Internationale Politik 60 (2005), 11

Titel der Ausgabe 
Internationale Politik 60 (2005), 11
Zeitschriftentitel 
Weiterer Titel 
Terror: Der neue Totalitarismus

Erschienen
Frankfurt am Main 2005: Societäts Verlag
Erscheint 
Erscheinungsweise: deutsch (monatlich), russisch (monatlich), englisch (vierteljährlich)
ISBN
1430-175X
Anzahl Seiten
144
Preis
EUR 9,95

 

Kontakt

Institution
Internationale Politik
Land
Deutschland
c/o
Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik e.V. Rauchstraße 17-18 10787 Berlin Tel.: +49-(0)30-25 42 31-46 Fax: +49-(0)30-25 42 31-67
Von
Patrick Wagner

„Wenn du den Feind und dich selbst kennst, brauchst du den Ausgang von hundert Schlachten nicht zu fürchten. Wenn du dich selbst kennst, doch nicht den Feind, wirst du für jeden Sieg, den du erringst, eine Niederlage erleiden. Wenn du weder den Feind noch dich selbst kennst, wirst du in jeder Schlacht unterliegen.“

Diese schlichten Erkenntnisse brachte vor rund 2500 Jahren der chinesische Philosoph und Militärstratege Sun Tsu (ca. 534–453 v. Chr.) zu Papier. Sein Werk „Die Kunst des Krieges“ ist ein wahrer Longseller. Manager lernen heute daraus, sich gegen Wettbewerber zu behaupten. Was jedoch den derzeit bedrohlichsten Feind der liberalen Demokratien angeht, den islamistischen Terrorismus, scheint Sun Tsus Weisheit wenig beherzigt zu werden. „So konnten die Anschläge in London Europa überraschen, obwohl die islamistischen Terroristen unmissverständlich gewarnt hatten,“ schreibt in dieser IP der Tübinger Ethnologe Thomas Hauschild. „Wir sind gewarnt und schauen weg. Das ist nur zu verständlich, kann aber gefährlich werden.“

Verdrängung, Angst, sogar der „respektvoll bis schamhaft gesenkte“ Blick der multikulturalistischen Toleranz (Hauschild) – all diese Verhaltensweisen verhindern, dass die Europäer die Natur dieses neuen Feindes wirklich begreifen. Und er ist hier. Er bewegt sich im Internet wie der abgebrühteste Hacker, schreibt Yassin Musharbash, der seine Webseiten liest; er blüht und gedeiht in der europäischen Diaspora viel besser als in afghanischen Höhlen, berichtet Guido Steinberg, bis vor kurzem Terrorismusreferent im Bundeskanzleramt.

Umso enttäuschender ist es, beklagt der amerikanische Historiker Jeffrey Herf in dieser Ausgabe, dass gerade die Deutschen die totalitären Züge dieser reaktionären Revolte gegen die Moderne nicht durchschauen und „im Krieg der Ideen gegen den radikalen Islam“ keine Führungsrolle übernehmen. Haben sie in den Jahrzehnten ihrer Auseinandersetzung mit dem Nazismus nicht gelernt, solche Strukturen zu verstehen? Um diesen Feind zu besiegen, „ohne dabei die elementaren Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit“ zu verletzen, sei „ein tiefes Verständnis historischer Zusammenhänge“ unerlässlich, meint Herf. Das Wissen ist da. Es muss nur angewendet werden.

Inhaltsverzeichnis

Terror: Der neue Totalitarismus

Jeffrey Herf
Revolte gegen die Moderne
Modernste Technik, uralte Ideologie: Die totalitären Strukturen des islamistischen Terrorismus sollten vor allem die Deutschen wieder erkennen – und bekämpfen
Deutsche Historiker trugen wesentlich zu einem Verständnis des Nazismus als Aufstand gegen die Verwerfungen einer hastigen Modernisierung bei. Parallelen zum radikal-islamischen Terrorismus sind unübersehbar. Doch anstatt sich mit dieser Erkenntnis an die Spitze des ideologischen Kampfes gegen den Terror zu stellen, zog man in Berlin, aber auch in Washington, einen reichlich selektiven Umgang mit der Geschichte vor.

Guido Steinberg
Terror – Europas internes Problem
Die Ideensaat Osama Bin Ladens ist hierzulande besonders üppig aufgegangen. Der „führerlose Widerstand“ blüht am intensivsten in der europäischen Diaspora
Islamistische Anschläge in Europa nehmen zu. Hier aufgewachsene Muslime spielen eine immer wichtigere Rolle und werden zu den eigentlichen Vertretern der internationalistischen Ideologie von Al-Qaida. Die neue Terrorgeneration ist Bin Laden nur lose verbunden und ergreift ohne Einsatzbefehl selbst die Initiative. Aus dem Irak zurückkehrende Kämpfer werden die Bedrohungslage hierzulande noch verschärfen.

