Osteuropa 56 (2006), 4

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Osteuropa 56 (2006), 4
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Weiterer Titel 
Tschernobyl. Vermächtnis und Verpflichtung

Erschienen
Erscheint 
monatlich
ISBN
3-8305-1122-1
Anzahl Seiten
272 S.
Preis
15.- €

 

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Institution
Osteuropa
Land
Deutschland
c/o
Redaktion „Osteuropa“ Dr. Manfred Sapper, Dr. Volker Weichsel, Dr. Andrea Huterer, Olga Radetzkaja, Margrit Breuer Schaperstraße 30 10719 Berlin Tel. 030/30 10 45 - 81 / 82 Fax 030/21 47 84 14 E-mail: osteuropa@dgo-online.org
Von
Weichsel, Volker

Das Heft finden Sie unter:
http://osteuropa.dgo-online.org/240.0.html

Tschernobyl: Vermächtnis und Verpflichtung

„Nie wieder!“ Nach jeder von Menschen verschuldeten Katastrophe erklingt diese Maxime des Handelns. Doch Tschernobyl ist anders. Die Tragödie, die in der Nacht vom 26. auf den 27. April 1986 auf der Steuerwarte von Block 4 des 100 Kilometer nördlich der ukrainischen Hauptstadt Kiew gelegenen Atomkraftwerks ihren Ausgang nahm, hat diesem Gebot einen neuen Sinn verliehen. Für eine ganze Generation von Menschen, die in den radioaktiv kontaminierten Gebieten von Belarus, der Ukraine und Rußland leben, durchzieht es als Verbot den Alltag: Nie wieder diese Wiese betreten, nie wieder diesen Wald durchstreifen, nie wieder diesen Acker bestellen zu dürfen. 20 Jahre sind seit dem größten Reaktorunfall der Menschheit vergangen, und noch immer sind es zehn Jahre, bis die Hälfte des radioaktiven Isotops Cäsium-137 zerfallen sein wird. Eine Fläche von fast 150 000 km² in Belarus, der Ukraine und in Rußland, wo zum Zeitpunkt der Katastrophe über sieben Millionen Menschen lebten, ist verstrahlt.

