Zukunftsfragen
Einen „erschreckenden Mangel an politischer Führung“ hat der scheidende UN-Generalsekretär Kofi Annan den Staats- und Regierungschefs der Welt vorgeworfen. Auf dem UN-Klimagipfel Mitte November in Nairobi forderte er sogar, Politiker, die den Klimawandel nicht ernst nähmen, dürften nicht wiedergewählt werden; denn die Erderwärmung sei kein Umweltthema mehr – sprich ein Thema, das auf den Agenden gewöhnlich unter „ferner liefen“ abgehandelt wird – sondern eine allumfassende Gefahr. Sie verursache nicht nur Milliardenschäden, sondern bedrohe auch die Lebensgrundlagen vieler Menschen – und damit den Frieden und die Sicherheit der Welt. Wie zukunftsfähig ist die Politik? „Wir stehen“, schreibt der Physiker, Sozio-loge und Zukunftswissenschaftler Rolf Kreibich in dieser IP, „vor dem grundlegenden Paradoxon, dass die meisten Strategieplaner, Konzeptentwickler und Entscheider in Politik und Wirtschaft zwar davon reden, dass unsere Welt von den Zukunftsfragen Globalisierung und Langfristtrends entscheidend geprägt wird, dass sie aber in ihren realen Programmen und Handlungen darauf keine Antwort geben“. Zukunftsforschung ist hierzulande – anders als in den USA – wissenschaftlich noch ein Randgebiet: In Deutschland, so Kreibich, stehen den rund 2800 Einrichtungen, die sich mit der Vergangenheit beschäftigen, nur acht bis zehn Institute für Zukunftsstudien gegenüber. Doch je komplexer die Phänomene werden, je rasanter die Welt sich wandelt, desto dringlicher wird die interdisziplinäre Beschäftigung mit diesem Gebiet: „Deutlich ist, dass einzelne Wissenschaftler oder auch Fachdisziplinen kaum dazu in der Lage sind, umfassende Bilder von möglichen Zukünften zu entwickeln“, urteilt Eckart Minx, der Leiter der Society and Technology Research Group der DaimlerChrysler AG, in dieser IP. Die umfeldbezogene Zukunftsforschung, so Minx und sein Koautor Ewald Böhlke, „sucht nicht anzugeben, wie Realitäten aussehen sollten, sondern wie sie werden könnten. Erst auf dieser Basis ist die Umsetzung von Strategien der Zukunftsgestaltung möglich.“
SABINE ROSENBLADT | CHEFREDAKTEURIN
Zukunftsfragen 6 Rolf Kreibich Denn sie tun nicht, was sie wissen Die Herausforderungen der Zukunft sind bekannt – handeln tun wir nicht danach Klimawandel und Ressourcenraubbau, Globalisierung und Migration: Bereits heute greifen die Megatrends des globalen Wandels tief in alle Lebensbereiche ein. Doch je existenzieller die Probleme, umso kurzatmiger die Politik – die wissenschaftliche Betrachtung zukünftiger Folgen dieser Trends ist unabdingbar für ihre Bewältigung.
14 Eckard Minx und Ewald Böhlke Denken in alternativen Zukünften Szenarien, interdisziplinär erarbeitet, können aussagekräftige Modelle liefern Wissenschaft, Wirtschaft und Politik müssen sich den komplexen Phänomenen, die mit den gewaltigen gesellschaftlichen und staatlichen Umbrüchen unserer Zeit einhergehen, analytisch stellen. Eine Methode, das zu tun, ist die interdisziplinäre Szenarien-Technik. Mit ihrer Hilfe lässt sich die Pluralität möglicher Zukünfte „neu denken“
24 Rudolf Adam Demographie und Sicherheit Acht Thesen zur künftigen Beziehung von Bevölkerungsentwicklung und Sicherheitspolitik Wer in die Zukunft schauen will, ist gut beraten, mit Bevölkerungsentwicklungen zu beginnen. Denn demographische Prognosen gehören zu den wenigen relativ gut gesicherten Annahmen. Und wer strategisch denkt, muss versuchen, sich rechtzeitig auf absehbare Entwicklungen einzustellen – vor allem auf dem Gebiet der Sicherheitspolitik.
34 Jan Techau Für eine realistische Europa-Debatte Wunsch und Wirklichkeit: Deutschlands EU-Bild ist apolitisch und realitätsfremd 16 Jahre nach Erlangung der vollen staatlichen Souveränität zeigt die außenpolitische Debatte der Bundesrepublik vor allem eines: die fundamentale Unreife der öffentlichen Auseinandersetzung über die zentralen Herausforderungen der nächsten Jahre. Diese manifestiert sich besonders in der unrealistischen Diskussion um die deutsche Europa-Politik.
40 Josef Braml UN-engagiertes Amerika? Washington denkt unverblümt über Alternativen zu den Vereinten Nationen nach Zwei zentrale Fragen beschäftigen politische Beobachter in Europa: Führen das außen-politische Debakel im Irak und die zunehmende innenpolitische Kritik in den USA zu einer grundlegenden Neubewertung des internationalen Engagements der Weltmacht? In welcher Form wird Amerika künftig global agieren? Spielen die Vereinten Nationen eine Rolle in der zu erwartenden amerikanischen Außenpolitik?