Yassin Musharbash
Neues Betriebssystem für Al-Qaida
Das Terrornetzwerk beherrscht die Kommunikationsmethoden des Internet-Zeitalters virtuos. Über das World Wide Web werden ständig neue Anhänger rekrutiert
Das Terrornetzwerk Al-Qaida ist längst in der virtuellen Gegenwart angekommen und nutzt das Internet höchst effektiv zur Verbreitung von Know-how und Ideologie. Das World Wide Web ist das Medium, mit dessen Hilfe die totalitären Islamisten den Sprung von der militärischen Kader-Organisation zur global agierenden Bewegung vorbereiten.

Ophir Falk und Yaron Schwartz
Piraten unter grüner Flagge
Nichts würde die Weltwirtschaft so zentral treffen wie ein gut koordinierter Anschlag auf ihre Lebensader, den maritimen Welthandel. Geplant wird er wohl schon
Komplexe Staatensysteme sind durch einen Anschlag global organisierter Terrorgruppen extrem verwundbar. Nach dem 11. September haben sich Regierungen und Geheimdienste auf den Schutz des internationalen Flugverkehrs konzentriert. Der Welthandel ist aber weit abhängiger vom maritimen Transportwesen. Eine Attacke auf See könnte die Weltwirtschaft daher massiv beschädigen. Genau deshalb ist sie äußerst wahrscheinlich.

Thomas Hauschild
Auf den Spuren von Al-Qaida
Faktenwissen über den islamistischen Terror ist genügend vorhanden. Was fehlt, sind eine soziale Mikroskopie, eine Ethnographie – und eine kulturelle Antwort des Westens
Die Anschläge islamistischer Terroristen auf das Londoner Verkehrssystem im Sommer 2005 haben bei vielen Europäern Furcht ausgelöst. Ein Jahr hindurch, seit den Madrider Anschlägen, hatte man die Existenz von Al-Qaida und die von ihr ausgehende Bedrohung fast schon vergessen. Gemessen daran kam es zu erfreulich wenig Panikreaktionen, Hasspolitik und rassistischen Gewalttaten. Es ließ sich sogar eine zivilisierte, stoische Haltung beobachten. Man fragt sich, wie die Reaktionen auf einen ähnlichen Anschlag in Berlin ausfallen würden – wäre das Polster an Multikulturalismus, Vernunft und Geduld ebenso groß wie in England?

Michael Ignatieff
Freiheit und Armageddon
Wie können sich liberale Demokratien verteidigen, wenn Terroristen sie mit Massenvernichtungswaffen angreifen?
Die Gefahr verheerender terroristischer Angriffe stürzt liberale Demokratien in ein Dilemma. Wie können sie die Grundlage ihrer Gesellschaften, die Freiheit, verteidigen, ohne sie selbst zu gefährden? Wie die monströse Macht zu allem entschlossener Nihilisten brechen, ohne ihre eigene Identität zu vernichten? Durch eine politische Ethik, die beständig abwägt und penibel erwogene kleinere Übel wählt, um größere zu verhindern.

Internationale Politik
BERLIN
Merkels Mission von Robin Mishra
Ihr internationales Netzwerk ist gut, ihre Amerika-Hörigkeit wird überschätzt, mit Putin redet sie russisch: das außenpolitische Weltbild der designierten Bundeskanzlerin

ABSCHRECKUNG
Kernwaffen im 21. Jahrhundert von Karl-Heinz Kamp
Was bedeutet nukleare Abschreckung heute? Welche Strategien schrecken welche Gegner ab? Wozu brauchen westliche Staaten noch Atomwaffen? Eine Übersicht
Nach dem Ende des Kalten Krieges ist die Funktion der „Abschreckung“ durch Atomwaffen aus dem Blickfeld geraten. Sie muss aber neu definiert werden: Was genau bedeutet nukleare Abschreckung unter den heutigen Rahmenbedingungen? Welche Gründe gibt es für Kernwaffenbesitz? Welche Strategien schrecken welche Gegner ab? Eine Bestandsaufnahme.

KOSOVO
Balkanische Eiertänze von Elizabeth Pond
Welcher Endstatus für das Kosovo? Lange hat sich der Westen um die Beantwortung dieser Frage herumgedrückt. Jetzt bewegt sich was
Die „Normalisierung“ des Balkans – und die Chance seiner Länder, irgendwann der EU beizutreten – hängt entscheidend davon ab, welchen Endstatus das heutige Protektorat Kosovo erhalten wird. Bisher waren die serbischen und kosovo-albanischen politischen Fronten in dieser Frage verhärtet. Doch das ändert sich gerade: Der Westen hat mit seinen „vier Neins“ klare Parameter für eine mögliche Lösung geschaffen.

