Balkan-BluesEuropas ungelernte Lektionen
Die Stimmung ist trübe. Seit 15 Jahren seien die Nachrichten vom Balkan „unverändert“, schreibt die bulgarische Wissenschaftlerin Vessela Tcherneva in dieser IP: „Die Wirtschaft entwickelt sich nicht, nationalistisch orientierte Politiker kontrollieren die Machtstrukturen, die ethnischen Rivalitäten werden in der Alltagspolitik instrumentalisiert.“ Sie fügt hinzu: „Statt einer Europäisierung des Balkans beobachten wir gegenwärtig eher eine Balkanisierung Europas, wo die Politik von nationalstaatlichen Überlegungen bestimmt ist und die Vision eines gemeinsamen europäischen Projekts verdrängt wird von Ängsten vor einer sich verschlechternden Wirtschaft und sozialen Zukunft Europas.“ Nach dem blutigen Zerfall Jugoslawiens hat die Europäische Union sich viel Verantwortung aufgebürdet für den Balkan. Und sie hat auf ihrem Gipfel in Thessaloniki 2003 allen Staaten der Region die Beitrittsperspektive eröffnet – den erfahrungsgemäß stärksten Transformationsmotor, den sie zu bieten hat. Aber dieser Prozess ist ins Stocken geraten. Slowenien, Rumänien und Bulgarien sind EU- und NATO-Mitglieder, Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Mazedonien, Montenegro, Serbien und Kosovo noch nicht. Für die 24 Millionen Bürger dieser Länder (weniger als fünf Prozent aller EU-Bürger) wird die Zukunft immer undurchsichtiger, ihre Isolation wächst. Jugendliche aus dieser Region können nicht überall visafrei in Europa reisen, sie können kaum Erfahrungen mit moderner Demokratie sammeln; sie sind schockiert, wenn zum Beispiel Mazedonien auf dem NATO-Gipfel im April in Bukarest die versprochene Mitgliedschaft verweigert wird, nur weil NATO- und EU-Mitglied Griechenland wegen eines absurden Namensstreits sein Veto einlegt. Was macht die EU auf dem Balkan? Mit Unterstützung der Robert Bosch Stiftung, die dort in vielen Projekten engagiert ist, zeichnet diese IP ein Bild der Lage und stellt die europäische Balkan-Politik auf den Prüfstand. Das Urteil der Autorinnen und Autoren ist hart: „widersprüchlich“, „konfus“, „verwirrende Vielzahl an Programmen und Projektlinien“, „drohendes Desaster im Kosovo“. Die EU-Balkan-Politik muss stärker durchdacht, stärker koordiniert und kohärenter werden. Und, vor allem: Der ganze Balkan gehört als Teil Europas in die EU.
SABINE ROSENBLADT | CHEFREDAKTEURIN
INHALTSVERZEICHNIS
Balkan-Blues:
Europas ungelernte Lektionen
Slavenka DrakulicWarum ich nie mehr in Belgrad warFlucht aus der Vergangenheit? Ein Essay über die Pflicht zum Fragen Die Kriege auf dem Balkan haben Wunden in den Seelen der Menschen hinterlassen. Was ist aus den Feinden von einst geworden, was aus den Freunden? Welche Rolle spielen die Nachgeborenen, haben sie wirklich nichts mit der Vergangenheit zu tun? Auf Spurensuche in einer zerrissenen Region. S. 8
Christoph ZöpelAlle rasch aufnehmen!Ein zügiger EU-Beitritt der östlichen Adria-Anrainer liegt in Europas Interesse S. 15
Vessela TchernevaKoloniale ZwickmühleWarum der Aufbruch der Balkan-Länder Richtung EU ins Stocken geraten ist Nach der Euphorie des Gipfels von Thessaloniki 2003 ist der hoffnungsvolle Aufbruch der Balkan-Länder in Richtung Europäische Union ins Stocken geraten. Europa muss jetzt seine strategischen Ziele neu abwägen – und es muss realisieren, dass die Krise seiner Politik der Soft Power auf dem Balkan eine Krise des europäischen Projekts an sich ist. S. 18
Marie-Janine CalicDas ewige LaboratoriumDie Politik der Europäischen Union auf dem Balkan: Eine Evaluierung Seit dem Zerfall Jugoslawiens ist die EU nolens volens zum Kurator, Oberaufseher und Ordnungshüter des Balkans geworden – eine Rolle, die sie so bald nicht loswerden wird. Aber macht sie ihre Sache gut? Hat sie eine erkennbare Gesamtstrategie? Zwischen Anspruch und Wirklichkeit klafft eine erhebliche Lücke. S. 24
