Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 64 (2016), 3

Titel der Ausgabe 
Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 64 (2016), 3
Weiterer Titel 

Erschienen
München 2016: Oldenbourg Verlag
Erscheint 
vierteljährlich
ISBN
ISSN: 2196-7121
Preis
Jahresabo: 59,80€, Stud.abo: 34,80€ Mitgl.abo. hist. u pol. Fachverbände: 49,80€, Online-Zugang: 49€, Print+Online-Abo 72€

 

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Institution
Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Land
Deutschland
c/o
Redaktion Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte Institut für Zeitgeschichte, Leonrodstraße 46b, 80636 München, vfz@ifz-muenchen.de
Von
Jaroschka, Gabriele

Abstracts Juliheft 2016 deutsch

Andreas Wirsching, Hitlers Authentizität. Eine funktionalistische Deutung

Ausgangspunkt dieses Aufsatzes ist das Konzept der Authentizität, das seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für die Möglichkeiten bürgerlicher Individualitätskonstruktion eine zunehmend wichtige Bedeutung gewann. Die damit aufgeworfene Frage danach, welche Elemente einer Persönlichkeit als authentisch, das heißt als echt und glaubwürdig gelten können, stellte sich auch für Adolf Hitler. Welche seiner Eigenschaften und biografischen Erfahrungen Hitler selbst als authentisch betrachtete bzw. konstruierte und welche Authentizität ihm von seiner Umwelt zugeschrieben wurde, ist daher eine essenzielle Dimension in der Geschichte seines Aufstiegs. Sie umfasst Aspekte von Hitlers Jugend sowie seiner Wiener und Münchner Zeit ebenso wie die Frage, wann und unter welchen Umständen die Grundlagen seiner rassistischen „Weltanschauung“ gelegt wurden. Der Artikel argumentiert, dass bei Hitler mehrere Schichten von Authentizität zu unterscheiden sind, wobei der Wunsch, Künstler bzw. Baumeister zu werden, eine herausragende Rolle spielt. Dagegen bildete die von Hitler selbst in „Mein Kampf“ als authentisch reklamierte Weltanschauung eine später hinzukommende Dimension. Umgekehrt pointiert dies den funktionalen Charakter von Hitlers politisch-ideologischen Prägungen, was auch die Gesamtinterpretation des NS-Regimes und seiner Tätermotivationen beeinflusst.

Oliver Jens Schmitt, Wer waren die rumänischen Legionäre? Eine Fallstudie zu faschistischen Kadern im Umland von Bukarest 1927 bis 1941

Die Sozialgeschichte der „Legion Erzengel Michael“ in Rumänien, einer der wichtigsten faschistischen Massenbewegungen in Zwischenkriegseuropa, ist kaum erforscht. Der Aufsatz bietet eine erste quantitativ angelegte Regionalstudie zum ländlichen Raum um die Hauptstadt Bukarest auf der Grundlage eines Datensatzes von 1.500 Kadern der Bewegung. Im landesweiten Vergleich handelt es sich um eine erst in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre (v.a. 1937) von einer umfassenden Mobilisierung erfassten Region. Hauptergebnis ist die Unterscheidung zwischen Mobilisierungsnuclei in der Bewegungsphase (1927-1938), die aus der sog. Dorfintelligenz bestand (Priester, Lehrer), und den Kadern in der kurzen Regimephase (6.9.1940-21.1.1941), die sich vorwiegend aus militanten Jungbauern zusammensetzten. Die „alten Kämpfer“ waren von der für die Legion typischen Mystik und transzendenten Heilsbotschaft einer kollektiven nationalen Auferstehung viel stärker erfasst als die sozialrevolutionär ausgerichtete Funktionselite der kurzen nationallegionären Diktatur.

