Internationale Politik 61 (2006), 5

Titel der Ausgabe 
Internationale Politik 61 (2006), 5
Zeitschriftentitel 
Weiterer Titel 
Zwei Jahre ungeteiltes Europa

Erschienen
Frankfurt am Main 2006: Societäts Verlag
Erscheint 
Erscheinungsweise: deutsch (monatlich), russisch (monatlich), englisch (vierteljährlich)
ISBN
ISSN 1430-175X
Anzahl Seiten
144 Seiten
Preis
9,95 Euro

 

Kontakt

Institution
Internationale Politik
Land
Deutschland
c/o
Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik e.V. Rauchstraße 17-18 10787 Berlin Tel.: +49-(0)30-25 42 31-46 Fax: +49-(0)30-25 42 31-67
Von
Elina Bouvron

„Aus der Sicht der achtziger Jahre,“ schreibt der ungarische Schriftsteller György Dalos in dieser Ausgabe, „wirken die Veränderungen der Neunziger wie reine Science Fiction.“ Das Ende des Kalten Krieges, der Zusammenbruch der Sowjetunion, das Verschwinden des Eisernen Vorhangs, schließlich am 1. Mai 2004 die Aufnahme von acht mittel- und osteuropäischen Ländern in die Europäische Union: Das waren geschichtliche Ereignisse von weltpolitischer Tragweite, die über die Europäer – in Ost und West – quasi im Zeitraffertempo hinwegrasten. Atempausen, Muße zur Reflektion, Gewöhnungsphasen an schwierige Transformationsprozesse gab es kaum.

Jetzt leben wir schon zwei Jahre gemeinsam „im europäischen Haus“, wie Michail Gorbatschow zu sagen pflegte – und scheinen ganz andere Sorgen zu haben als dieses unser Jahrhundertprojekt. Der EU geht es nicht gut nach der großen Kraftanstrengung. Sie wird eine solche, mutmaßt Günter Verheugen, als EU-Erweiterungskommissar seinerzeit für die Organisation dieser Anstrengung zuständig, „wohl nicht wieder leisten können. Sie wird es aber auch nicht müssen. In diesem Fall jedoch war es notwendig. Die Befriedung eines großen Teiles des europäischen Kontinents ist der vielleicht größte Erfolg in der bisherigen Geschichte der europäischen Integration.“

Die Autoren dieser IP loten aus, wo die „neuen“ ostmitteleuropäischen Mitglieder der Union heute stehen: wirtschaftlich, politisch, kulturell, mental. In vielen Bereichen zeigen sich die Spuren der langen Trennung noch sehr deutlich, etwa in der Erinnerungskultur. Ulrike Ackermann, Sozialwissenschaftlerin, beschreibt, dass gerade hier die Gräben noch besonders tief sind. Aber der Tscheche Jan Šícha schildert auch, dass in Böhmen heute die Vertreibungsfrage zwischen Tschechen und Sudetendeutschen ganz anders diskutiert wird, als dies ein halbes Jahrhundert lang möglich war. Das Bild ist komplex, widersprüchlich auch. Nicht alles glänzt. Ein Nordeuropäer, der ehemalige schwedische Ministerpräsident Carl Bildt, stellt schließlich die Frage, die entscheidend sein wird für die Zukunft: „Glauben wir noch an Europa?“

Inhaltsverzeichnis

Günter Verheugen
Europas neue Identität
Was war richtig, was falsch? Eine Bilanz nach zwei Jahren EU-Osterweiterung
Das endgültige Urteil über die größte Beitrittsrunde zur Europäischen Union wird die Geschichte fällen. Zwei Jahre nach der Aufnahme von zehn neuen Ländern zieht der verantwortliche EU-Kommissar Günter Verheugen eine positive Bilanz: Viele vorhergesagte Wirkungen sind eingetreten. Die Union hat eine sehr dynamische Wirtschaftsregion hinzugewonnen, die neuen Länder machen konstruktive EU-Politik, Sicherheit und Stabilität auf dem gesamten Kontinent sind gewachsen.

György Dalos
Das dritte Jahr
Manches war vorhersehbar, vieles nicht: Wachstumsschmerzen im wiedervereinten Europa
In mitteleuropäischen Dissidentenkreisen wurde der Zusammenbruch des Ostblocks und das, was dann kommen würde – McDonalds, Arbeitslosigkeit, Peep-Shows – recht prophetisch vorhergesehen. Nicht vorhersehbar waren: die rasende Geschwindigkeit der Entwicklung, die neuen Nationalismen, das Desinteresse an der Union – ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, an dem sich die Lage der EU dramatisch zuspitzt. Im dritten Jahr der Wiedervereinigung ist der Osten ebenso ratlos wie der Westen.

