Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 60 (2012), 1

Titel der Ausgabe 
Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 60 (2012), 1
Weiterer Titel 

Erschienen
München 2012: Oldenbourg Verlag
Erscheint 
vierteljährlich
Preis
Jahresabo: 69,80€, Stud.abo: 39,80€ Mitgl.abo. hist. u pol. Fachverbände: 54,80€, Online-Zugang: 66€, Print+Online-Abo 69,80€

 

Kontakt

Institution
Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Land
Deutschland
c/o
Redaktion Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte Institut für Zeitgeschichte, Leonrodstraße 46b, 80636 München, vfz@ifz-muenchen.de
Von
Jaroschka, Gabriele

Liebe Listenmitglieder,

der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2012 wird zu gleichen Teilen an Ian Kershaw und Timothy Snyder verliehen. Ist Snyders Buch "Bloodlands" wirklich preiswürdig? Jürgen Zarusky stellt das Werk in der Januar-Ausgabe der VfZ kritisch auf den Prüfstand.

Ihr Oldenbourg Wissenschaftsverlag

Inhaltsverzeichnis

INHALTSVERZEICHNIS

Aufsätze

Jürgen Zarusky, Timothy Snyders "Bloodlands" – kritische Anmerkungen zur Konstruktion einer Geschichtslandschaft

Tymothy Snyders Buch "Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin" hat internationales Aufsehen erregt, meist ein sehr positives. Der Autor lenkt den Blick auf die Tatsache, dass ein erheblicher Teil der Massenverbrechen der Diktaturen Stalins und Hitlers in einer Region stattgefunden hat, die er als "Bloodlands" bezeichnet. Das schärft die Aufmerksamkeit dafür, dass das Epizentrum der politischen Katastrophen im Europa des XX. Jahrhunderts weiter im Osten liegt, als meist wahrgenommen wird. In Wirklichkeit aber sind die "Bloodlands" keine historische Landschaft, sie sind ein synthetisches Konstrukt. Es handelt sich weniger um die Beschreibung des "zentralen Ereignisses" der europäischen Geschichte, wie Snyder postuliert, als vielmehr um eine Montage von Interpretationen totalitärer Massenverbrechen in einer nicht immer nach überzeugenden Kriterien definierten Region. Dieser Rahmen verengt vielfach die Sicht auf Phänomene, die über ihn hinausgehen, wie etwa die sowjetische Hungersnot von 1932/33 oder den Holocaust, und er konstituiert eine Perspektive, in der die Motive und Handlungsweisen Stalins und Hitlers ähnlicher erscheinen, als sie es tatsächlich waren. Dagegen bleibt ein so zentrales Ereignis wie der deutsch-sowjetische Krieg in seiner politisch-militärischen Bedeutung unterbelichtet.

Jürgen Zarusky, Timothy Snyder’s “Bloodlands” – Critical Remarks about the Construction of a Historical Region

Timothy Snyder‘s book “Bloodlands. Europe Between Hitler and Stalin” has attracted international attention, most of it very positive. The author points out the fact that a considerable percentage of the mass crimes committed by the dictatorships of Stalin and Hitler took place in a region he refers to as the “Bloodlands”. This approach emphasises that the epicentre of the political catastrophes in Europe during the 20th century is further to the east than generally understood. In reality, however, the “Bloodlands” do not constitute a historical region: They are a synthetic construct. This is less a description of a “central event” of European history, as Snyder postulates, but rather a montage of interpretations of totalitarian mass crimes in a region which is defined by not always convincing criteria. This framework restricts the understanding of phenomena which go beyond it, such as the Soviet famine of 1932/33 or the Holocaust, and it constitutes a perspective in which the motives and actions of Stalin and Hitler seem more similar than they actually were. By contrast a central event such as the German-Soviet war is underexposed in its political-military dimension.

