Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 59 (2011), 1

Titel der Ausgabe 
Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 59 (2011), 1
Weiterer Titel 

Erschienen
München 2011: Oldenbourg Verlag
Erscheint 
vierteljährlich
Preis
Jahresabo: 66 €, Stud.abo: 38 € Mitgl.abo. hist. u pol. Fachverbände: 52,80 €, Online-Zugang: 66 €, Print- und Online-Abo 66 €

 

Kontakt

Institution
Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Land
Deutschland
c/o
Redaktion Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte Institut für Zeitgeschichte, Leonrodstraße 46b, 80636 München, vfz@ifz-muenchen.de
Von
Jaroschka, Gabriele

Liebe Listenmitglieder,

Ian Kershaw, einer der bedeutendsten NS-Forscher unserer Zeit, bezieht Stellung. Er äußert sich im eben erschienen Januarheft der VfZ zur Debatte über das Konzept „Volksgemeinschaft“, das seit längerem die Gemüter bewegt.

Gute Lektüre wünscht Ihr Oldenbourg Wissenschaftsverlag

Inhaltsverzeichnis

VfZ 1/2011

INHALTSVERZEICHNIS

Aufsätze

Ian Kershaw, „Volksgemeinschaft“. Potenzial und Grenzen eines neuen Forschungskonzepts

Dieser Essay zeigt drei verschiedene Verwendungen des Begriffs Volksgemeinschaft auf, die gegenwärtig in Gebrauch sind: erstens, um geänderte Machtverhältnisse anzuzeigen; zweitens als Mobilisierungsfaktor durch „affektive Integration“; und drittens als ein Mittel der Exklusion, Diskriminierung und Verfolgung. Der Beitrag erkennt an, dass jede dieser Verwendungsweisen gewissen konzeptionellen Wert besitzt, verweist aber auf die großen Schwierigkeiten, die sich beim Ummünzen eines Propagandaslogans in ein Mittel der historischen Deutung ergeben. Der Beitrag zeigt die Schwierigkeit auf, Konsens in einer terroristischen Diktatur, die weitere Existenz von Subkulturen, die die Einheit der Volksgemeinschaft in Frage stellten, sowie weiterbestehende pluralistische Haltungen sogar die Behandlung der Juden betreffend nachzuweisen. Der Artikel legt nahe, dass eine binäre Trennung zwischen Inklusion und Exklusion ein zu sehr vereinfachendes Modell darstellt. Der Essay kommt zu der Schlussfolgerung, dass das Volksgemeinschaft-Konzept einige wertvolle Studien angeregt hat, aber dennoch große Defizite als eigentliches Analysemittel aufweist.

Ian Kershaw, “Volksgemeinschaft”. Potential and Limitations of the Concept

This essay indicates three differing ways in which Volksgemeinschaft is currently used: to denote changed power relations; as a mobilising force through ‘affective integration’; and as a vehicle of exclusion, discrimination and persecution. It acknowledges in each area some value in the concept. But it sees nevertheless a major problem in trying to turn a propaganda slogan into a tool of historical explanation. It points to the difficulty in demonstrating consensus in a terroristic dictatorship, to the continued existence of subcultures that challenged the unity of a Volksgemeinschaft, and to surviving pluralistic attitudes even towards the treatment of Jews. It suggests that a binary divide between inclusion and exclusion might be too simplistic a model. The essay concludes that the Volksgemeinschaft concept has prompted some valuable research but that it has major defects as a genuine tool of analysis.

