Megastädte Das Jahr 2007, so schreibt die Direktorin von UN-HABITAT, Anna Tibaijuka, in dieser Ausgabe, wird für die Menschheit eine große historische Zäsur markieren: Nach Berechnungen des Siedlungsprogramms der Vereinten Nationen wird dann erstmals in der Geschichte des Homo sapiens sapiens die Hälfte aller Erdbewohner in Städten leben. Bis zur Mitte des Jahrhunderts dürfte das nach wissenschaftlichen Prognosen sogar für zwei Drittel der Weltbevölkerung zutreffen. Vor allem in Asien und Afrika werden Megastädte – nach der UN-Definition Städte mit mehr als zehn Millionen Einwohnern – und sogar Hyperstädte, Agglomerationen von 20, 30 und mehr Millionen Menschen, wuchern: meist Quadratkilometer um Quadratkilometer von Slums. Sind solche Gebilde noch regierbar? Können sie ihre sozialen, sanitären, ihre Umwelt-, Müll-, Verkehrs- und Versorgungsprobleme noch lösen? Oder anders gefragt: Wächst dort die Wut auf den reichen Teil der Welt, dessen eigene Megastädte immer mehr zu den Knotenpunkten des Globalisierungsnetzes werden, mächtigen Wirtschafts- und Handelszentren, deren Bedeutung die der Nationalstaaten womöglich schon übersteigt? In den Städten wird sich unsere Zukunft entscheiden. „Wir müssen die Stadt des 21. Jahrhunderts neu erfinden“, fordert Wolfgang Nowak, Sprecher der Geschäftsführung der Alfred Herrhausen Gesellschaft für internationalen Dialog, in dieser IP. Die Herrhausen Stiftung untersucht – gemeinsam mit der London School of Economics und einem internationalen Expertenteam – seit zwei Jahren Lage und Zukunft der Metropolen zu Beginn des neuen Jahrtausends. Unter dem Titel „Urban Age“ haben Konferenzen in New York, Schanghai, London, Mexico City, Halle und Johannesburg stattgefunden; daraus hat sich ein grenzüberschreitendes Netzwerk von Wissenschaftlern, Architekten und Stadtplanern entwickelt, die an Zukunftskonzepten für die Städte von morgen arbeiten. Am 10. und 11. November wird in Berlin ein „Urban Age Summit“ veranstaltet, auf dem die Ergebnisse der Konferenzreihe vorgestellt werden. Die IP präsentiert einige wesentliche Beiträge zum Thema. Sabine Rosenbladt, Chefredakteurin
Inhalt
Megastädte 6 Wolfgang Nowak Am Anfang war die Stadt Ausgerechnet die wachsenden Megastädte bedeuten den Niedergang urbaner Kultur
Manche Städte und manche Stadtteile wirken schon heute wie sich selbst erfüllende Prophezeiungen eines Niedergangs der Stadt in immer größer werdenden Agglomerationen. Deshalb gilt es, die Stadt des 21. Jahrhunderts neu zu erfinden – damit sie der Motor der menschlichen Entwicklung bleibt und nicht zu ihrem Endpunkt wird.
9 Anna Tibaijuka Schwierige neue Welt Düstere Prognosen: Fast ein Drittel der Menschheit wird bald in Slums leben
Wie der jüngste UN-HABITAT-Report zeigt, entwickeln sich vor allem in Asien und Afrika Agglomerationen so gigantischen Ausmaßes, dass sie den Namen „Hyperstädte“ verdienen. Diese riesigen urbanen Knotenpunkte mit ihren von Millionen Menschen besiedelten Slums regier- und bewohnbar zu machen, ist die Herausforderung des 21. Jahrhunderts. 18 Frauke Kraas und Ulrich Nitschke Megastädte als Motoren globalen Wandels Die Welt wird Stadt: neue Herausförderungen der Globalisierung
Die Welt wird Stadt, die Stadt wird zur Welt: Als wirtschaftliche Knotenpunkte, politische Steuerungszentralen und Anziehungspunkte von Millionen wachsen die Megastädte zu mächtigen Akteuren heran, die dem globalen Wandel unterliegen wie ihn bestimmen – mit Auswirkungen, noch grösser als denen der industriellen Revolution. 30 Josef Ackermann Stadt contra Staat – eine neue Hierarchie? Urbane Ballungsräume sind noch keine eigenständigen internationalen Akteure
Die Urbanisierung der Welt schreitet unaufhaltsam voran: Überall entstehen immer gewaltigere Agglomerationsräume, bereits die Hälfte der Menschheit lebt heute in Metropolen und städtischen Ballungszentren. Die Wirtschaftskraft solcher Zentren liegt deutlich über der mancher Nationalstaaten. Damit wächst auch ihr politisches Gewicht. Das macht sie jedoch noch nicht zu eigenständigen internationalen Akteuren.
38 Gunnar Folke Schuppert Rivalität und Symbiose Sind Städte und Nationalstaaten koexistierende oder konkurrierende Governancezentren?
Mittelalterliche Städtebünde wie die Hanse oder Stadtstaaten wie Venedig waren schon dank ihrer Funktion als Finanz- und Handelszentren zugleich auch Governancezentren mit ausgeprägten Ordnungsfunktionen. In heutigen Metropolregionen verdichten sich die Governanceprobleme moderner Gesellschaften wie unter einem Brennglas. 44 Xiangming Chen Fragile Balance Chinas boomende Städte fordern den kommunistisch regierten Zentralstaat heraus
Seit den achtziger Jahren wurden etliche chinesische Städte zu Sonderwirtschaftszonen mit weitgehenden Autonomierechten erklärt. Der heutige wirtschaftliche Aufstieg Chinas beruht weitgehend auf diesem Erfolgsmodell. Doch die neu gewonnene Macht der Städte und Regionen stellt die Regierung in Peking vor Legitimationsprobleme.