Detlev Humann, Ordentliche Beschäftigungspolitik? Unterstützungssperren, Drohungen und weitere Zwangsmittel bei der „Arbeitsschlacht” der Nationalsozialisten

Die rasche Beseitigung der Arbeitslosigkeit galt als große Erfolgsgeschichte der NS-Diktatur. Kaum bekannt ist indes, welche Druck- und Zwangsmittel das Regime gegenüber Erwerbslosen anwandte, um zu den laut verkündeten Erfolge zu kommen. Denn wer die schlecht entlohnten, aber meist anstrengenden Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen ablehnte, fiel für gewöhnlich aus der Erwerbslosenstatistik und erhielt keine Unterstützung mehr. Bei Unterstützungssperren blieb es aber nicht, zuweilen wurden weitere Zwangsmittel angedroht und vor allem dann umgesetzt, wenn das Regime die Propagandaziele der proklamierten „Arbeitsschlacht” gefährdet sah: beispielsweise Unterbringung in einem "Straflager" für Landhelfer oder in einem "Konzentrationslager" für Notstandsarbeiter.

Detlev Humann, An Orderly Employment Policy? Suspended Aid, Threats and Other Coercive Measures in the “Battle of Work” of the National Socialists

The quick elimination of unemployment was considered a great success story of the Nazi dictatorship. Not widely known, however, are the pressures and coercion the regime used against the unemployed to reach the loudly proclaimed successes. Anyone who rejected the poorly paid, but mostly strenuous public works program jobs was no longer considered as unemployed and received no further aid payments. Yet this policy did not stop with the suspension of welfare aid: sometimes further coercion was threatened and implemented, especially if the regime thought its propaganda goals in the proclaimed “battle of work” were in danger. Measures included placement in a “punishment camp” for farm workers or in a “concentration camp” for public relief workers.

Thomas Keiderling, Enzyklopädisten und Lexika im Dienst der Diktatur? Die Verlage F.A. Brockhaus und Bibliographisches Institut ("Meyer") in der NS-Zeit

Enzyklopädien repräsentieren das Gesellschaftsbild ihrer Entstehungszeit. Während des Nationalsozialismus wurde diese Literaturgattung aufgrund ihrer politischen Inhalte und großen Medienwirkung durch die Parteiamtliche Prüfungskommission zum Schutze des NS–Schrifttums vor der Veröffentlichung zensiert. Der Beitrag zeigt, wie die Unternehmer der Leipziger Verlage F. A. Brockhaus und Bibliographisches Institut („Meyer“) deswegen mit der zuständigen NS-Behörde verhandelten. Dabei leisteten sie keinen „Widerstand“, sondern argumentierten stets mit sachlichen, inhaltsbezogenen Argumenten der Lexikonherstellung. Dem Management von Brockhaus gelang es im Einklang mit der NS-Zensur, ein vergleichsweise liberales Lexikon im Dritten Reich anzubieten. Zudem konnte es aufgrund seiner Kontakte zu einflussreichen NS-Ämtern eine drohende Arisierung abwenden. In der Nachkriegszeit und in der Bundesrepublik Deutschland wandelte das Image beider Lexikonverlage völlig. Der Brockhaus-Verlag in Wiesbaden setzte, auch personell gesehen, fast nahtlos seine Lexikonarbeit fort und veröffentlichte nun tendenziell konservative Lexika. Das Management des Bibliographischen Instituts in Mannheim zog nach seinen Erfahrungen mit der NS-Zeit weitreichende Konsequenzen. Erst in den 1970er Jahren erschien ein liberales Lexikon, erarbeitet von einer jungen Lexikon-Redaktion, das neue Maßstäbe setzte.

Thomas Keiderling, Encyclopaedists and Dictionaries in the Service of the Dictatorship? The Publishers F.A. Brockhaus and the Bibliographische Institut (“Meyer”) during the Nazi Era

Encyclopaedias reflect a society’s self-image during the time of their creation. During the National Socialist era this particular genre was censored before publication by the Parteiamtliche Prüfungskommission zum Schutze des NS-Schrifttums (“The Party's Official Examining Board for the Protection of Nazi Literature”) on account of its political content and far-reaching media impact. This article demonstrates which strategic arguments the entrepreneurs of the Leipzig publishing companies F. A. Brockhaus and Bibliographisches Institut (“Meyer”) employed in their negotiations regarding this matter with the responsible Nazi authorities. They certainly did not engage in “resistance”, but always used objective and content-based lexicographic arguments relating to encyclopaedia production. The management of Brockhaus succeeded in gaining the approval of Nazi censorship to publish a relatively liberal encyclopaedia during the Third Reich. Additionally it was able to prevent looming Aryanisation due to its contacts with influential Nazi institutions. During the post-war period and in the Federal Republic of Germany, the public image of both encyclopaedia publishing companies changed completely. The Brockhaus concern in Wiesbaden continued its encyclopaedia work almost seamlessly – also when it came to the composition of its staff – and now published generally more conservative encyclopaedias. The management of the Bibliographische Institut in Mannheim, on the other hand, drew on its experiences with Nazism to arrive at far-reaching consequences. It was not before the 1970s that a liberal encyclopaedia – edited by a young editorial board – would appear, which would set new standards for the genre.

