Leviathan 42 (2014), 3

Titel der Ausgabe 
Leviathan 42 (2014), 3
Weiterer Titel 
Lernen aus der Geschichte?

Erschienen
Baden Baden 2014: Nomos Verlag
Erscheint 
vierteljährlich
Anzahl Seiten
190 S.
Preis
Abonnement 98,00 €, Studierende 59,00 €

 

Kontakt

Institution
LEVIATHAN. Berliner Zeitschrift für Sozialwissenschaft
Land
Deutschland
c/o
Leviathan, Berliner Zeitschrift für Sozialwissenschaft, Redaktion Dr. Claudia Czingon, Wissenschaftszentrum Berlin, Reichpietschufer 50, D-10785 Berlin; Tel. +49 30 25491 536; E-Mail: claudia.czingon@wzb.eu
Von
Blomert, Reinhard

Von dem ehemaligen chinesischen Ministerpräsidenten Tschou en Lai stammt ein denkwürdiges Bonmot. Der damalige amerikanische Außenminister Henry Kissinger fragte ihn einmal, was er über die Französische Revolution denke, und erhielt zur Antwort: „Es ist noch zu früh, darüber ein Urteil abzugeben.“ Es scheint Geist vom Geiste Tschou en Lais, wenn man in China wieder mit Eifer Tocqueville liest, wie Nele Noesselt berichtet: Reform oder Revolution? Was ist zu tun, um die wirtschaftlichen Erfolge nicht zu gefährden und doch die Ungleichheit abzumildern, die Einheit des Landes zu bewahren und zugleich die Herrschaft der KP zu festigen? Das ist die Frage, die das Politbüro beschäftigt – und dazu sucht es Antwort bei Tocqueville.

Eckard Reidegeld hat den Versuch unternommen, das „aus der Geschichte lernen“ für die Umweltproblematik zu zeigen. Bisher ging man zurück zu den Anfängen eines Umweltbewusstseins im 19. Jahrhundert, das sich in Heimat- und Naturschutzvereinen organisierte, oder zu den Anfängen der ersten politischen Umweltschutzbewegung in den USA in den 1930er Jahren. Nun zeigt Reidegeld, dass man auch schon vor der Industrialisierung Umweltprobleme und Ressourcenknappheit kannte und wie man damit umging – unübersehbar sind gewisse Ähnlichkeiten zu unserer heutigen Art des Umgangs mit Ressourcenverknappung. Reinhard Loske liefert in seinem Essay Vorschläge, welche realen Ansätze er als Vorreiter einer nachhaltigen Entwicklung betrachtet. Dabei greift er auf den mikrohistorischen Ansatz des Lernens aus der Praxis zurück und fordert auch entsprechende Bildungs- und Weiterbildungsangebote (dazu auch der Aufsatz von Harry Friebel).

Siegfried Schieder reflektiert über die Möglichkeit einer deutschen Führungsrolle in der EU und verkennt dabei nicht die Schwierigkeiten, die die Präfigurationen dieser Rolle Deutschlands für Europa mit sich bringen: Ist die Gefahr des ökonomischen Dilettantismus in diesem Unternehmen nicht möglicherweise größer als die Gefahr, dass Europa das Ziel der Vereinheitlichung ohne eine politische Führerschaft verpasst?