Alan PosenerRom – Byzanz – Istanbul – Wien – BrüsselÜber 2000 Jahre haben Imperien den Balkan regiert – ein Vorbild für die EU Die „Europäisierung“ des Balkans im 19. Jahrhundert brachte keineswegs Fortschritt, sondern Kleinstaaterei, Rassen-Nationalismus und Zersplitterung. Ein Blick in die Geschichte der Region zeigt, dass es in zurückliegenden Epochen weitaus intelligentere Governance-Modelle gab. Von diesen Strukturen kann das „Imperium“ EU heute viel lernen. S. 32
Andreas ErnstKrampf ums KosovoDer Plan von UN und EU garantiert dem neuen Staat noch keine Perspektive Trotz ihrer Loslösung von Belgrad erfahren die Kosovaren, dass andere über ihren Staat bestimmen: Serbien, das weiter Teile des Territoriums kontrolliert, die Westmächte, die in Pristina regieren. Doch die Entschärfung des Konflikts drängt, um dem Balkan Stabilität zu bringen – durch Anerkennung der faktischen Teilung Kosovos, durch Rückführung des Protektorats. S. 37
Interview mit Goran Svilanovic»Die Serben haben Europa gewählt«Warum Serbien schnellstmöglich der NATO beitreten sollte Nationalismus, soziale Ungleichheit, ethnische Konflikte: Serbien gilt noch immer als Sorgenkind auf dem Balkan. Doch die Wahlen im Mai gewannen überraschenderweise die gemäßigten Pro-Europäer. Wie die EU dazu entscheidend beigetragen hat und warum Serbien schnellstmöglich der NATO beitreten sollte, erklärt einer der führenden Demokraten des Landes. S. 44
Oliver IvanovicGedankenlose NeuordnungVerantwortung ohne Expertise: Die inter-nationale Gemeinschaft auf dem Balkan Seit dem blutigen Zerfall Jugoslawiens sind auf dem Balkan Tausende von Kilometern neuer Grenzen entstanden. Sie trennen fragile Gebilde voneinander, die sich auf die konfusen Aktivitäten der internationalen Gemeinschaft in der Region ihren eigenen Reim machen. Doch ohne kritische Aufarbeitung der Vergangenheit wird der Balkan nicht prosperieren. S. 49
Edward P. JosephDen nächsten Balkan-Krieg verhindernDer Konflikt zwischen Griechenland und Mazedonien ist ein multilaterales Problem Der 17 Jahre alte Streit um Mazedoniens Staatsnamen hat eine neue Dimension erreicht. Griechenlands erfolgreiche Bemühungen, Skopjes Eintritt in die NATO zu verhindern, haben in beiden Ländern nationalistische Tendenzen angeheizt. Jetzt steht mehr auf dem Spiel als nur ein Name. Deshalb muss schnellstens ein Kompromiss gefunden werden. S. 54
Daniel HamiltonMomente der EntscheidungTrotz aller Fehlschläge bleiben die USA für den Aufbau der Balkan-Staaten wichtig Trotz einiger Fehlschläge haben die USA in den vergangenen 15 Jahren auf dem Balkan eine wichtige Rolle gespielt: Drei Mal haben sie entscheidend eingegriffen – und damit gezeigt, dass sie auch nach dem Kalten Krieg noch eine „europäische Macht“ sind. Heute unterstützt Washington die zügige Integration des gesamten Balkans in EU und NATO. S. 62
Elizabeth PondClio auf dem BalkanWie Geschichtsbücher den Weg zur Versöhnung in Südosteuropa ebnen Bisher war die Geschichte auf dem Balkan eher ein trennendes denn ein versöhnendes Element. Eine Gruppe von Historikern aus der Region will das jetzt ändern. Durch neue, gemeinsam produzierte Geschichtsbücher möchte man an die Stelle nationalistischer Geschichtsklitterung die Erziehung zu Verständnis und Toleranz setzen. S. 68
Sandra BrekaWas denkt die Jugend?Zwischen Union und Isolation: Stimmen aus Mazedonien, Serbien, dem Kosovo Jugendliche in den Nicht-EU-Ländern auf dem Balkan fühlen sich zunehmend isoliert, ausgegrenzt und abgeschnitten vom Rest des Kontinents. Da sie nicht reisen dürfen, können sie auch keine Erfahrungen mit moderner Demokratie in der Europäischen Union sammeln – eine fatale Entwicklung, die den Integrationsprozess der gesamten Region beschädigt. S. 72
Internationale Politik
Debatte | J. Varwick & M. StaackKommt Zeit, kommt Rat?Deutschland streitet über die Einrichtung eines Nationalen Sicherheitsrats Mit der Forderung nach einer Sicherheitsstrategie in der letzten Ausgabe der IP entfachte die CDU/CSU eine Debatte über die Ausgestaltung deutscher Sicherheitspolitik. Ein Kernpunkt: die Forderung nach einem Nationalen Sicherheitsrat, der besonders bei der SPD auf Widerstand stößt. Doch was ist Parteitaktik, was ernsthafter Diskurs? Nach der Politik kommt nun die Wissenschaft zu Wort – und führt die Kontroverse weiter. S. 80