Diese Verbote, symbolisiert und sichtbar gemacht von den in trügerisch idyllischen Landschaften rostenden Warnschildern, sind nur ein kleiner Ausschnitt der Katastrophe. Die medizinischen, politischen, sozialen und kulturellen Auswirkungen des Unglücks sind omnipräsent. Sie haben die Ukraine, vor allem aber Belarus, wo ein knappes Fünftel der Bevölkerung in den kontaminierten Gebieten lebt, tiefgreifend verändert. Gleichzeitig sind diese Folgen des Reaktorunglücks weniger faßbar. Die drei ostslawischen Staaten durchleben seit Ende der 1980er Jahre einen derart umfassenden gesellschaftlichen Wandel, daß die Zuordnung einzelner Erscheinungen zu der Reaktorkatastrophe sehr schwierig ist. Dies öffnet Spekulationen und Verharmlosungen Tür und Tor. Eine davon ist die Rede von den vierzig Todesopfern, die der Unfall gefordert habe. An einer solchen Behauptung kann nur festhalten, wer den signifikanten Anstieg der Krebsrate in Belarus und der Ukraine, die erhebliche Zunahme von Schilddrüsenerkrankungen, die hochgeschnellten Raten der Säuglingssterblichkeit und der Fehlbildungen sowie alle anderen oft gleichzeitig auftretenden und einander wechselseitig verstärkenden psychischen und physischen Erkrankungen auf den allgemeinen gesellschaftlichen und ökonomischen Zusammenbruch zurückführt. Daß der Beweis für den Zusammenhang zwischen der Strahlenexposition und den Erkrankungen dennoch geführt werden kann, demonstriert Sebastian Pflugbeil in diesem Band.
Das Leben mit diesen gesundheitlichen Folgen führt zur Hilflosigkeit und Resignation bei den Menschen in den verstrahlten Regionen. Durch die radioaktive Kontamination und die Umsiedlungen hat sich ihr Lebenswert radikal verändert, wie sich in den einfühlsamen Ausführungen von Alfredo Pena-Vega erkennen läßt. Diese Erfahrungen prägen, wie David Marples in diesem Band zeigt, gleichzeitig das Verhältnis der betroffenen Menschen zum Staat: Die Allmacht der Katastrophe bildet in dem am meisten betroffenen Belarus eine der mentalen Grundlagen der autoritären Herrschaft Aljaksandar Lukasenkas.
All das ist das Vermächtnis von Tschernobyl, das eine Armee aus Hunderttausenden von Katastrophenhelfern nicht „liquidieren“ und 20 Jahre „Sanierungspolitik“ nicht bewältigen konnten. Zugleich ist Tschernobyl Verpflichtung. „Habe, erwerbe, produziere, behalte nichts, was dich solche Fehler machen läßt!“ Dieser von Ludger Lütkehaus in Anlehnung an Günther Anders formulierte kategorische Imperativ nach Tschernobyl gilt in Osteuropa vor allem für Rußland. Dort arbeitet bis heute das Herzstück der sowjetischen Nuklearindustrie. Doch scheint gerade Rußland, wo einige der Verantwortlichen für die fatale Desinformationspolitik nach der Katastrophe vom 26. April 1986 weiter leitende wissenschaftliche Ämter innehaben, aus Tschernobyl keine Lehren gezogen zu haben. Wie Robert Darst, Jane Dawson und Adam Stulberg in diesem Band zeigen, will Rußland nach dem Bedeutungsverlust des militärischen Nuklearpotentials nun seine „zivile“ Atomindustrie zum global player machen. Dies ist nicht nur in ökologischer Hinsicht bedenklich.
Die Unterscheidung von ziviler und militärischer Atomkraft ist Wunschdenken. Technisch sind sie siamesische Zwillinge. Angesichts der Tatsache, daß Staaten, die über einen kommerziellen Nuklearkreislauf und das entsprechende Know-how verfügen, binnen weniger Wochen Atomwaffen herstellen können, stellt die Verbreitung der Atomkraft kein Proliferationsrisiko, sondern eine Proliferationsgewißheit dar. Dabei liegen die Alternativen auf der Hand. In ganz Osteuropa ist das Potential regenerativer Energien groß. Gezeitenkraftwerke oder Windparks auf Land oder vor der Küste können kommerziell betrieben werden, wenn der Staat die systematische Bevorzugung der Atomkraft durch riesige Investitionszuschüsse aufgibt. Noch viel größer ist freilich das Energieeinsparpotential. Zusammengenommen entkräften diese Optionen, wie Felix C. Matthes argumentiert, die These, die Reduktion von Kohlendioxidemissionen zur Verlangsamung des Klimawandels und der Ausstieg aus der nuklearen Stromgewinnung seien unvereinbare Ziele. Dies anzuerkennen, ist die Verpflichtung von Tschernobyl.
Einigen Dörfern in Belarus widerfuhr 1986 ein Schicksal, das sie vier Jahrzehnte zuvor schon einmal durchgemacht hatten. 1944 wurden sie von deutschen Truppen dem Erdboden gleichgemacht. 1986 ließen die Leiter des sowjetischen Katastrophenmanagements sie in der Erde vergraben, um zu verhindern, daß Wind und Wasser die in hoher Konzentration auf diese Dörfer niedergegangenen Radionuklide verbreiten. Dies ist nur einer der zahlreichen Fäden der Verantwortung, die Deutschland mit Belarus und der Ukraine verbinden. Zu den größten Trägern der deutsch-belarussischen Partnerschaftsprojekte, die in der Folge der Katastrophe von Tschernobyl entstanden sind, gehört das Internationale Bildungs- und Begegnungszentrum (IBB) in Dortmund. Das IBB hat diesen Band großzügig unterstützt.