Hans Goldenbaum, Nationalsozialismus als Antikolonialismus. Die deutsche Rundfunkpropaganda für die arabische Welt

Über nationalsozialistische Einflussnahme und Propaganda im Nahen Osten ist bisher weniger bekannt, als es Debatten der letzten Jahre vermuten lassen. Auf der Basis bisher unberücksichtigter deutscher und israelischer Archivbestände rekonstruiert der Artikel nun erstmalig Entstehungskontext, institutionellen Ort und Struktur der arabischsprachigen Rundfunkpropaganda, vor allem aber deren Inhalte. Nachrichtenprogramme thematisierten die Stärke des Reichs und die Schwäche seiner Gegner auf politischem, wirtschaftlichem und militärischem Gebiet. Gleichzeitig wurden Bezüge zwischen nationalsozialistischer Politik und der Situation im Nahen und Mittleren Osten hergestellt: Die „lange unterdrückte deutsche Nation“, die sich im Kampf um ihre Souveränität gegen die westlichen Kolonialmächte befand, richtete sich an die Kolonisierten. Insgesamt lässt sich die Propaganda auf den Begriff eines spezifisch nationalsozialistischen, antisemitisch fundierten „Antikolonialismus“ bzw. „Antiimperialismus“ bringen. Der Artikel problematisiert zudem die Rezeptionsfrage. Die deutschen Sendungen waren durchaus einflussreich, standen jedoch in Informations- und Deutungskonkurrenz mit anderen internationalen und lokalen Angeboten. Die Rezeption war eine engagierte, aktive, in der die Inhalte von unterschiedlichen Akteuren jeweils vor dem Hintergrund des eigenen „Erfahrungsraums“ und „Erwartungshorizonts“ angeeignet und interpretiert wurden. Zentral erscheint die Frage, inwiefern die Propaganda „Erklärungsangebote“ für Auseinandersetzungen und Krisenerfahrungen anbot und eine „semantische Verschiebung“ forcierte, die zu antisemitischer Ideologiebildung und Praxis beitrug.

Mario Daniels, Brain Drain, innerwestliche Weltmarktkonkurrenz und nationale Sicherheit. Die Kampagne der westdeutschen Chemieindustrie gegen Wissenstransfers in die USA in den 1950er Jahren

Spionierten die USA deutsches Know-how aus? Mit großer Sorge betrachtete die westdeutsche chemische Industrie in den 1950er Jahren die Aktivitäten amerikanischer Unternehmen, aber auch des U.S.-Militärs, deutsche Wissenschaftler abzuwerben und Forschungseinrichtungen in Deutschland zu etablieren. Führende Industrievertreter sahen darin eine Form der Industriespionage, die nicht nur eine ernste Gefahr für die westdeutsche Wirtschaft und ihre erfolgreiche Rückkehr auf den Weltmarkt nach dem Zweiten Weltkrieg darstellte. Ihre Gefahrenbeschreibung war darüber hinaus in überraschendem Maße von Ängsten geprägt, dass der Wissenstransfer in die USA die deutsche nationale Sicherheit bedrohte.

Dieser Aufsatz analysiert die Brain Drain- und Industriespionage-Diskurse der 1950er Jahre und situiert sie in ihrem Kontext einer grundsätzlichen Neubewertung der politischen Relevanz von Wissensproduktion und -zirkulation auf beiden Seiten des Atlantiks in der Frühzeit des Kalten Kriegs. Der Aufsatz zeigt, wie und warum die energischen Maßnahmen scheiterten, die die chemische Industrie ergriff, um die deutsche Bundesregierung für die Abwehr der vermeintlichen amerikanischen Gefahren zu mobilisieren. Zudem wird deutlich, wie sehr unterschiedliche nationale Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen zu intensiven Spannungen innerhalb der sich formierenden Allianz des Kalten Kriegs führten.