Martin Schumacher, Namensähnlichkeit als Ausschließungsgrund? Der Fall der Frankfurter Anwältin Elfriede Cohnen und die Säuberung der Anwaltschaft in Preußen 1933

Thema dieses Aufsatzes ist der Versuch der Nationalsozialisten, Rechtsanwälte „nicht arischer Abstammung“ oder „Personen, die sich in kommunistischem Sinne betätigt haben“, von der Zulassung zur Rechtsanwaltschaft auszuschließen. Ansatz war das Anwaltsgesetz vom 7. April 1933. Das Berufsverbot betraf auch alle Anwälte, die Kommunisten verteidigt hatten, ohne vielfach selbst der KPD anzugehören. Ein drastisches Beispiel für die „Ausschaltung“ dieser Minderheit unter den Rechtsanwälten der Weimarer Republik ist der „Fall Dr. Cohnen“. Elfriede Cohnen, 1929 in Frankfurt am Main als erster weiblicher Rechtsanwalt zugelassen, hatte als Strafverteidigerin Mandate der Roten Hilfe wahrgenommen. Die Anwältin war „arisch“ und Mitglied der Zentrumspartei, in nationalsozialistischen Kreisen aber als „Jüdin“ verhasst. Elfriede Cohnen, infolge eines Unfalls als Helferin des Roten Kreuzes seit 1914 schwerbehindert, studierte nach vergeblichen Versuchen, wieder als Anwältin zugelassen zu werden, Medizin. Ihre Geschichte ist ein höchst instruktives Beispiel über die Wirklichkeit der nationalsozialistischen Rechtspolitik.

Martin Schumacher, A Similar Name as a Reason for Exclusion. The “Dr. Cohnen Case” and the Cleansing of the Bar in Prussia 1933

This article covers the attempt of the National Socialists to disbar lawyers “of non-Aryan descent” or “persons who acted for the Communist cause” by using the Lawyer Act of 7 April 1933. Disbarment also affected all lawyers who had defended Communists, often without being members of the KPD. The “Dr. Cohnen Case” is a drastic example for the “elimination” of this minority among the lawyers of the Weimar Republic. In 1929 Elfriede Cohnen was the first female lawyer to receive a license in Frankfurt/Main and had accepted defence cases of the Red Aid. The lawyer was “Aryan” and a member of the Catholic Centre Party, but was hated as a “Jewess” in Nazi circles. Cohnen, who was severely handicapped since suffering an injury as a Red Cross helper in an accident in 1914, studied medicine after unsuccessful attempts to be readmitted to the bar. Her story is a highly instructive example for the reality of Nazi legal policy.

Tim Szatkowski, Die CDU/CSU und die deutsch-polnischen Vereinbarungen vom Oktober 1975. Humanität oder Konfrontation?

Die deutsch-polnischen Vereinbarungen vom 9. Oktober 1975 schlossen eine Lücke, die der Warschauer Vertrag hinterlassen hatte: Ein Protokoll regelte in völkerrechtlich verbindlicher Weise die Ausreise von über 100 000 Deutschstämmigen aus Polen in die Bundesrepublik. Im Abkommen über Renten- und Unfallversicherung verpflichteten sich die Vertragspartner, für im Inland lebende Berechtigte auch Versicherungszeiten anzuerkennen, welche diese im anderen Staat zurückgelegt hatten. Die begleitenden Absprachen, eine Vereinbarung über die pauschale Abgeltung von Rentenansprüchen sowie ein Abkommen über die Gewährung eines Finanzkredits, wurden von der Opposition als verkappte „Wiedergutmachung“ bezeichnet. Das war insofern richtig, als die Genese der bilateralen Vereinbarungen zeigt, dass die polnische Seite Entschädigungsleistungen forderte und die Bundesregierung darauf, wenn auch indirekt, einging. Die Unionsparteien konnten gegenüber der Regierung Schmidt/Genscher letztlich jedoch keinen Konfrontationskurs aufrechterhalten. Eine kleine, prominente Gruppe innerhalb der CDU/CSU stimmte den Vereinbarungen aus humanitären Gründen zu, was zu heftigen Spannungen in der Partei führte. Zum Kristallisationspunkt der Auseinandersetzungen avancierte der Bundesrat, der am Ende überraschend ein einheitlich positives Votum abgab. Es waren vor allem der CDU-Vorsitzende Kohl und der niedersächsische Ministerpräsident Albrecht, welche die Union aus politischen und koalitionstaktischen Gründen auf den Kurs der Zustimmung brachten – allerdings erst, nachdem sie im Zusammenspiel mit Außenminister Genscher maßgebliche und in dieser Form einmalige Nachbesserungen der Vereinbarungen durchgesetzt hatten.