Inhaltsverzeichnis

Guillaume Grandazzi
Die Zukunft erinnern
Gedenken an Tschernobyl 7

Rückblick

Ales’ Adamovic
Nicht nur ein AKW
Ein Brief an Michail S. Gorbacev 19

Henadz’ Buraukin
Brahiner Frühling – 1986
Gedicht über Tschernobyl 24

Vasilij Nesterenko
Mauern der Ignoranz
Protokoll einer Katastrophe 27

Alla Jarosinskaja
Lüge-86
Die geheimen Tschernobyl-Dokumente 39

Intermezzo

Der Wodka sollte unsere Schilddrüsen reinigen . . .
Igor’ Kostin über seine Tschernobyl-Fotos 57

Christine Daum
Der Kriegsreporter und der Architekturfotograf
Die Tschernobyl-Fotos von Igor’ Kostin und Robert Polidori 63

Der Umgang mit der Katastrophe

Alfredo Pena-Vega
Leben in einer Welt der Verbote
Eine Vergangenheit, die nicht vergeht 71

Sebastian Pflugbeil
Alle Folgen liquidiert?
Die gesundheitlichen Auswirkungen von Tschernobyl 81

Astrid Sahm
Auf dem Weg in die transnationale Gesellschaft?
Belarus und die internationale Tschernobyl-Hilfe 105

David Marples
Diktatur statt Ökologie
Krisenmanagement in Lukasenkas Belarus? 117

Jochen Aulbach
Der Sarkophag
Schrotthülle oder Millionengrab? 131

Björn Slawik
Wunder oder Wahn?
Das AKW Leningrad und der rußländische Atomsektor 139

Atomenergie und ihre Alternativen

Lutz Mez
Auslaufmodell?
Die Zukunft der Atomenergie in der EU 155

Felix Christian Matthes
Atomenergie und Klimawandel
Eine Risikoabwägung 169

Petra Opitz
Strom aus erneuerbaren Energien
Stiefkind osteuropäischer Energiestrategien? 187

Adam N. Stulberg
Rußlands Nuklearsektor
Zentralisierung, Kontrolle, Wettbewerb 199

Robert G. Darst, Jane I. Dawson
Global denken, lokal endlagern?
Rußland und das Problem des Atommülls 221

Natalija Zorkaja
Strahlendes Desinteresse
Atomenergie in Rußlands Öffentlichkeit 235

Otfried Nassauer
Siamesische Zwillinge
Kernenergie und Kernwaffen 239

Guillaume Grandazzi
Die Zukunft erinnern
Gedenken an Tschernobyl
Tschernobyl hat das Wesen der Katastrophe verändert. Für Millionen von Menschen, die in den kontaminierten Gebieten leben, ist der Unfall der sichtbaren Gestalt des Geschehenen beraubt. Anders als nach dem Zweiten Weltkrieg ist es für die Menschheit unmöglich geworden, auf ein „Nie wieder!“ zurückzugreifen. Die Katastrophe ist in der Welt. Tschernobyl hat der Menschheit bewußt gemacht, was das Leben in der „Risikogesellschaft“ bringen kann. Die „Apokalypse-Blindheit“ des Menschen, die Günther Anders zu den wesentlichen Merkmalen des Atomzeitalters zählt, erschwert es, die Katastrophe zu verstehen und aus ihr zu lernen.

Ales’ Adamovic
Nicht nur ein AKW
Ein Brief an Michail S. Gorbacev
Der belarussische Schriftsteller Ales’ Adamovic kritisierte nach Tschernobyl die Verschleppungs- und Vertuschungspolitik der staatlichen Behörden. In seinem Brief an den damaligen Generalsekretär des ZK der KPdSU warnt er vor einer Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes. Die Tragik des Geschehens faßt er in die Worte: „Es ist nicht einfach nur ein Atomkraftwerk explodiert, sondern jener ganze Komplex von Verantwortungslosigkeit, Disziplinlosigkeit und Bürokratismus.“

Vasilij Nesterenko
Mauern der Ignoranz
Protokoll einer Katastrophe
Sofort nach dem Unglück in Tschernobyl erkannten Wissenschaftler die ungeheuren Gefahren für die Gesundheit der Menschen. Die Politiker agierten nach der Devise: „Nur keine Panik!“ Sie vertuschten das Ausmaß der Katastrophe, blockierten den Schutz. Erst die erdrückenden Beweise und öffentlicher Druck änderten dies. Nichtsdestotrotz wurden oppositionelle Wissenschaftler entlassen. Einige errichteten parallel zum staatlichen System ein öffentliches Netz lokaler Meßstellen zur Strahlenkontrolle. Vasilij Nesterenko, ein Protagonist der Entwicklung, berichtet aus erster Hand.