Heiner Möllers, Die Kießling-Affäre 1984. Zur Rolle der Medien im Skandal um die Entlassung von General Dr. Günter Kießling

Die Kießling-Affäre des Jahres 1984 gehört zu den markantesten Beispielen für die Funktion der Medien als „vierte Gewalt“. In diesem Fall verloren das Bundesverteidigungsministerium und Minister Wörner infolge des publizistischen Echos auf die vorzeitige Verabschiedung des Generals Kießling, der für homosexuell und daher erpressbar gehalten wurde, vollkommen die Kontrolle über die Ereignisse. Dass der Minister keinen Einfluss mehr auf die Medien nehmen konnte, lag auch an seiner Informationspolitik, die – von Außeneinflüssen nahezu abgekoppelt und auf einen Argumentationsstrang festgelegt – auf neue Entwicklungen nicht mehr reagieren konnte. Dadurch war sie nicht einmal in der Lage, der nachdrücklichen Medienarbeit des entlassenen Generals überzeugend entgegen zu treten. Letztlich wurde Wörner durch das Eingreifen von Bundeskanzler Kohl erlöst – und behielt entgegen aller Erwartungen sein Amt.

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Abstracts Juliheft 2016 englisch

Andreas Wirsching, Hitler’s Authenticity. A Functionalist Interpretation

The point of departure of this article is the concept of authenticity, which has increasingly gained importance for the construction of Bourgeois individual identity since the second half of the 19th century. The question regarding which elements of a personality can be seen as authentic, i.e. as real and credible, has also been raised about Adolf Hitler. It is thus an essential facet of the history of his ascent, which of his characteristics and biographical experiences he himself viewed or constructed as authentic and which were attributed to him as such by his environment. This encompasses aspects of Hitler's youth and his time in Vienna and Munich, as well as the question, when and under what conditions the foundations of his racist “world view” were laid. The article argues, that, in Hitler's case, a number of layers of authenticity have to be distinguished, whereby the wish to become an artist or architect plays a prominent role. His world view, which Hitler labels as authentic in “Mein Kampf”, is conversely a dimension which was added later. This emphasises the functional character of Hitler's political-ideological conditioning, which also influences the overall interpretation of the Nazi regime and the motivations of its perpetrators.

Oliver Jens Schmitt, Who Were the Romanian Legionnaires? A Case Study on Fascist Cadres in the Countryside Surrounding Bucharest 1927 till 1941

The social history of the Romanian “Legion of the Archangel Michael”, one of the most important fascist mass movements in interwar Europe, has yet to be studied in any great detail. This article discusses a sample of 1,500 legionary cadres in the rural Greater Bucharest area, where legionary mass mobilization began rather late in comparison to other regions of Romania, in the second half of the 1930s. A main finding of the analysis is a clear distinction between two generations of cadres: so-called village intellectuals (priests, teachers) led the first phase of mobilization during the movement stage (1927–1938); the regime stage (6 September 1940-21 January 1941) however was dominated by militant young peasants. Village intellectuals were gripped more strongly by Legionary mysticism and its transcendent message of collective national resurrection, while cadres of the short-lived National Legionary dictatorship strove for social revolution.

Hans Goldenbaum, National Socialism as Anti-Colonialism. German Propaganda Broadcasts for the Arab World

Contrary to what one would expect after recent debates, we still know very little about National Socialist impact and propaganda in the Near East. Based on hitherto unconsidered German and Israeli archival records, the article will attempt to give, for the first time, an overview of the origin, institutional background, structure and, particularly, content of Arabic propaganda broadcasts from Nazi Germany. News programs focused on the strength of the Reich and the weakness of its adversaries in the political, economic and military arena. At the same time, the broadcasts linked National Socialist policies with the situation in the Near and Middle East: The “long-suffering” and “oppressed” German nation, now embroiled in a struggle for sovereignty against the colonialist Western powers, addressed the colonized. On the whole, the propaganda discourse can be conceptualized as a specifically National Socialist “anti-colonialism” or “anti-imperialism” founded in antisemitism. Furthermore, the article expounds how the transmissions were received. The German broadcasts undoubtedly had a certain influence, but the information and explanations they offered had to compete with those issued by other international and regional broadcasts and print media. The reception process can be characterized as committed and active; diverse actors received, interpreted and appropriated the content within their own “horizon of expectations”, relating it to their issues. The key question remains how far the propaganda offered explanations for conflicts and experiences of crisis and promoted a semantic shift which contributed to antisemitic ideologisation and practice.

