Lange hat sich die Überbetonung der Geschichte nicht mehr so sehr zum Schaden der Gegenwart ausgewirkt wie heute. Aktuell sind sich Deutschland und viele westeuropäische Staaten nach innen sowie nach außen uneins in der Frage, wie man mit der russischen Aggression gegenüber der Ukraine und dem dortigen Krieg umgehen soll. Das größte Geschütz in deutschen, westeuropäischen und russischen Geschichtsdebatten – Faschismus, Holocaust und Zweiter Weltkrieg – wird von beiden Seiten aufgefahren, während die spezifischen Erfahrungen der Staaten Mittel- und Osteuropas, nämlich das divide et impera der Großmächte, kulminierend im Hitler-Stalin-Pakt von 1939 und den Okkupationen, Repressionen und Deportationen unter deutscher und dann sowjetischer Herrschaft bis 1989, oft übergangen werden. Und während man in Deutschland und Europa den Minimalkonsens für ein Vorgehen gegenüber Russland diskutiert, bereitet man sich in Estland, einem EU- und NATO-Mitglied (allerdings ohne völkerrechtlich gültigen Grenzvertrag mit Russland), vielerorts auf eine Invasion oder Infiltration russischer Truppen vor, auch weil dort die Erinnerung an die längere und präsentere Sowjetherrschaft mit großrussischer Prägung lebendiger und gegenwärtiger ist als anderswo: Hier liegt die eigene GULag-Erinnerung in Widerstreit mit dem (west)europäischen Holocaust-Gedächtnis, welches teils importiert, teils oktroyiert wurde. Insbesondere in Konfliktsituationen teilen die europäischen Staaten keine gemeinsame Erinnerung, die positiv in die Gegenwart wirken könnte, sondern diese Erinnerung wirkt teilend.
Neben den aktuellen erinnerungskulturellen Trennlinien in Europa behandelt diese Ausgabe des Journal auch positive Beispiele geteilter Erinnerung und stellt Institutionen, Museen und Projekte vor, die auf eine Überwindung dieser Trennlinien hinarbeiten. So ist die Entwicklung der deutsch-französischen Nachkriegsbeziehungen von der blutigen Erbfeind- zur engen Partnerschaft im erinnerungskulturellen Bereich auch eine Erfolgsgeschichte der politisch-historischen Bildung und Ihrer Initiativen, Partnerschaften, Seminare und Austausche. Claus Leggewie vertritt die Auffassung, „dass ein supranationales Europa nur dann eine tragfähige politische Identität erlangen kann, wenn die öffentliche Erörterung und wechselseitige Anerkennung strittiger Erinnerungen ebenso hoch bewertet wird wie Vertragswerke, Binnenmarkt und offene Grenzen: Wenn das vereinte Europa also eine geteilte Erinnerung hat, die vergangene Konflikte […] in aller Deutlichkeit benennt, sie aber auch in zivilen Formen bearbeitet und genau darüber eine Gemeinsamkeit wachsen lässt, die die Europäische Union nach innen und außen handlungsfähig macht.“ Was im bilateralen Bereich – wie beim deutsch-französischen Beispiel – schon oft eine Erfolgsgeschichte ist, kann auch auf europäischer Ebene in Zukunft Wirkungsmächtigkeit entfalten. Unaufgearbeitete Verbrechensgeschichte unterminiert allerdings den Weg in die Demokratie, und hier ist auch die politische Bildung in der Pflicht.
INHALT
Editorial
SchwerPunktERINNERUNGSKULTUR IN EUROPA
Uwe Berndt Europa als Konfliktgemeinschaft der Erinnerungskulturen
Oliver Plessow Die Europäisierung der Schoaherinnerung im Bildungssektor
Ljiljana Radonic Postsozialistische Gedenkmuseen und die „Europäisierung des Gedenkens“
Stephan Schwieren, Dirk Mävers Perspektivwechsel ermöglichen Ein Beispiel für Geschichtskultur
Konstantin Dittrich Überwachung und Selbstpreisgabe Ein Projekt zur digitalen Selbstverteidigung
MitDenken
Benno Hafeneger Politische Bildung für „Unpolitische“? Reflexionen zu einem Dauerthema
ÜberGrenzen
Claus Leggewie Warum der 23. August (1939) kein paneuropäischer Gedenktag geworden ist – und wie man dies ändern könnte
Karolina Hajjar, Maria Lambridou Weiterentwicklung Internationaler Jugendarbeit unter besonderer Berücksichtigung bildungsbenachteiligter Jugendlicher in NRW
LeseZeichen
Politische Jugendbildung – nachhaltig wirksam / Eine deutsche Biographie / Bildikonen europäischer Politikgeschichte / Pädagogik der Anerkennung / Mehr als Fachwissenschaft
VorGänge
Ungleichheiten in der Demokratie – Bundeskongress politische Bildung / Preis Politische Bildung 2015 und Walter-Jacobson-Preis / Politische Bildung im Gespräch – Parlamentarischer Abend / Praxisorientierte Angebote: Die Transferstelle politische Bildung / GPJE-Nachwuchstagung in Gießen
AugenMerk
ebb-aede: Europäische Erziehung / Förderung: Weiterführung der Vielfalt-Mediathek gesichert / Partizipation: Neue Veröffentlichung / (Internationale) Jugendarbeit: Diversitätsbewusstsein / Personen & Organisationen / Veranstaltungen