Alla Jarosinskaja
Lüge-86
Die geheimen Tschernobyl-Dokumente
Alla Jarosinskaja stieß bei ihrer Suche nach der Wahrheit über Tschernobyl auf geheime Dokumente, die eine massive Vertuschung durch die sowjetische Führung und eine gezielte Desinformationspolitik offenbaren. Wider besseres Wissen verharmloste die Staats- und Parteiführung das Ausmaß der Kontamination, schickte Menschen in die verstrahlten Gebiete zurück, brachte belastete Nahrungsmittel in Umlauf und bot dem Ausland ein beschönigtes Bild des Geschehens.

Der Wodka sollte unsere Schilddrüsen reinigen
Igor’ Kostin über seine Tschernobyl-Fotos
Igor’ Kostin machte die vermutlich einzig erhaltene Aufnahme des Unglücksreaktors in Tschernobyl aus der Nacht des Unfalls. Seitdem kehrt Kostin immer wieder nach Tschernobyl zurück, um das Geschehen und den Stillstand zu dokumentieren. Er war in den ersten Tagen nach der Havarie mit den Katastrophenhelfern auf dem Dach des Nachbarreaktors, er hat die Evakuierung der Menschen aus der 30-Kilometer-Zone dokumentiert und die sichtbaren und unsichtbaren Folgen der Kontaminierung eingefangen.

Alfredo Pena-Vega
Leben in einer Welt der Verbote
Eine Vergangenheit, die nicht vergeht
20 Jahre nach der Katastrophe von Tschernobyl befinden sich mehr als dreitausend Städte und Dörfer in Belarus in Zonen, in denen die radioaktive Kontamination ein Gesundheitsrisiko darstellt. Dies wird für viele weitere Jahre so bleiben. Doch die Gesundheitsprobleme sind nur die sichtbare Seite der „Post-Tschernobyl“-Ära. Das Ausmaß dieser Katastrophe ist so groß und so vielgestaltig, daß viele Menschen auch nach 20 Jahren noch nicht fähig sind, sich die wahren Dimensionen der Tragödie zu vergegenwärtigen. Das Leben hat sich in seiner biologischen, psychischen, sozialen und kulturellen Dimension verändert. Diese Veränderung ist ebenso unsichtbar wie die Strahlung, doch sie bleibt in jedem Wort, in jeder ängstlich angespannten Geste spürbar.

Sebastian Pflugbeil
Alle Folgen liquidiert?
Die gesundheitlichen Auswirkungen von Tschernobyl
20 Jahre nach der Katastrophe bemühen sich IAEA und WHO darum, Tschernobyl als Bagatellfall zu den Akten zu legen. „Kein Grund zur Beunruhigung“ ist ihr Resümee. Ärzte und Patienten in der Tschernobyl-Region sehen das ganz anders: Die Krebsrate hat deutlich zugenommen, Schilddrüsenerkrankungen häufen sich, die Säuglingssterblichkeit ist hochgeschnellt, genetische Schäden und Fehlbildungen nehmen zu. Am schlimmsten betroffen sind die sogenannten Liquidatoren und ihre Kinder. Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß dies auf die Strahlenbelastung infolge der Reaktorkatastrophe zurückzuführen ist.

Astrid Sahm
Auf dem Weg in die transnationale Gesellschaft?
Belarus und die internationale Tschernobyl-Hilfe
Die Katastrophe von Tschernobyl sichert Belarus ungeachtet der weitgehenden politischen Isolation des Landes auch 20 Jahre nach der Reaktorexplosion ein erstaunlich hohes Maß an internationaler Aufmerksamkeit und Unterstützung. Dabei wird in der internationalen Tschernobyl-Hilfe kein einheitlicher Ansatz verfolgt. Ebenso wie die Bewertung der Katastrophenfolgen unterschiedlich ausfällt, wird auch die Bedeutung der Hilfe für Belarus kontrovers diskutiert. Es stellt sich somit die Frage, ob die internationale Tschernobyl-Hilfe lediglich die Spaltung der belaruss ischen Gesellschaft reproduziert oder ob sie das Land auf dem Weg zur transnationalen Gesellschaft unterstützt.

