Nachruf auf Holm Sundhaussen (17.4.1942 – 21.2.2015)

Von
Ulf Brunnbauer, Regensburg

Die Menschen, so eine der Kernthesen Holm Sundhaussens, seien in den letzten Jahrtausenden grundsätzlich weder viel klüger noch besser geworden. Noch immer, und immer wieder, führen sie Krieg, bringen ihre Artgenossen um und lassen sie sich von Ideologen manipulieren. Allerdings habe es die Menschheit dennoch geschafft, durch ein Netz von Regeln und Institutionen sich vor sich selbst zu schützen. Doch diese Schicht der Zivilisation sei ständig bedroht – wie das Beispiel des ehemaligen Jugoslawien zeigt. Wie es sein konnte, dass Menschen bewusst (und unbewusst) einen Staat zerstörten, der ihnen über Jahrzehnte ein leidliches Zusammenleben und einen gewissen Wohlstand garantierte, das war eines der großen Probleme, an denen sich Holm Sundhaussen abarbeitete. Die drei großen Monographien, die er seit seiner Emeritierung im Jahr 2007 publizierte, versuchten auf jeweils unterschiedlichen Wegen eine Antwort auf die Frage zu geben, wie Gesellschaften es schaffen, ihre Unterschiedlichkeit zu organisieren – und warum es regelmäßig dazu kommt, dass diese Grundlagen des Zusammenlebens gewaltsam zerstört werden. Die Bücher „Geschichte Serbiens. 19.-21. Jahrhundert“ (2007), „Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten 1943–2011. Eine ungewöhnliche Geschichte des Gewöhnlichen“ (2012) und „Sarajevo. Die Geschichte einer Stadt“ (2014) sind nicht nur ein beeindruckendes historiographisches Spätwerk, sondern illustrieren den der Aufklärung verpflichteten, aber von Zweifeln geprägten Humanismus, der das wissenschaftliche Tun Holm Sundhaussens ausgezeichnet hat.
Kaum ein anderer Historiker hat die Interpretation der Geschichte Südosteuropas in den letzten Jahrzehnten so geprägt wie Holm Sundhaussen. Da ist einmal die enorme Zahl von Veröffentlichungen, vielen von ihnen häufig zitiert, die Bücher Standardwerke. Eine unvollständige Auflistung seiner Publikationen in der Holm Sundhaussen zu seinem 65. Geburtstag gewidmeten Festschrift „Schnittstellen. Gesellschaft, Nation, Konflikt und Erinnerung in Südosteuropa“ (2007) umfasst zwölf engbedruckte Seiten. Beachtlich ist nicht nur die Zahl, sondern die thematische Breite, angedeutet durch den Untertitel der Festschrift. Von der Ideen- bis zur Wirtschaftsgeschichte, von der Nationalismusforschung bis zu historischen Migrationsbewegungen, von der Agrargeschichte bis zum Faschismus reichte das Interessensfeld von Holm Sundhaussen. Die „Historische Statistik Serbiens“ (so der Titel eines 1989 veröffentlichten Bandes) konnte ihn ebenso begeistern wie der „Einfluss der Herderschen Ideen auf die Nationsbildung bei den Völkern der Habsburger Monarchie“ (so der Titel seiner 1973 veröffentlichten Dissertation). Diese thematische Vielfalt war nicht Ausdruck von Eklektizismus, sondern Ergebnis des beharrlichen Bemühens, die Ursachen für die im europäischen Kontext vielfach spezifischen historischen Entwicklungen Südosteuropas zu verstehen und ihrer Komplexität gerecht zu werden. Um dies zu leisten, hielt Holm Sundhaussen eine konsequent vergleichende Perspektive für unabdingbar – diese tritt in vielen seiner Arbeiten hervor, ebenso wie in seiner maßgeblichen Beteiligung an der Gründung des Berliner Zentrums (heute Kollegs) für Vergleichende Geschichte Europas. Holm Sundhaussen hat auf den Charakter Südosteuropas und vor allem des Balkans als historischer Region bestanden – und über diese Frage eine lebhafte Kontroverse mit Maria Todorova ausgetragen –, gleichzeitig aber die Region immer als Teil Europas begriffen. Eine europäische Geschichte ohne den Balkan war für Holm Sundhaussen genauso undenkbar wie umgekehrt.