Adam Krzeminski
Tiefe Risse in der Demokratie
Politischer Populismus im Osten erschreckt den Westen – aber der kennt das Phänomen auch
Die populistischen Auswüchse der letzten Jahre in Polen, Litauen, Ungarn und der Slowakei kamen nicht von ungefähr erst nach dem vollzogenen EU-Beitritt zum Vorschein. Der Populismus ersetzt linke und rechte totalitäre Ideologien – und er artikuliert die Spannungen zwischen den Gewinnern und den sich ausgeschlossen Fühlenden der Gesellschaft.

Konrad Schuller
Die Konsensmaschine surrt
Weg mit den Kettenpanzern: Das antieuropäische östliche Kampfgeschrei wird leiser

Reinhold Vetter
Große Dynamik im Osten
Die neuen EU-Mitgliedstaaten sind auf dem besten Weg, zum Westen aufzuschließen
Schon jetzt ist die wirtschaftliche Entwicklung der neuen EU-Staaten in Ostmitteleuropa eine Erfolgsgeschichte. Die 15 „Altmitglieder“ der Gemeinschaft im Westen profitieren davon, tun sich aber auch schwer mit der neuen Konkurrenz aus dem Osten. Der Erfolg ist den Neuen beileibe nicht in den Schoß gefallen. Und sie werden noch Jahre brauchen, um die einschneidenden politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Folgen des harten Transformations- und Reformprozesses zu verarbeiten.

Detlef Wittig
Zum Beispiel Škoda
Und der wichtigste Motor der Integration in der EU-25 ist die Automobilindustrie

Ulrike Ackermann
Das gespaltene Gedenken
Hie Holocaust, da Gulag: Eine gesamteuropäische Erinnerungskultur ist noch nicht in Sicht
Ökonomisch geht der Prozess der EU-Osterweiterung zwar voran. Doch immer deutlicher zeigt sich, dass die jahrzehntelange Teilung sich bis heute auf die unterschiedlichen westlichen und östlichen Mentalitäten auswirkt. Nicht nur die Erinnerung an den Nationalsozialismus und den Stalinismus, sondern auch das aktuelle Verhältnis zu den USA zeigt die kulturellen Gräben, die zwischen Osten und Westen nach wie vor bestehen.

Jan Sícha
Bildersprache und Politik
Böhmischer Blumenstrauß: über deutsch-tschechische Vergangenheitsbewältigung
Jahrzehntelang haben die Vertriebenenfrage und der Umgang mit der Historie das Verhältnis zwischen Tschechen und Deutschen vergiftet. Heute, zwei Jahre nach Tschechiens EU-Beitritt, ist diese Phase vorbei. Das Collegium Bohemicum in Ústí nad Labem/Aussig soll bald einen komplexen Blick auf die Geschichte der Deutschen in Böhmen werfen.

Gereon Schuch
Neue Zeiten, neue Debatten
Die alten bilateralen west-östlichen Konferenzformate haben sich überlebt

Carl Bildt
Glauben wir noch an Europa?
Ausgerechnet im Moment seines größten Erfolgs versinkt der Kontinent in Selbstzweifeln
Statt die bisherige Geschichte der Europäischen Union nach dem Fall des Ostblocks als Erfolgsgeschichte zu begreifen, macht sich im Westen Europa-Pessimismus breit. Wie viele Länder werde man noch aufnehmen können, fragen sich etliche Bürger und Politiker. Doch eine wirtschaftliche und kulturelle Integration des Balkans und langfristig der Kaukasus- Region würde auch Westeuropa mehr Frieden und Wohlstand bringen.

Internationale Politik

ZUKUNFT DER EU I
Das Modell der abgestuften Mitgliedschaft von Matthias Wissmann
Für künftige Erweiterungsschritte der EU sind andere Strategien vonnöten
Die Europäische Union steckt in der Zwickmühle zwischen gewollten und zugesagten Neuaufnahmen und der Überforderung ihrer internen Strukturen. Ein Ausweg aus diesem Dilemma könnte eine abgestufte Mitgliedschaft sein: Die Beitrittskandidaten werden zunächst in die weniger vergemeinschafteten Politikfelder integriert; ihre weitere Einbindung erfolgt dann nach Maßgabe ihrer Fähigkeit und Bereitschaft.