Mirjam Sprau, Leben nach dem GULAG. Petitionen ehemaliger Häftlinge als Quelle

Petitionen sind zunehmend Thema der neueren Forschung zur sowjetischen Zeitgeschichte. Hier sollen sie jedoch einmal nicht als Barometer gesellschaftlicher Anschauungen, sondern als Träger sozialwissenschaftlicher Informationen fungieren: 300 Petitionen an den Obersten Sowjet und den Ministerrat der Sowjetunion bieten einen guten Einblick in die Lebensbedingungen der Menschen, die nach Stalins Tod aus den Lagern des GULAG entlassen wurden. Ihre Erfahrungen divergierten stark. Die große Gruppe ehemaliger Häftlinge, die zu kürzeren Haftstrafen verurteilt worden war, lebte nach ihrer Entlassung unter prekären Bedingungen; Arbeitslosigkeit und fehlender Wohnraum schränkten ihre Rückkehrchancen ein. Einem kleinen Teil der ehemaligen sowjetischen Elite, die häufig jahrelang repressiert worden war, gelang jedoch über die Teilhabe am Petitions-Diskurs manchmal die Rückkehr zu einer gewissen materiellen und sozialen Sicherheit. Die Briefe all dieser Rückkehrer spiegeln eindringlich die Ambivalenzen der sowjetischen Entstalinisierung der 1950er Jahre.

Mirjam Sprau, Life After the GULAG. Petitions of Former Prisoners as Sources

Petitions are increasingly used as a source of information about Soviet history, mainly to explore views, attitudes and opinions. Taking a rather different approach, the present article analyses 300 petitions to gain insights into the material and social conditions of Soviet citizens returning from camps of the GULAG after Stalin’s death. Their letters to the Supreme Soviet and the Council of Ministers of the Soviet Union exhibit rather diverse experiences. The vast majority of returnees, who had been sentenced to comparatively short terms, lived under very poor conditions: many of them neither had a job nor a place to live, making it hard for them to re-integrate. By contrast, a small segment of the former Soviet elite was sometimes able to regain a degree of material and social security after several years of repression by taking part in the discourse of the petitions. The letters of all these returnees provide unique insights into the ambivalences of Soviet de-Stalinisation in the 1950s.

Felix Nikolaus Bohr, Flucht aus Rom. Das spektakuläre Ende des "Falles Kappler" im August 1977

In der Nacht vom 14. auf den 15. August 1977 gelang dem in Italien inhaftierten deutschen Kriegsverbrecher Herbert Kappler die spektakuläre Flucht aus einem römischen Militärhospital nach Soltau in Niedersachsen. Um den Ablauf und die Hintergründe der Flucht rankten sich seinerzeit zahlreiche Verschwörungstheorien und Mythen. Demnach war Kappler wahlweise mit Wissen der italienischen Behörden freigelassen, durch den deutschen beziehungsweise italienischen Geheimdienst befreit oder als Austauschobjekt für Andreas Baader von der deutschen Terroristengruppe „Roter Morgen” entführt worden. In diesem Aufsatz werden Voraussetzungen und Ablauf der Kappler-Flucht möglichst genau rekonstruiert. Daraufhin folgt eine Analyse der politischen, öffentlichen und medialen Reaktionen auf die Flucht in der Bundesrepublik und Italien. Während die Flucht in Rom ein politisches Erdebeben auslöste, hüllte Bonn sich 11 Tage in Schweigen. Die westdeutschen Medien reagierten sehr zurückhaltend, in Soltau hingegen wurde Kappler mit Blumen und Glückwunschtelegrammen begrüßt, während in Italien die Flucht einen Sturm der Entrüstung nach sich zog. Mediale Berichterstattung und öffentliche Proteste richteten sich hier nicht nur gegen die eigene Regierung, sondern auch gegen die Bundesrepublik und ihre Bürger. Wenige Wochen später begann der „deutsche Herbst”. Schon bald geriet die Kappler-Flucht nahezu in Vergessenheit.