Das wissenschaftliche Oeuvre Holm Sundhaussens ist so einflussreich, weil es eine großartige Verbindung zwischen rigoroser Anwendung historischer Methodik und aufklärerischem Impetus darstellt. Holm Sundhaussen blieb der Meinung treu, dass die Geschichtsschreibung politische Relevanz habe, denn richtig betrieben könne sie dazu beitragen, Fehler nicht nochmals zu begehen. Daher beschäftigte er sich mit den „großen“ Fragen. Schließlich können die Menschen zu ihrer Orientierung in der Gegenwart und zur Abwägung ihrer Entscheidungen über die Zukunft auf nicht viel mehr zurückgreifen als das, was sie glauben über die Vergangenheit zu wissen. Nachlässiges Arbeiten, unglaubwürdige Thesen und postmoderner Jargon konnten Holm Sundhaussen genauso verärgern wie bornierte Selbstgerechtigkeit. In der skrupulösen, unaufgeregten, aber gleichzeitig engagierten Quellenarbeit des Historikers sah er die beste Möglichkeit, Ideologen (und Dummköpfen) zu begegnen. Als sich in Serbien heftige Kritik gegen seine Geschichte Serbiens regte, stellte sich Holm Sundhaussen dieser Auseinandersetzung in Belgrad, obwohl viele der Kritiker sein Werk gar nicht gelesen hatten. Aber, das wusste er aus seiner eigenen Forschung, der Geist der Aufklärung bricht sich nicht von selbst Bann, sondern muss in die dunklen Höhlen der mythologischen Geschichtsverzerrung getragen werden. Die vielen Befürworter seiner Thesen in Serbien verdeutlichen, dass diese Mühsal nicht umsonst war. Geprägt durch den blutigen Zerfall Jugoslawiens, der für Holm Sundhaussen auch einen persönlichen Verlust darstellte, war es für ihn vor allem der Ethnonationalismus, der zu fatalen Wahrnehmungsblockaden führte. Krieg und ethnische Säuberung als die extremen, aber auch logischen Folgen von Ethnonationalismus stellten daher zentralen Themen im Werk Sundhaussens dar; dabei ging es ihm sowohl um die Hinterfragung vermeintlicher Gewissheiten, als auch um das Insistieren darauf, Schuldige beim Namen zu nennen. Bei aller notwendigen Differenzierung der Verantwortlichkeiten für den Ausbruch der „Nachfolgekriege“ im zerfallenden Jugoslawien betonte er, dass der größten Anteil beim serbischen Nationalismus und seinen Protagonisten zu verorten sei.
Holm Sundhaussens Reputation und nachhaltiges Wirken sind nicht nur seinen Schriften zu verdanken. Seit seiner Berufung zum Professor am Osteuropa-Institut der FU Berlin im Jahr 1988 und über seine Emeritierung im Jahr 2007 hinaus hat er Generationen von Studierenden und Nachwuchswissenschaftler/inne/n geprägt. Er hat sie nicht nur für die Geschichte Südosteuropas begeistert, sondern ihnen vor allem gezeigt, was es heißt, ein guter Historiker zu sein. Eine Vielzahl betreuter Promotionen und Habilitationen resultierte in einer großen Schar von Schülerinnen und Schülern, die sich bemühen, ihrem Mentor gerecht zu werden. Das von Holm Sundhaussen gegründete und bis zu seinem Tod mit geleitete Berliner Südosteuropakolloquium war ein zentraler Ort der intensiven, kritischen und oftmals auch kontroversen Debatte über die Geschichte der Region und ihre Geschichtsschreibung. Dort sein Projekt vorzustellen und sich der wohlmeinenden, wenn es notwendig war aber auch scharfen Kritik Holm Sundhaussens zu stellen, wurde zu einem wesentlichen Initiationsritus in der deutschsprachigen Südosteuropaforschung. Holm Sundhaussen förderte seine Schüler und Schülerinnen dauerhaft und bereitete vielen den Weg hin zu einer erfolgreichen wissenschaftlichen Laufbahn. Er blieb immer ein Vorbild, in seiner demokratischen und selbst-reflektierten Art und in seiner Bereitschaft, eigene Meinungen zu revidieren. Seine Neugierde war ansteckend; seine Belesenheit beeindruckend; seine Verlässlichkeit beispielhaft. Was er sagte, hatte stets Gewicht. Und dabei blieb er völlig unprätentiös, jemand, der am Leben seiner Umgebung Anteil nahm, mit dem man gerne ein Bier trinken ging.
Nun ist Holm Sundhaussen verstummt. Völlig unerwartet und viel zu früh verstarb er am 21. Februar 2015 im Alter von nur 72 Jahren. Er wurde buchstäblich aus einer enorm produktiven Phase gerissen. Den letzten Tag seines Lebens verbrachte er mit der Diskussion von Beiträgen für einen Band des geplanten Handbuchs der Geschichte Südosteuropas. Typisch für ihn war, dass er als einziger Autor bereits einen vollständigen Manuskriptentwurf seines Kapitels vorlegen konnte. Dieser umfängliche Text zum Zweiten Weltkrieg in Südosteuropa wird posthum ein weiteres Standardwerk darstellen.

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