Tim Szatkowski, The CDU/CSU and the German-Polish Agreements in October 1975. Humanitarianism or Confrontation?

The German-Polish Agreements of 9 October 1975 closed a gap left behind by the Warsaw Treaty of 1970: A protocol binding under international law regulated the permanent departure of 100 000 persons of German descent from Poland to the Federal Republic. In their agreement about pension and accident insurance, the contractual partners committed to mutually recognise periods of insurance accrued in the other country for persons living inside their own country. The accompanying arrangements, an agreement about a flat-rate compensation payment for pension entitlements as well as an agreement about the granting of a financial loan, were described as hidden “reparations” by the opposition. This was true inasmuch as the genesis of the bilateral agreements shows that the Polish side demanded compensation payments and the Federal Government, albeit indirectly, responded. However the CDU/CSU opposition was not able to sustain a collision course with the Schmidt/Genscher Government. A small, prominent group within the CDU/CSU voted for the agreements on humanitarian grounds, which resulted in severe tensions within the party. The Bundesrat became the focus of the dispute; ultimately it surprisingly delivered a unanimously positive vote. First and foremost it was the CDU Party Chairman Kohl and the Prime Minister of Lower Saxony Albrecht who moved the CDU onto a course of agreement for political and tactical reasons (related to future coalition building) – but only after pushing through important and (in this form) unique adjustments to the agreements in conjunction with Foreign Minister Genscher.

Diskussion

Holger Nehring/Benjamin Ziemann, Führen alle Wege nach Moskau? Der NATO-Doppelbeschluss und die Friedensbewegung – eine Kritik

Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1990/91 hat sich fast ohne Widerspruch eine Meistererzählung zur bundesdeutschen Friedensbewegung der frühen 1980er Jahre etabliert, welche diese Protestbewegung durch die Brille des Kalten Krieges sieht und sie als kommunistisch „unterwandert“ interpretiert. Im Gegensatz dazu wird das Engagement kommunistischer Gruppen innerhalb der breiteren Proteste gegen den NATO-Doppelbeschluss hier sozial- und kulturgeschichtlich als Teil der disparaten sozialen Bewegungen der siebziger Jahre gesehen. Damit fällt zugleich neues Licht auf die Krise des westlichen Bündnisses seit der Mitte dieser Dekade und die darauf folgenden Kontroversen um das Verständnis von „Sicherheit“ in Bundesrepublik und DDR.

Holger Nehring/Benjamin Ziemann, Do All Roads Lead to Moscow? The NATO Double-Track Decision and the Peace Movement – a Critique

Since the collapse of the Soviet Union in 1990/91 a master narrative about the Western German Peace Movement of the early 1980s has been established almost without objection: It sees this protest movement through the lens of the Cold War and interprets it as being “infiltrated” by Communists. Here in contrast, the engagement of Communist groups within the wider protests against the NATO Double-Track Decision is seen as part of the disparate social movements of the 1970s under the perspective of social and cultural history. This simultaneously sheds new light on the crisis of the Western alliance since the middle of this decade and the subsequent controversies about the understanding of “security” in the Federal Republic and the GDR.

Christoph Boyer, „1989“ und die Wege dorthin

Historiker neigen dazu, das Scheitern des Staatssozialismus zu „erklären“, indem sie die Geschichte seiner Endkrise erzählen; Sozialwissenschaftler hingegen sind im Blick auf „1989“ vorrangig an den langfristigen strukturellen Ursachen interessiert. Beides ist nicht falsch, aber einseitig. Der Essay entwickelt einen Interpretationsrahmen, der Ereignis und Struktur, Akteure und System, länger- und kurzfristige Entwicklungen, Ablauflogik und Kontingenz miteinander verbindet. Die nicht heilbaren Konstruktionsmängel des Staatssozialismus liefern noch keine hinreichende Erklärung für „1989“. Erst angesichts der welthistorisch neuen Bedingungskonstellation, die sich ab Anfang der siebziger Jahre durch die elektronische Revolution und die Globalisierung herausbildete, erweisen sich die Staatssozialismen in der Systemkonkurrenz als endgültig unterlegen. Ihr Todesurteil wird bereits Anfang der siebziger Jahre gesprochen, die Wege zur Vollstreckung sind aber lang und unterschiedlich, wie sich im Blick auf die DDR, die Tschechoslowakei sowie auf Polen und Ungarn zeigt.

