegnete Kirchheimer mit einem Ansatz, der Empirie und Theorie verknüpft und sowohl die Rolle konkreter institutioneller Arrangements für politische Prozesse als auch gesellschaftliche Konfliktkonstellationen und die ungleich verteilten Machtpotenziale der darin verwickelten Gruppen ernst nimmt.

Otto Kirchheimer wird heute nicht nur im Zusammenhang mit seiner kurzen Episode am Institut für Sozialforschung, sondern auch als linker Schüler von Carl Schmitt rezipiert, bei dem er 1928 in Bonn promoviert wurde. Im Mittelpunkt des ebenfalls ideengeschichtlichen Beitrags von Lukas Potsch stehen mit Roman Schnur, Reinhart Koselleck, Hanno Kesting und Nicolaus Sombart ebenfalls Schüler von Carl Schmitt, deren Wirken als konservative Intellektuelle der Nachkriegszeit hier untersucht wird. Der Fokus liegt auf deren Rezeption der Schmittʼschen Polemik vom „Weltbürgerkrieg“, mit dem sie wie ihr Lehrer die krisenhaften Entwicklungen der Moderne als Ergebnis des universalistischen, aufklärerischen Denkens und dessen optimistischer Geschichtsphilosophie beschrieben haben. Neben dieser grundlegenden Gemeinsamkeit arbeitet der Autor auch die Unterschiede zum Denken ihres Lehrers heraus, was aufschlussreich ist, will man verstehen, wie das Schmittʼsche Denken nach dem Zweiten Weltkrieg in die neu gegründete Bundesrepublik integriert wurde.

Claudia Czingon

Inhaltsverzeichnis

Zu diesem Heft – (Neo-)Liberalismus und Geschichtsphilosophie in der Kritik

Positionen, Begriffe, Debatten

Mariana Mazzucato
Der unternehmerische Staat: Risiken und Gewinne vergesellschaften

Aufsätze

Timur Ergen
Wirtschaftliche Untergangsszenarien und neoliberale Reformen

Korinna Schönhärl
Steuermoral in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg
Eine diskursanalytische Rekonstruktion

Uwe Schimank
Coping: Entscheiden, wenn das kaum noch möglich ist

Hubertus Buchstein
Kritische Theorie der Politik – Max Horkheimer und Otto Kirchheimer in der Kontroverse

Lukas Potsch
Die Moderne als Weltbürgerkrieg
Zeit- und Geschichtskritik bei Roman Schnur, Reinhart Koselleck, Hanno Kesting und Nicolaus Sombart

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