Felix Nikolaus Bohr, Escape from Rome. The Spectacular End of the “Kappler Case” in August 1977

During the night of the 14th to the 15th of August 1977, ¬the German war criminal Herbert Kappler successfully escaped from a Roman military hospital to Soltau in Lower Saxony, Germany. At the time the sequence of events of this spectacular escape and its background were subject to diverse conspiracy theories and myths. According to these speculations Kappler was either released with the knowledge of the Italian authorities, liberated by either the Italian or German secret service, or was kidnapped by the German terrorist group Roter Morgen (Red Morning) in order to exchange him for Andreas Baader. The following article as precisely as possible delivers a reconstruction of the preconditions and the sequence of events surrounding Kappler’s escape. This is followed by an analysis of the reactions to Kappler’s escape by politicians, the public and the media in Germany as well as in Italy. Whereas the escape caused a political earthquake in Rome, Bonn remained silent for 11 days. There was very little reaction in the West German media, whereas Kappler was even welcomed with flowers and congratulatory telegrams in Soltau. In Italy, however, the escape caused a storm of protest. Here media reports and public protests not only criticized the Italian government, but also the Federal Republic of Germany and its people. Just a few weeks later, the deutsche Herbst (German Autumn) began, preoccupying all parties concerned. Thus the escape of Herbert Kappler was soon mostly forgotten.

Diskussion

Gerhard Wettig, Der Kreml und die Friedensbewegung Anfang der achtziger Jahre

Aus sowjetischer Sicht war, wie die internen Quellen und auch die faktische Politik belegen, die westliche Friedensbewegung ein äußerst wichtiger Faktor im Ost-West-Konflikt. Dieser Gesichtspunkt bestimmte das Verhältnis zu ihr. Die Frage, inwieweit die UdSSR diese Bewegung für ihre Zwecke einzusetzen vermochte, lässt sich nicht mit dem Hinweis beantworten, dass die Mehrzahl der daran Beteiligten anderen Vorstellungen folgte als der Kreml. Entscheidend ist vielmehr, wie weit sich diese Bewegung – auch entgegen den eigenen Absichten - von der Sowjetunion politisch vereinnahmen ließ und damit deren Ziele gegen die NATO faktisch unterstützte, auch wenn das ihrer Gesinnung eigentlich nicht entsprach.

Gerhard Wettig, The Kremlin and the Peace Movement During the Early 1980s

Both internal sources and actual policies indicate that the Soviet leadership saw the Western peace movement as a crucially important element in the East-West conflict. This position formed the foundation of its relationship with the peace movement. Therefore the question to what extent the USSR was capable of using this movement for its own purposes cannot be answered by simply pointing out that the majority of the participants in this protest movement espoused views different from those of the Kremlin. Instead the decisive question is to what degree – even contrary to its own intentions – the movement allowed itself to be politically exploited by the Soviet Union and thereby de facto aided Soviet goals against NATO, even if this did not correspond with the peace movement's underlying intentions.

Notizen

Jürgen Zarusky, Erinnerung an Diktatur und Krieg. Brennpunkte des kulturellen Gedächtnisses zwischen Russland und Deutschland seit 1945. Deutsch-russische Tagung in Moskau (12./13. März 2012) und München (24./25. Mai 2012)

Jürgen Zarusky, Remembering Dictatorship and War. Focal Points of Cultural Memory in Russian-German Relations after 1945. German-Russian Conferences in Moscow (12/13 March 2012) and Munich (24/25 May 2012).

Thomas Schlemmer/Hans Woller, Sechste Aldersbacher Schreib-Praxis. Ein anwendungsorientiertes Schreibseminar des Instituts für Zeitgeschichte und des Oldenbourg-Verlags (3. bis 7. September 2012)

Thomas Schlemmer/Hans Woller, The Sixth Alderbach Practical Writing Seminar is being Organised by the Institute of Contemporary History and Oldenbourg Publishers

Rezensionen online (Oktober – Dezember 2011)

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Bestandsnachweise 0042-5702