ZUKUNFT DER EU II
Finalität ohne Ende von Johannes Varwick
Wie weiter? Die EU muss sich Klarheit über ihre Ziele und Funktionsweisen verschaffen Nur eines lässt sich über den Ausweg aus der gegenwärtigen Krise der EU mit Gewissheit sagen: Er ist komplex und wird weder einem zentralistischen Ideal gerecht werden noch in einer Renationalisierung münden. Wahrscheinlicher ist ein Muddling-through, bei dem einige Kernstaaten vorangehen und die übrigen in ihre Dynamik zwingen.

ZUWANDERUNG
Integration ist machbar von Markus Linden
Eine Replik auf Robert S. Leikens Verabschiedung des Integrationspostulats
Eine gelingende Integration ist auch eine Frage des Maßstabs. Während Robert S. Leiken als deren Bestandteil die Übernahme kultureller Standards erachtet (IP 3/2006), hält Markus Linden dem die Einbindung durch das deliberative Verfahren des demokratischen Rechtsstaates entgegen. Mit zwei Mechanismen kann die Demokratie Integration und Akzeptanz hervorbringen: Repräsentation und Partizipation.

SERBIEN
Belgrader Frühling? von Ralf Hermann
Nach Miloševic: Es ist an der Zeit, sich ein anderes Bild von Serbien zu machen
Bei der Beerdigung von Slobodan Miloševi? feierte sich noch einmal das alte Serbien mit allem Pomp des sozialistischen Totenkultes. Es war die Stunde der Radikalen und Nationalisten. Doch es war auch die Stunde der westlichen Betrachter, die noch immer an solchen Bildern festhalten, wenn von Serbien die Rede ist. Dabei gibt es längst ein anderes Serbien. In dessen Händen liegt die Zukunft einer offenen Gesellschaft in Europa.

IRAN I
Cheney nach Teheran! von Henning Hoff
Plant Washington einen Militärschlag? Der hätte verheerende Folgen
Für die Lösung des Konflikts um Irans Atomprogramm gebe es „keine guten Optionen“, heißt es. Während diplomatische Bemühungen bislang keinen Erfolg gehabt haben und die Aussichten auf ein wirksames Sanktionsprogramm eher gering sind, steigt die Kriegsgefahr. Medienberichte häufen sich, dass die USA einen Militärschlag erwägen. Bilaterale Gespräche wären die weitaus bessere Option.

IRAN II
Plädoyer für eine langfristige Iran-Politik von Volker Perthes
Eine energiepolitische Kooperation könnte moderate Kräfte in Teheran fördern

AFGHANISTAN
Wie viel Altes im Neuen? von Rudolf Schmidt
Demokratische Wahlen, Verfassung: eine Analyse afghanischer Institutionen

MENSCHENRECHTE
Partnerschaft mit Folterern? von Marianne Heuwagen
Europa muss sein Verhältnis zur Regierung von Usbekistan überprüfen

INTERVIEW
„Grober Missbrauch öffentlicher Gewalt“ mit Laurence H. Tribe
Der amerikanische Verfassungsrechtler über die derzeitige Verfassung seiner Nation

AMERIKABILDER
Der Sündenbock von Tim B. Müller
Amerika streitet über die „Israel-Lobby“ und Irans Atomwaffen

BUCHKRITIK
Selbstbestimmung neu bestimmen
Alexandra Kemmerer rezensiert acht Bücher zur transnationalen Demokratiedebatte

Kolumnen
KULTUR von Mathias Greffrath
Zeigt uns der Osten unsere Zukunft?
Der einst politische Traum von Europa wird heute nur noch individuell geträumt

WERKSTATT DEUTSCHLAND von Franz Walter
Die SED: Am Anfang war nicht nur Zwang
Nach 60 Jahren „Einheit der Arbeiterklasse“ wird wieder um die Geschichte gestritten

ÖKONOMIE von Birger P. Priddat
Demokratie als Experiment
Wenn sie die Interessen der Bürger nicht mehr bedient, beginnen sie, das Interesse zu verlieren: zu Richard Rortys Thesen

TECHNOLOGIE von Tom Schimmeck
Der Durst von Milliarden
Wasser – auch eine kostbare Ressource, die weltweit knapper und knapper wird

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