David Marples
Diktatur statt Ökologie
Krisenmanagement in Lukasėnkas Belarus
Das Lukašėnka-Regime hat großes Interesse daran, die Nachwirkungen von Tschernobyl herunterzuspielen. Angesichts der kaum zu bewältigenden medizinischen und sozialen Probleme ist es für das Regime einfacher, die Folgen des Unfalls für überwunden zu erklären. Dies beugt auch Widerständen gegen den geplanten Bau eines Atomkraftwerks vor. Wissenschaftler, die Folgeschäden von Tschernobyl offenlegen, werden mundtot gemacht, da sie der Autorität des Diktators schaden. Diese wird paradoxerweise dadurch gestärkt, daß er sich den Opfern als starker Führer präsentiert und nostalgische Erinnerungen an die Sowjetzeit wachhält.

Jochen Aulbach
Der Sarkophag
Schrotthülle oder Millionengrab?
Nach der Katastrophe von Tschernobyl wurde 1986 in großer Eile und unter extremen Bedingungen ein Betonmantel über der Reaktorruine errichtet, um die Umwelt vor der Radioaktivität zu schützen. Sehr bald wurde deutlich, daß dieser Sarkophag ein Provisorium war und saniert werden müsse. Über die Finanzierung und die Abschaltung der Reaktoren in Tschernobyl entbrannte ein Streit zwischen der EU und der Ukraine. Erst 1997 beschlossen die EU und die G7 mit der ukrainischen Regierung den Bau eines neuen Schutzmantels. Doch das Kernproblem des Sarkophags ist nicht gelöst. Für die Entsorgung seines hochstrahlenden Inhalts gibt es bis heute keine Strategie.

Björn Slawik
Wunder oder Wahn?
Das AKW Leningrad und der rußländische Atomsektor
Zwanzig Jahre nach Tschernobyl verlängerte die rußländische Atomaufsichtsbehörde die Betriebsgenehmigung des AKW Leningrad. Damit bleiben die ältesten Reaktoren des Tschernobyl-Typs am Netz. Unweit von St. Petersburg war das AKW Leningrad Anfang der 1970er Jahre als erstes atomares Großkraftwerk der Sowjetunion errichtet worden. Das verantwortliche Ministerium verwirklichte es trotz Sicherheitsbedenken. Neben der Erzeugung von Elektrizität diente es wohl auch militärischen Zwecken. Das Kraftwerk ist ein repräsentatives Element des sowjetischen Atomsektors und illustriert die Kontinuität der Atompolitik in Rußland.

Lutz Mez
Auslaufmodell?
Die Zukunft der Atomenergie in der EU
Die EU-Staaten stehen unterschiedlich zur Atomenergie. Sieben Staaten nutzen sie, zwei haben ihre Reaktoren stillgelegt, sechs betreiben den Ausstieg. Die übrigen zehn haben keine Atomprogramme. Vermutungen, daß es nach der Osterweiterung der EU zu Standortverlagerungen von West nach Ost kommen würde, sind unbegründet. Aus Sicherheitsgründen werden acht Reaktoren stillgelegt. Die EU und westliche Geber stellen dafür über eine Milliarde Euro zur Verfügung. Gleichzeitig sollen eingemottete Atomkraftwerke fertiggestellt werden. Ein Reaktor ist in Bau, neue sind geplant. Wegen der Liberalisierung der Stromwirtschaft ist der Neubau von Atomkraftwerken kaum mehr zu finanzieren. Von einer Renaissance der Atomkraft in der EU kann keine Rede sein.

Felix Christian Matthes
Atomenergie und Klimawandel
Eine Risikoabwägung
Die Debatte über den Klimawandel hat die Atomenergie wieder hoffähig gemacht. Der Nutzen der Atomenergie wiegt die damit verbundenen Risiken jedoch nicht auf. Auch alternative Energieträger und effizienterer Energieeinsatz können die CO2-Emissionen verringern. Deshalb ist es möglich, gleichzeitig die globale Erwärmung aufzuhalten und aus der Atomenergie auszusteigen.