50 Deyan Sudjic Laboratorien des Postnationalismus Der multiethnische Kosmopolitismus der Megastädte ist wegweisend für die Menschheit
Megastädte sind mehr als gigantische Verdichtungsräume: Sie spielen eine äußerst komplexe Rolle in der vernetzten Welt der Globalisierung. Diese hochspezialisierten Wirtschaftszentren beziehen ihre Vitalität, ihre Innovationskraft und ihre intellektuelle Potenz aus ihrer Heterogenität – im Gegensatz zu Nationalstaaten. Städte sind älter, aber „moderner“.
Internationale Politik 58 INTERVENTIONEN Friedensexport oder Feuerwehreinsätze? von Michael Brzoska Für künftige Friedensmissionen müssen neue Konzepte erarbeitet werden
Zahlreiche Friedensmissionen der letzten Jahre haben bewaffnete Konflikte und Kriege durchaus erfolgreich beenden können. Aber dieser Erfolg war oft nicht von Dauer. Wie sieht die Zukunft aus, wenn nicht unbegrenzt weitere Mittel für solche Einsätze zur Verfügung stehen? Neue Ansätze der Friedenskonsolidierung sind gefragt.
68 KONGO „Freiwillige vor!“ von Peter Schmidt Führungsrolle wider Willen: Die Bundeswehr und ihr Einsatz im Kongo
Nach großem Zögern schickte der Bundestag im Juli Truppen in den Kongo und beugte sich damit dem Druck der Partnerländer. Doch wirft die zuvor auf EU-Ebene ausgehandelte Entscheidung Fragen nach dem Ob und Wie künftiger Kriseneinsätze auf – und erfordert von deutscher Seite die rechtzeitige Abwägung nationaler Interessen und Lasten. 78 AFRIKA-INITIATIVE Deutschland: ratlos in Afrika von Peter Molt EU und G-8 wollen sich stärker in Afrika engagieren - welche Rolle spielt Deutschland dabei?
Ob die Afrika-Initiative der G-8 und die neue Afrika-Strategie der EU deutschen Interessen dienen, ist unklar. Doch kann Deutschland die Chance nutzen, dass es in Afrika nicht – wie Frankreich, Großbritannien oder die USA – partikulare Interessen vertritt; und es kann über zivilgesellschaftliche Kontakte Stabilität und Demokratisierung fördern.
90 MIGRATION UND BILDUNG Integration ist Integration ist Integration von Britta Schellenberg Deutschlands Einwanderungs- und Integrationspolitik ist dramatisch gescheitert
Schüler mit Migrationshintergrund erbringen deutlich schlechtere Leistungen als ihre deutschen Altersgenossen. Die Politik muss endlich umfassende Maßnahmen ergreifen, vor allem im Grund- und Hauptschulbereich, damit Eingliederung in Berufswelt und Gesellschaft besser gelingen und Bildung kein Privileg der Bessergestellten bleibt.
100 BIOWAFFEN Die Zukunft des B-Waffen-Verbots von Sascha Lange und Oliver Thränert Die EU muss die Vorreiterrolle bei der Stärkung des Biowaffen-Verbots spielen
Obwohl vor allem die Biotechnologie in den vergangenen Jahren enorme Fortschritte gemacht hat und die Herstellung ganz neuer Biowaffen droht, steht die Stärkung des B-Waffen-Verbots nicht vorn auf der Agenda der USA und anderer Vertragsstaaten. Daher muss die Europäische Union die Rolle des Vorreiters übernehmen.
108 NATO-GIPFEL IN RIGA Mehr Hügelkuppe als Gipfel von Michael Rühle Die Relevanz der NATO bemisst sich allein an ihrer Leistungsfähigkeit
Der erste NATO-Gipfel in einem ehemals sowjetischen Land wird sich operativen Fragen widmen und keine spektakulären öffentlichen Höhepunkte produzieren. Aber angesichts ihrer wachsenden Aufgabenlast wird vor allem die operative Leistungsfähigkeit der Allianz in konkreten Einsätzen über die Zukunftsfähigkeit des Bündnisses entscheiden.
116 JAPAN Kontinuität im Wechsel von Heinrich Kreft Nach den Wahlen: Das alternde Land steht vor ähnlichen Problemen wie Deutschland
POLENBILDER Europa oder Kaczy?ski? von Basil Kerski Polens Intellektuelle definieren die Wertegrundlagen für Europa und die eigene Nation
128 BUCHKRITIK von Klaus Voll, Martin Riexinger und Ingo Way Hindu-Nationalismus und Wissensrevolution Außerdem: das „Dritte Reich“ in Arabien und die Geschichte des Neokonservatismus
Kolumnen 56 WERKSTATT DEUTSCHLAND von Paul Nolte ... und die deutschen Städte? Urbane Dynamik fehlt im Land der Kleinstädte und Fußgängerzonen
88 ÖKONOMIE von Birger P. Priddat Ressource Aufmerksamkeit Die Massenmedien betreiben Politik ohne Machtausübung
98 KULTUR von Lorenz Jäger Deutschland ohne „Wallenstein“ Das politische Theater in Deutschland ist nur an der Oberfläche politisch
122 TECHNOLOGIE von Tom Schimmeck Späte Vernunft – made in China Dongtan bei Schanghai ist das Modell für die Öko-Stadt der Zukunft Service 04 Rückschau / IP-Frage 136 Dokumentation (und www) 138 Leserforum 141 Hinweis in eigener Sache: Das neue Angebot im Internet 142 Impressum 144 Vorschau www Nachwuchsforum, Veranstaltungskalender