Frankreich | Ulrike Guérot Ruppige GallierIm Streit offenbart sich die wahre Stärke des deutsch-französischen TandemsIm zweiten Halbjahr 2008 wird Frankreich die EU-Ratspräsidentschaft übernehmen. Was steht uns also bevor? Präsident Nicolas Sarkozy hat ein wildes Feuerwerk neuer Initiativen gestartet, garniert mit mancher Nebelkerze. Berlin rümpfte die Nase. Aber im Krach offenbart sich traditionell die wahre Stärke des deutsch-französischen Tandems. S. 84
Libanon | Maximilian FelschNach dem Krieg ist vor dem Krieg?Die Parallelen zur Lage vor 1975 sind deutlich zu erkennen In den letzten 18 Monaten hat der Libanon seine schwerste Staatskrise seit dem Ende des Bürgerkriegs durchlebt. Bei Vermittlungsbemühungen in Doha wurde zwar eine Einigung erreicht, aber damit sind die Probleme nur scheinbar gelöst. Zusätzlich bedrohen die Einflussnahme von außen, u.a. von Syrien und dem Iran, die Sicherheit und Souveränität. S. 92
Nukleare Bedrohung | Joseph CroitoruWillkommen im ClubIn Nahost formiert sich eine Phalanx von potenziellen neuen Atommächten Immer mehr arabische Staaten streben offen ein eigenes Nuklearprogramm an. Manche von ihnen verweisen aus taktischen Gründen auf die atomaren Aspirationen der aufstrebenden Regionalmacht Iran – man nutzt die Gunst der Stunde, um im Westen Forderungen durchzusetzen, die sonst wohl noch Jahrzehnte ungehört verhallt wären. S. 101
USA | Robert G. LivingstonEin bisschen WandelSeinen Anspruch als Demokratieförderer wird Amerika nicht aufgeben Iran, Irak, NATO: Außenpolitik ist zu einem wichtigen Thema im amerikanischen Wahlkampf geworden. Die Demokraten grenzen sich von George W. Bushs Politik ab und wollen einen baldigen Rückzug aus dem Irak. Doch sollte sich Europa keine Illusionen machen: Es wird mehr Kontinuität geben, als die Wahlslogans vom Wechsel versprechen. S. 106
Russland | Axel Lebahn Tauende Schneeflocke Bringt die Präsidentschaft Medwedews neue Optionen für den Westen? Die machtpolitischen Details des neuen regierenden Tandems Putin-Medwedew in Russland sind noch unklar. Doch aus den jüngsten Reden des neuen Präsidenten lässt sich durchaus ein Staatskonzept ableiten, das sich von dem Putins unterscheidet. Auf diese neuen Signale sollte der Westen genau hören – und seine eigene Politik darauf abstellen. S. 111
Polen | Reinhold Vetter Schmerzliche Reflexion Deutschlands Nachbarland debattiert über den Antisemitismus Geschichte und Gegenwart des polnischen Antisemitismus sind in Polen vielfach dargestellt und analysiert worden.1 Dennoch kam es hier in den vergangenen Monaten zu einer erbitterten öffentlichen Auseinandersetzung über Verbrechen an Juden in den ersten Nachkriegsjahren. In den Sog der Debatte geriet auch das Gedenken an die Studentenproteste von 1968 und die antisemitische Kampagne der herrschenden Kommunisten. S. 116
Frankreichbilder | Martin Koopmann Gefährliches Terrain Trotz Ratspräsidentschaft hält Paris sich beim Thema Europa vornehm zurück S. 124
Buchkritik | Paul Hockenos, Jenni Winter-hagen, Stefan Meister, Thomas Speckmann Das Gestern im Heute Neue Bücher zur Vergangenheit des Balkans, Russlands Zukunft und der Frage, ob sich die Geschichte wiederholt S. 132
Kolumnen Ökonomie | Norbert Walter Europäische Krämerseelen Die EU vergibt Entwicklungschancen, wenn sie die Potenziale des Balkans nicht nutzt S. 78
Werkstatt Deutschland | Franz Walter Neue Panik in der Mitte Es wird immer schwerer, in Deutschland ein Mittelschichtleben zu führen S. 92 Kultur | Otto Kallscheuer Drei Päpste in New York Von Paul VI. bis Benedikt XVI.: Die Nach-folger Petri und ihre Reden vor den UN S. 104
Technologie | Tom Schimmeck Wissen, was kommt Trendforscher, Demoskopen, Wissen-schaftler: Unsere Antwort auf Delphi S. 122
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