Petra Opitz
Strom aus erneuerbaren Energien
Stiefkind osteuropäischer Energiestrategien?
In Ostmittel- und Osteuropa gibt es große Potentiale erneuerbarer Energien. Sie werden nur zu einem Bruchteil genutzt. Das Erbe der Planwirtschaft – wie niedrige Energiepreise, Überkapazitäten in der Stromerzeugung und ein Denken in Großprojekten – erschwert die Nutzung. Vielfach gilt Kernenergie als High-tech, deren Beherrschung Prestige und Image sichert. Diesen symbolischen Wert genießen erneuerbare Energieträger in Osteuropa nicht. Es mangelt an Bewußtsein, daß erneuerbare Energien die Abhängigkeit von fossilen Rohstoffen reduzieren, die Versorgungssicherheit erhöhen und positive Arbeitsmarkteffekte haben. Der EU-Beitritt hat in Ostmitteleuropa die Rahmenbedingungen erheblich verbessert, um erneuerbare Energien intensiver als bisher zu nutzen.

Adam N. Stulberg
Rußlands Nuklearsektor
Zentralisierung, Kontrolle, Wettbewerb
Tschernobyl, die Auflösung der UdSSR und der wirtschaftliche Niedergang in den 1990er Jahren führten zu einem Niedergang des Nuklearsektors in Rußland. Nach widersprüchlichen Reformen unter El’cin versucht das Putin-Regime, die Branche wieder zu zentralisieren, um die nationale und internationale Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen. Ziel ist es, den Nuklearkomplex neben dem Gas- und Ölsektor zu einem Pfeiler zu machen, auf dem die angestrebte „Energiegroßmacht“ Rußland basieren soll. Doch eine neoinstitutionalistische Analyse zeigt: Die Zentralisierung führt zu Steuerungsverlusten. Diese begrenzen die Chancen, daß der Nuklearsektor eine strategische Bedeutung gewinnen kann.

Robert G. Darst, Jane I. Dawson
Global denken, lokal endlagern?
Rußland und das Problem des Atommülls

Im Juni 2004 ging Rußland mit dem Vorschlag an die Öffentlichkeit, ein Endlager für Atomabfälle aus der ganzen Welt zu errichten. Technisch und sicherheitspolitisch wäre ein zentrales Endlager wünschenswert. Doch ob Rußland die nötigen Sicherheitsstandards erfüllt, das radioaktive Material umweltverträglich lagern und gegen Mißbrauch und terroristische Angriffe schützen kann, ist fraglich. Auch sind moralische Zweifel angebracht, da Rußlands Regierung den Widerstand der Bevölkerung gegen ein solches Endlager bisher ignoriert. Je stärker Rußland bereit ist, mit der internationalen Gemeinschaft zusammenzuarbeiten, desto eher lassen sich diese Defizite ausgleichen.

Natalija Zorkaja
Strahlendes Desinteresse
Atomenergie in Rußlands Öffentlichkeit
Die Haltung der rußländischen Öffentlichkeit zu Tschernobyl ist widersprüchlich und paradox. Für fast die Hälfte der Menschen ist der Jahrestag der Katastrophe einer der wichtigsten Gedenktage 2006. Gleichzeitig nennt auf die Frage nach den bedeutendsten Ereignissen des 20. Jahrhunderts nicht einmal ein Zehntel Tschernobyl. Das Ereignis ist ins Unterbewußtsein abgeglitten, in dem es sich mit diffusen Ängsten vor einem neuen Atomunfall und radioaktiver Verstrahlung mischt. Eine echte Aufarbeitung hat nicht stattgefunden, und die Medien bieten statt einer tiefgehenden Analyse platte Katastrophenszenarien.

Otfried Nassauer
Siamesische Zwillinge
Kernenergie und Kernwaffen
Die Welt verbraucht immer mehr Energie. Öl und Gas sind endliche Ressourcen. Die Kernenergie steht möglicherweise vor einer Renaissance. Doch die zivile Nutzung der Kernenergie ist technologisch janusköpfig. Sie kann militärischen Zwecken dienen und zur Verbreitung von Kernwaffen führen. Mit dieser Proliferation sind große sicherheitspolitische Risiken verbunden. Das globale Nichtverbreitungssystem von Kernwaffen steckt in einer Krise. Zwischen dem Versuch, die nukleare Bewaffnung weiterer Staaten zu verhindern und die Nutzung der zivilen Kerntechnik auszubauen, gibt es einen unlösbaren Widerspruch.

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