Internationale Politik 60 (2005), 9

Titel der Ausgabe 
Internationale Politik 60 (2005), 9
Zeitschriftentitel 
Weiterer Titel 
Zerfallende Staaten

Erschienen
Frankfurt am Main 2005: Societäts Verlag
Erscheint 
Erscheinungsweise: deutsch (monatlich), russisch (monatlich), englisch (vierteljährlich)
ISBN
1430-175X
Anzahl Seiten
128
Preis
€ 9,95

 

Kontakt

Institution
Internationale Politik
Land
Deutschland
c/o
Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik e.V. Rauchstraße 17-18 10787 Berlin Tel.: +49-(0)30-25 42 31-46 Fax: +49-(0)30-25 42 31-67
Von
Patrick Wagner

Zerfallende Staaten
Inzwischen, so rechnete kürzlich die Zeitschrift Foreign Policy vor, leben weltweit rund zwei Milliarden Menschen in fragilen, scheiternden oder schon kollabierten Staaten. In diesen Gebilden sind Recht und Ordnung, Gesundheitswesen und Wirtschaft, Justiz und Gewaltenteilung zusammengebrochen; Korruption grassiert, die Erlöse nationaler Ressourcen fließen in die Taschen raffgieriger Eliten; Warlords konkurrieren mit Todesschwadronen um Zugang zu den Reichtümern der Region – Gold, Kupfer, Diamanten, Öl; kriminelle Syndikate verdienen Milliarden mit Menschen-, Waffen- und Drogenhandel; in unzugänglichen Stammesgebieten pflegen Terroristen ungestört ihre logistischen Rückzugsbasen; die Macht der Regierung reicht oft kaum weiter als bis an die Stadtgrenzen ihrer Hauptstadt.

„Amerika“, heißt es in der Nationalen Sicherheitsstrategie der Vereinigten Staaten aus dem Jahr 2002, „ist heute weniger von feindlichen Staaten bedroht als von zerfallenden.“ Diese Gefährdungsanalyse gilt für den gesamten Westen. Doch wie ist der neuen, „asymmetrischen“ Bedrohung zu begegnen? Sind „humanitäre“ Interventionen und zeitlich begrenzte Protektorate ein geeignetes Instrument zur Gefahrenabwehr? Hilft Entwicklungshilfe? Wie ehrwürdig ist der alte staatliche Souveränitätsbegriff noch, wenn es um „Failing States“ geht? Braucht die internationale Gemeinschaft neue rechtliche Instrumente, um mit der neuen, schwachen Staatenwelt umzugehen?

Am 22. und 23. September wird in Berlin eine Konferenz der Alfred Herrhausen Gesellschaft in Zusammenarbeit mit dem Wissenschaftszentrum Berlin stattfinden. Sie beschäftigt sich unter dem Titel „Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit“ mit der Frage, ob sich in diesen Regionen „neue“ Formen des Regierens herausbilden. Thematisiert wird unter anderem, wie der Souveränitätsbegriff sich wandelt, ob internationale Interventionen die Privatisierung von Gewalt sogar noch fördern, warum staatliche Schwäche durchaus erwünscht sein kann und mehr. In dieser IP-Ausgabe drucken wir die wesentlichen wissenschaftlichen Beiträge der Konferenz vorab.

Inhaltsverzeichnis

ZERFALLENDE STAATEN

Thomas Risse: Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit
In zwei Dritteln der heutigen Staatenwelt ist das staatliche Gewaltmonopol nur noch eingeschränkt durchsetzbar. Wird der klassische Nationalstaat zum Auslaufmodell?
In rund zwei Dritteln der heutigen Staatenwelt ist das staatliche Gewaltmonopol nur noch eingeschränkt durchsetzbar, neue Regierungsformen entstehen. Das hat schwerwiegende Konsequenzen für die internationale Politik: Zurzeit orientieren sich Hilfsmaßnahmen zur (Wieder-)Herstellung von Staat lichkeit fast vollständig am Idealbild des demokratischen Wohlfahrts staats westlicher Prägung. Doch was wäre, wenn der moderne Nationalstaat weltweit zur Ausnahme würde?