Mario Daniels, Brain Drain, Global Economic Competition, and National Security: The Campaign of the West German Chemical Industry Against Knowledge Transfers to the United States During the 1950s

Was the U.S. spying on German know-how? During the 1950s, the West German chemical industry became deeply concerned about the attempts of American companies and the U.S. military to hire German scientists and establish R & D facilities in Germany. In their estimation, such activities amounted to nothing less than a form of industrial espionage. Leading industry representatives claimed that the loss of knowledge posed a serious threat to West Germany’s economy at the very moment of the country’s return to world markets after World War II. Also a surprisingly large part of their rhetoric was dominated by fears that American knowledge acquisitions endangered German national security.

This article takes a closer look at the brain drain and the discourse surrounding industrial espionage during the 1950s within the context of a profound reassessment of the political significance of knowledge production and dissemination during the early Cold War on both sides of the Atlantic. It shows how and why the chemical industry’s vigorous countermeasures to fend off perceived threats of espionage failed to mobilize the support of the West German government. Moreover, it makes visible the many fault lines and points of tension that resulted from competing national economic and security interests within the Western Cold War alliance in its formative phase.

Heiner Möllers, The 1984 Kießling Affair. On the Role of the Media in the Scandal about the Dismissal of General Dr. Günter Kießling

The Kießling affair of 1984 is one of the most striking examples for the function of the media as the “fourth estate”: In this case the West German Federal Ministry of Defence and Minister Wörner completely lost control of events after the premature discharge of General Kießling, who was considered homosexual and thus in danger of being blackmailed, due to the strong echo in the media. The lack of influence of the minister on the media also resulted from his information policy, which was incapable of reacting to new developments due to its isolation from external influences and fixation on a single chain of reasoning. Thereby it was not even capable of convincingly countering the insistent media strategy of the dismissed general. Ultimately Wörner was redeemed by the intervention of Federal Chancellor Helmut Kohl – and retained his office against all odds.

Angaben zu den Autoren (Juliheft 2016)

Dr. Andreas Wirsching, Direktor des Instituts für Zeitgeschichte München – Berlin (Leonrodstraße 46b, 80636 München) und Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München
E-Mail: <wirsching@ifz-muenchen.de>

Dr. Oliver Jens Schmitt, Professor für Geschichte Südosteuropas am Institut für osteuropäische Geschichte der Universität Wien (Spitalgasse 2, Hof 3, A-1090 Wien)
E-Mail: <oliver.schmitt@univie.ac.at>

Hans Goldenbaum, Doktorand an der International Max Planck Research School for Anthropology, Archaeology and History of Eurasia (Max Planck Institute for Social Anthropology, Advokatenweg 36, 06114 Halle/Saale)
E-Mail: <goldenbaum@eth.mpg.de>

Dr. Mario Daniels, DAAD Visiting Professor am BMW Center for German and European Studies (Georgetown University, ICC 501, 37th and O Streets, N.W., Washington D.C. 20057-1026)
E-Mail: <md1367@georgetown.edu>

Dr. Heiner Möllers, Projektbereichsleiter Medien am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (Zeppelinstraße 127/128, 14471 Potsdam)
E:Mail: <HeinerMoellers@bundeswehr.org>

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis Juliheft VfZ 2016

Aufsätze

Andreas Wirsching
Hitlers Authentizität
Eine funktionalistische Deutung

Oliver Jens Schmitt
Wer waren die rumänischen Legionäre?
Eine Fallstudie zu faschistischen Kadern im Umland von Bukarest 1927 bis 1941

Hans Goldenbaum
Nationalsozialismus als Antikolonialismus
Die deutsche Rundfunkpropaganda für die arabische Welt

Mario Daniels
Brain Drain, innerwestliche Weltmarktkonkurrenz und nationale Sicherheit
Die Kampagne der westdeutschen Chemieindustrie gegen Wissenstransfers in die USA in den 1950er Jahren

Heiner Möllers
Die Kießling-Affäre 1984
Zur Rolle der Medien im Skandal um die Entlassung von General Dr. Günter Kießling

Notiz

Personelle Veränderungen bei den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte

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