Christoph Boyer, “1989” and the Path Towards It

Historians tend to “explain” the failure of State Socialism by recounting the history of its ultimate crisis; social scientists in contrast are mostly interested in the long-term structural reasons of “1989”. Both approaches are not in themselves wrong, but they are one-sided. The essay develops an interpretative framework connecting events and structure, actors and system, long-term and short-term developments, process logic and contingency. The incurable structural deficiencies of State Socialism do not offer a sufficient explanation for “1989”. Only when faced with the new global historical constellation of circumstances which developed at the beginning of the 1970s with the electronic revolution and globalisation did the State Socialist countries prove to be definitely defeated in the competition of the economic systems. The death sentence was already pronounced over the State Socialist systems at the beginning of the 1970s, but the paths towards execution were long and different, as becomes clear with regard to the GDR, Czechoslovakia as well as Poland and Hungary.

Dokumentation

Helmut Altrichter, „Entspannung nicht auf Kosten des Sozialismus“. Das Treffen Andrei Gromyko – Erich Honecker am 11./12. Mai 1978

Bei einem Besuch in Ost-Berlin im Mai 1978 ging der sowjetische Außenminister Gromyko mit der SED-Führung hart ins Gericht: 8 Millionen Westdeutsche besuchten jährlich die DDR, 35 Millionen Telefongespräche würden zwischen Bürgern beider Staaten geführt, 250 Millionen Briefe gewechselt; trotz aller Abgrenzungsrhetorik pflege die Führung „besondere“ „innerdeutsche Beziehungen“ zur Bundesrepublik, komme den Konsumwünschen der eigenen Bevölkerung über Gebühr entgegen, lasse die DM als Zweitwährung zu, suche „Entspannung auf Kosten des Sozialismus“, mache sich „abhängig vom Westen“. Doch Honecker blieb bei seinem Kurs, schon weil er aus politischen und wirtschaftlichen Gründen kaum anders konnte.

Helmut Altrichter, “No Détente at the Expense of Socialism”. The Andrei Gromyko – Erich Honecker Meeting on 11/12 May 1978

During a visit in East Berlin in May 1978, the Soviet Foreign Minister Gromyko severely took the SED leadership to task: Every year 8 million West Germans visited the GDR, 35 million telephone calls were conducted between citizens in both states and 250 million letters were exchanged; in his view, despite a rhetoric of dissociation, the GDR leadership maintained “special”, “intra-German relations” with the Federal Republic, excessively accommodated the desires for consumption of its own population, permitted the Deutsch-Mark to function as a secondary currency, was seeking “détente at the expense of Socialism” and made itself “dependent on the West”. However Honecker stayed the course, ultimately because he had little choice for political and economic reasons.

Notizen

Neue Soziale Bewegungen – ein Sammelschwerpunkt des Archivs des Instituts für Zeitgeschichte
New Social Movements – a Focus in the Archive Collections of the Institute for Contemporary History

Schreib-Praxis. Das Institut für Zeitgeschichte und der Oldenbourg Verlag veranstalten zum fünften Mal ein anwendungsorientiertes Schreibseminar (29. August bis 2. September 2011)
The Institute of Contemporary History and Oldenbourg Publishing organise a practical writing seminar for the fifth time (August 29th – September 2 th, 2011)

Rezensionen online (Oktober – Dezember 2010)
Reviews online (October – December 2010)

Weitere Hefte ⇓
Redaktion
Veröffentlicht am
Klassifikation
Region(en)
Weitere Informationen
rda_languageOfExpression_z6ann
Bestandsnachweise 0042-5702