Wie verhält es sich mit der Transparenz in der Politik? Könnte ein Übermaß an Transparenz nicht der Demokratie schaden? Das fragt Max-Otto Baumann in diesem Heft. Leiten bislang die Journalisten und Redakteure der Zeitungen durch den täglichen Dschungel der Nachrichten, so bietet das Internet – zumindest auf den ersten Blick – einen direkten Zugang zu den neuen Botschaften des Tages. Das dort sichtbar Werdende erweist sich jedoch für die große Mehrzahl als überkomplex und als für den Alltagsgebrauch kaum noch bezwingbare Fülle. Und da die Bewertung der Bedeutung von Ereignissen damit nicht leichter fällt, zeigt sich zugleich das, was unser Autor ein „epistemologisches Paradoxon“ nennt: „Je schärfer ein Detail betrachtet wird, desto mehr geraten die Strukturen aus dem Blick. Im Rasterelektronenmikroskop erkennt man Atome, aber nicht mehr, welches lebensweltliche Objekt sie bilden. So müssen die politischen ‚Rohdaten‘, welche durch Transparenz ans Licht kommen, erst wieder zu politischem Sinn kombiniert werden – ein anspruchsvoller Prozess der Kontextualisierung, bei dem einiges schiefgehen kann.“ Die Folge ist, dass statt der Journalisten als Pfadfinder nunmehr die Angebote der Internetunternehmen diese Rolle spielen: Nachrichten bieten die Anbieter in eigener Auswahl an. Es sind Kanäle, deren Transparenz eher geringer ist als diejenige der klassischen Zeitungen. In der Debatte um die künftige Orientierung der Stadtsoziologie verteidigt Johanna Hörning den Anspruch der Dritten Welt auf Gehör: Stadtsoziologie dürfe sich nicht auf das Modell der europäischen Stadt allein beschränken. In ihrer Kritik greift sie auf das begriffliche Paradox der Debatte zu: Was ist die Essenz der Stadt? Dass es keine „Essenz“ gibt, sondern dass Stadt durch Heterogenität und Simultaneität gekennzeichnet sei – Stadt sei der Raum der Widersprüchlichkeit.

Jörg Dürrschmidt weist auf die Kluft zwischen einem globalen Ansatz, der einer großen Theoriebildung folgt, und dem eher theoriefeindlichen Mikroansatz beschreibender Erkundungen des urbanen Alltags hin, die gelegentlich zu einer Zerreißprobe werde, sowohl für die städtische Wirklichkeit (die er an den zwei Beispielen London und Wittenberge untersucht hat) als auch für die Theorie. Der Eigenlogik-Ansatz, das ist seine Kritik, verorte sich zum einen jenseits der Logik übergeordneter Superstrukturen, verweigere sich jedoch zum anderen auch „jener Konkretionslogik, der angesichts des Details kleinräumiger Vergemeinschaftungen ein Blick für das städtische Ganze verloren gehe“.

Inhaltsverzeichnis

INHALTSVERZEICHNIS

Zu diesem Heft: Historia magistra vitae … 307 – 317

Positionen, Begriffe, Debatten

Jörg Dürrschmidt
Stadt als Milieu und Zukunftsraum – Überlegungen zur Kontroverse um den „Eigenlogik-Ansatz“ in der Stadtsoziologie … 318 – 331

Johanna Hoerning
Städte zwischen „Eigenlogik“ und Typik – eine Replik zur aktuellen stadtsoziologischen Debatte … 332 – 345

Aufsätze

Nele Noesselt
Alexis de Tocqueville in China: Spiegeldebatten über Reformbedarf und Revolutionsgefahr … 346 – 362

Siegfried Schieder
Zwischen Führungsanspruch und Wirklichkeit: Deutschlands Rolle in der Eurozone … 363 – 397

Max-Otto Baumann
Die schöne Transparenz-Norm und das Biest des Politischen: Paradoxe Folgen einer neuen Ideologie der Öffentlichkeit … 399 – 419

Harry Friebel
„Doing gender“: Elternschaft, Erwerbsarbeit und Weiterbildungsteilnahme … 421 – 432

Eckart Reidegeld
Nachhaltige Forstwirtschaft und Holzsparkunst – Frühe Formen des Umgangs mit Ressourcenknappheit … 434 – 462

Essay

Reinhard Loske
Neue Formen kooperativen Wirtschaftens als Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung. Überlegungen zur Wiedereinbettung der Ökonomie in Gesellschaft und Natur … 463 – 485

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