Christoph Zürcher: Gewollte Schwäche
Was genau führt zum Staatsverfall? Und warum schwächen Eliten ihren eigenen Staat?
Vom schwierigen analytischen Umgang mit prekärer Staatlichkeit
Prekäre Staatlichkeit ist ein Phänomen, auf das sich die internationale Politik einstellen muss. Nur muss präzise Ursachenforschung betrieben werden. Was genau führt zum Staatsverfall? Wie wird Staatlichkeit hergestellt? Gibt es in zerfallenen Staaten auch Inseln der Organisationsfähigkeit? Und warum schwächen Eliten ihren eigenen Staat?

Gunnar Folke Schuppert: Ressource Rechtsstaatlichkeit
Welche Rolle spielt das Rechtsstaatsprinzip für ein funktionierendes Staatswesen? Ein Überblick über die aktuelle wissenschaftliche Debatte
Welche Rolle spielt das Rechtsstaatsprinzip für ein funktionierendes Staatswesen? Lassen sich die rechtsstaatlichen Denkweisen und Traditionen des westlichen Kulturkreises ohne weiteres in andere Weltgegenden, insbesondere in solche mit begrenzter Staatlichkeit, übertragen? Ein Überblick über die aktuelle wissenschaftliche Debatte.

Sven Chojnacki: Privatisierte Sicherheit
Die empirische Analyse des Wandels von Kriegsformen zeigt: Auch die internationale Gemeinschaft trägt zur Privatisierung von Gewaltstrategien bei
Sind staatliche Akteure tatsächlich immer weniger die zentralen Monopolisten heutiger Kriege? Nimmt die Privatisierung organisierter Gewaltanwendung in Räumen begrenzter Staatlichkeit zu? Empirische Daten belegen, dass sich selbst demokratische Staaten privatisierter Gewaltstrategien bedienen und so den Sicherheitsmarkt vorantreiben.

Stephen D. Krasner: Alternativen zur Souveränität
Das Westfälische Staatenmodell hat weitgehend ausgedient. Für gescheiterte Staaten müssen neue, zeitgemäße Formen geteilter Souveränität entwickelt werden
Das Prinzip der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten funktioniert nicht mehr. Prekäre Staaten können sich nicht selbst „reparieren“. Aber das Instrumentarium für auswärtige Akteure ist ebenfalls mangelhaft. Es muss durch Konzepte geteilter Souveränität ergänzt werden. Das wäre durchaus im Eigeninteresse prekärer Staaten. Aber eine internationale Anerkennung dieses neuen Prinzips ist dringend notwendig.

Elsina Wainwright und Murray Harris: Lektionen aus dem Südpazifik
Wie sollte Hilfe von außen organisiert werden, wenn scheiternde Staaten um Hilfe bitten? Das lernt die australische Regierung gerade auf den Salomonen
Die Salomonen sind eine Gruppe von 992 Inseln vor der australischen Nordostküste. Vor zwei Jahren waren dort die staatlichen Strukturen so zerfallen, dass die örtliche Regierung Australien um Hilfe bat. Im Juli 2003 startete die australische Regierung dort ein Statebuilding-Projekt nach völlig neuem Muster. Die Erfolge sind ermutigend.

RUSSLAND
Von der Völker- zur Männerfreundschaft? von Heinrich Vogel
Verkrampfung, Stagnation, genervt-vorwurfsvolle Untertöne: über den derzeitigen Zustand der deutsch-russischen Beziehungen
Große Teile der russischen Gesellschaft sind in Bewegung. Es wäre verhängnisvoll, sie weiter den Manipulationen einer machtversessenen Elite in Moskau auszuliefern – aber genau dies geschieht, wenn westliche Staatsführer, statt deutliche Kritik an der autoritären Politik des Kremls zu üben, aus taktischen Gründen Wladimir Putin umschmeicheln.

GUS
Das Neue Osteuropa von Jacek Cichocki
In Russlands „nahem Ausland“ bröckeln die Fassaden. Der Kreml kann mit dem stürmischen Freiheitsdrang in den GUS-Ländern nicht umgehen. Europa aber ebenso wenig
Wohin treibt die GUS? Wird sie bald vollends zerfallen? Wer lernt als nächstes vom „Beispiel Ukraine“? Mit wachsendem Unbehagen beobachtet der Kreml, dass die Nachfolgestaaten der Sowjetunion sich immer weniger von Moskau aus steuern lassen; die außenpolitischen Strategen sind ziemlich ratlos. Allerdings hat Europa auch keine Idee, wie es mit dem stürmischen Freiheitsdrang im Osten umgehen soll.