AFGHANISTAN
Ratlos am Hindukusch von Franz X. Danner
Der „Petersberg-Prozess“, maßgeblich von Berlin mit entwickelt, ist erfolgreich abgeschlossen. Wie soll es nun weitergehen mit dem deutschen Nation-Building-Einsatz?
Mit der Ausrichtung der internationalen Afghanistan-Konferenzen und seinem Einsatz vor Ort hat Deutschland gezeigt, dass es bereit ist, internationale Verantwortung zu übernehmen. Doch der „Petersberg-Prozess“ ist nun erfolgreich abgeschlossen. Afghanistan wird noch Jahre, wenn nicht Jahrzehnte Hilfe brauchen. Wie soll der deutsche Beitrag aussehen?

ZIONISMUS
Lieber klein – aber dafür jüdisch von Kenneth Stein
Unilaterale Entscheidungen im Interesse des jüdischen Staates sind in Israels Geschichte keine Seltenheit. Der Gaza-Abzug ist daher ganz im Sinne des Zionismus
Unilaterale Entscheidungen im Interesse des jüdischen Staates sind in der Geschichte des Zionismus keine Seltenheit. So auch jetzt: Angesichts einer von Krisen geplagten Region, ungünstiger demografischer Bedingungen, der Kosten für den Schutz von Siedlern außerhalb des israelischen Kernlands und der Bürde, die ein von Arbeitslosigkeit und Chaos heimgesuchter Gaza-Streifen darstellt, traf Israel die weiseste Entscheidung: Rückzug.

IRAK
Befreier in Ketten von Cora Sol Goldstein
Das amerikanische Scheitern im Nachkriegs-Irak beruht auf einer katastrophalen Fehleinschätzung: Die Bush-Regierung glaubte an ihre eigene „Befreiungs“-Hypothese
Der Name war Programm: „Operation Iraqi Freedom“ sollte die irakische Bevölkerung vom Tyrannen befreien. Die „Befreiungs“-Hypothese erwies sich jedoch als folgenschwerer Fehler. Irrige Parallelen zwischen der Nachkriegssituation in Deutschland und im Irak führten zu einer fatalen Besatzungspolitik. Doch Europa darf sich nicht abwenden: Ein neuer transatlantischer Dialog über die Zukunft des Nahen Ostens tut Not.

ISLAM
Selbstverschuldete Ignoranz von Charlotte Wiedemann
Die „islamische Welt“, die wir zu kennen meinen, gibt es nur in unserer Phantasie. Mit real existierenden muslimischen Ländern hat sie nicht die geringste Ähnlichkeit
„Die islamische Welt“, die wir zu kennen meinen, existiert nur in unserer Phantasie: Klischees und geradezu groteske Simplifizierungen haben das westliche Bild muslimischer Länder zu einem Zerrbild werden lassen, gegen das differenziertere Berichterstattung nichts mehr ausrichten kann.

WERTEGEMEINSCHAFT
Europäische Sonderwege von Michael Mertes
Die Gretchenfrage nach der Religion wird heute dies- und jenseits des Atlantiks unterschiedlich beantwortet. Aber auch Laizismus ist in der Türkei etwas anderes als in Frankreich
„Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?“ Die Gretchenfrage wird heute dies- und jenseits des Atlantiks anders beantwortet. Internationale Vergleichsstudien legen zudem nahe, dass das „laizistische Universum“ Europa auch in Fragen nationaler Souveränität einen Sonderweg beschritten hat – ganz im Gegensatz zur ebenfalls laizistischen Türkei.

AMERIKABILDER von Tim B. Müller
Warten auf Atatürk?
Reuel Marc Gerecht, der amerikanische Islam- und Terrorexperte, hat die Hoffnung auf Demokratie in der arabischen Welt noch nicht aufgegeben

BUCHKRITIK von Thomas Hauschild und Thomas Speckmann
Globale Gotteskrieger?
Thomas Hauschild rezensiert jüngst erschienene Bücher über Al-Qaida; Thomas Speckmann lobt Herfried Münklers „Imperien“
Endlich erscheinen die Bücher, die wir lesen wollen – und einige andere. In der Zusammenschau von Detailforschern und Theoretikern wird der Terror allmählich begreifbar. Am wenigsten wissen wir über die Motive.

Kolumnen
WERKSTATT DEUTSCHLAND von Paul Nolte
Neue Sicherheit in der riskanten Moderne
Hurrikane, Beben, Rentenreform: Unsicherheit wird zur politischen Aufgabe ersten Ranges

KULTUR von Gustav Seibt
Medienkritik, Demokratiekritik
Nach den Wahlen grassierte die Kritik an den Medien. Aber was wäre Demokratie ohne sie?

ÖKONOMIE von Helmut Reisen
Den Armen helfen – aber wie?
Paradoxe Welt der Entwicklungshilfe – oder warum Kredite mehr bewirken als Zuschüsse

TECHNOLOGIE von Tom Schimmeck
Ein Quäntchen Wahrheit
Die Quantenphysik macht das Universium immer rätselhafter. Willkommen im Multiversum!

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