48 Angel Gurría Herausforderung Klimawandel Wie weiter nach Kyoto? Der OECD-Generalsekretär fordert neue internationale Initiativen Die globale Erwärmung stoppen – dies ist eine der wichtigsten und dringendsten Zukunftsaufgaben. Dazu bedarf es internationaler Abstimmung und Zusammenarbeit einerseits, nationaler Anpassung und Reformen andererseits. Niemand, fordert der Generalsekretär der OECD in diesem Beitrag, darf sich der Verantwortung entziehen.
54 Jürgen Hogrefe und Hans Rüdiger Lange Planwirtschaft für den Planeten In China entwickelt der Energieversorger EnBW das Modell einer energieeffizienten Zukunftsstadt Schicksalsfrage Klima, Schicksalsfrage -Energie: Nirgendwo deutlicher als in den rasant wachsenden Städten entscheidet sich die Zukunft der Erde. Doch wie nachhaltige Metropolen bauen? Der deutsche Energieversorger EnBW entwickelt eine Methode für die Planung der energieeffizienten Zukunftsstadt – mit erstem Beispiel im chinesischen Synia.
60 Kai-Uwe Schrogl Forschungs- und Technologiepolitik in der Globalisierung Der harte Wettbewerb um Weltmarktführerschaften braucht internationale Regeln Es gibt heute kaum noch ein Industrie- oder Schwellenland, das sich nicht das Ziel gesetzt hätte, in Technologie und Forschung zur Weltspitze zu gehören. Der globale Wettbewerb auf diesem Feld nimmt daher ständig zu. Wer die Zukunftsmärkte beherrschen will, muss mithalten können. Aber verbindliche internationale Regeln dafür fehlen bisher.
70 Ulf Gartzke und Sven Olaf Berggötz Machtfaktor Biotech Verliert Europa den Anschluss an eine der Schlüsseltechnologien des 21. Jahrhunderts? Die weitere Entwicklung der Biotech--Industrie zählt zu den wichtigsten Zukunftsfragen des 21. Jahrhunderts. Aus medizinischer, wirtschaftlicher, politischer und ethischer Sicht steht dabei viel auf dem Spiel. Vor allem die Stammzellenforschung ist eine moralische Frage geblieben, die in den USA wie hierzulande die Gemüter erhitzt.
Internationale Politik 82 USA Zittersieg statt Triumph von Patrick Keller Trotz Mehrheit im Kongress: Der Demokratischen Partei fehlt ein klares Programm In Senat und Repräsentantenhaus haben sie die Mehrheit gewonnen – aber dennoch war der Sieg der demokratischen Partei bei den Zwischenwahlen nicht mit der „Gingrich Revolution“ von 1994 zu vergleichen, als die Republikaner triumphal beide Häuser eroberten. Den Demokraten fehlt ein klares Programm; ihre Stärke war Bushs Schwäche.
90 AUSLANDSEINSÄTZE Gefährliches Desinteresse von Peter Müller Eine Debatte über Sinn und Unsinn der Bundeswehrmissionen ist überfällig Die Bundeswehr macht Schlagzeilen. Doch sind es eher die Fehltritte des Ministers und die Skandalbilder mit Totenschädel, die das Interesse an der Armee wecken als ihre Leistungen bei den zum Teil schwierigen Missionen im Ausland. Keine Partei will der Bevölkerung eine ehrliche Debatte über die Risiken der Auslandseinsätze zumuten.
96 UN-GENERALSEKRETÄR Sisyphos am East River von Thorsten Benner Abschied nach zehn Jahren: Was bleibt von der Ära Kofi Annan? Der Weltlotse geht nach zehn Jahren von Bord – zum -Jahresende übergibt UN-Generalsekretär Kofi Annan den Stab an Ban Ki Moon. Es war eine Amtszeit der Extreme: Den Höhen von Friedensnobelpreis und diploma-tischem Rockstarstatus folgten die Tiefen der Skandale um die UN-Bürokratie. Was bleibt?
106 AMERIKABILDER Der Kulturkampf ist beendet von Tim B. Müller Kissinger berät Bush, Bush opfert Rumsfeld: Politischer Herbst in Washington
111 IP-BÜCHERSCHAU Die wichtigsten außenpolitischen Neuerscheinungen rezensiert von Stephan Bierling, Andreas Eckert, Erich Weede, Jörg Baberowski, Hanns W. Maull, Constanze Stelzenmüller und Joseph Croitoru
Kolumnen 80 WERKSTATT DEUTSCHLAND von Manfred Güllner Politik ohne Personal Die Spitzenpolitiker der Großen Koalition sind verantwortlich für deren Vertrauensverlust
88 ÖKONOMIE von Norbert Walter Immobilienpreise und Konjunktur Profitiert bald auch Deutschland von steigenden Wohnungspreisen?
94 KULTUR von Mathias Greffrath Bedingungslose Kapitulation Wider die jüngsten Versuche, Europas Armen ihre Erwerbslosigkeit zu versüßen
104 TECHNOLOGIE von Tom Schimmeck Totgesagte sterben länger Zurück in die Zukunft: Das „Atomzeitalter“ wurde weniger rosig als erträumt
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