NEUE DIPLOMATIE
Von den Multis lernen von Wilfried Bolewski
Nicht nur Staaten machen Außenpolitik – transnationale Firmen und NGOs tun es längst auch. Alle Akteure stärker zu vernetzen, ist das Ziel von Corporate Diplomacy
Staaten sind längst nicht mehr die einzigen außenpolitischen Akteure. Transnationale Unternehmen und Nichtregierungsorganisationen verfügen oft über weit höhere Budgets, größere Auslandsvertretungen und besseres Spezialwissen. Eine enge Partnerschaft zwischen den Akteuren ist wünschenswert. Auch das Völkerrecht sollte den veränderten Umständen auf der Weltbühne Rechnung tragen.

TERROR
Wegschauen und verharmlosen von Alex Alexiev
In Europa hat man immer noch nicht begriffen, dass die europäischen muslimischen Gemeinschaften seit Jahrzehnten systematisch von Islamisten unterwandert werden
Selbst nach den verheerenden Selbstmordanschlägen von London weigert sich die europäische Öffentlichkeit, das Offensichtliche zu sehen: Seit Jahrzehnten haben Islamisten die muslimischen Gemeinschaften Europas systematisch indoktriniert. Ihre gut organisierten Netzwerke haben keine Probleme, laufend neuen Terrornachwuchs zu rekrutieren.

IRAN
Gehörnter Ehemann von Mariam Lau
Der Iran hat die Europäer bei den Verhandlungen um die Nuklearanlage in Isfahan an der Nase herumgeführt. Und die lassen es sich dröge gefallen

IRAK
Abschied vom Irak von Michael Kimmage
Der Irak-Krieg hat seine Rolle als Moter des Zeitgeists ausgespielt – weder Wahlen noch Partner noch globaler Einfluss lassen sich heute mit dem Thema gewinnen
Noch im vergangenen März schien der Irak-Krieg der Schalthebel der Weltpolitik zu sein, das größte politische Ereignis im 21. Jahrhundert. Doch siehe da, einige Wahlen und viele Anschläge später zeigt sich: Es ist Krieg, aber niemand schaut hin. Die Europäer haben andere Sorgen.

AMERIKABILDER von Tim B. Müller
Dschihad in Washington
Der Terrorismus als Speerspitze der Anti-Globalisierer; warum die Neocons trotzdem gewonnen haben und wie man Afghanistan erfolgreich aufbaut

BUCHKRITIK von Alexandra Kemmerer und Egon Bahr
Den Grenzen auf den Grund gehen
Fünf Neuerscheinungen über die Entwicklung des internationalen Rechts; Lothar Rühls „Das Reich des Guten“; „Zur Weltmacht verdammt“ von Christian Hacke Wo sind die Grenzen des internationalen Rechts? Und wie funktioniert es wirklich, in Zeiten amerikanischer Vorherrschaft? Fünf Bücher erschließen die Koordinaten für neue Positionsbestimmungen.

Kolumnen
WERKSTATT DEUTSCHLAND von Franz Walter
Lafontaines „Appel au peuple“
Es hilft wenig, sich über populistische Parteien zu beklagen; man wird schon nach den Ursachen ihrer Resonanz fragen müssen

ÖKONOMIE von Elga Bartsch
Wackelt das internationale Finanzsystem?
Paradoxerweise liegt in seinem derzeitigen guten Zustand die größte Gefahr für die langfristige Stabilität. Die globalen Ungleichgewichte werden größer

TECHNOLOGIE von Gero von Randow
Nuklearterrorismus
Können Terroristen eine nukleare Kettenreaktion auslösen? Nein. Haben sie schon die „schmutzige Bombe“? Vermutlich ja. Beides gilt es zu unterscheiden

KULTUR von Lorenz Jäger
Canetti und Versailles
Vor 100 Jahren wurde Elias Canetti geboren – willkommener Anlass, sich wieder einmal seinen politischen Einsichten zuzuwenden, speziell dem „Deutschland von Versailles“

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