Fritz Stern (1926-2016). Ein Nachruf

Von
Max Vögler, Washington DC (USA)

Nach den zahlreichen und wohlverdienten Nachrufen in der deutschen und der internationalen Presse der letzten Woche frage ich mich: Was gibt es zu Fritz Stern noch zu sagen? Mit seinen 90 Jahren war er einer der letzten prominenten Vertreter einer Generation progressiver, liberaler Intellektueller im klassischen westlichen Sinne des 20. Jahrhunderts. Eine herausragende Figur in den Geschichtswissenschaften, ein begnadeter Redner und Essayist und ein viel gefragter Gesprächspartner zur aktuellen Politik. Dieser Text soll aber kein Nachruf auf den Wissenschaftler und auch nicht auf die öffentliche Figur sein. Es ist die Geschichte unserer Begegnung und Zusammenarbeit.

Es war Mitte der 1990er-Jahre als ich als junger, angehender Doktorand an der Columbia University Geld brauchte, so wie die meisten Doktoranden, besonders in New York. Eine Bekannte von mir arbeitete für Fritz Stern, musste aber wegen anderer Verpflichtungen diese von ihr geschätzte Aufgabe aufgeben und suchte Ersatz – und so kam ich zu meinem Glück. Allerdings wusste ich am Anfang nicht, ob sich dies wirklich eine glückliche Fügung erweisen würde oder nicht, da Fritz Stern unter den Studenten im History Department einen durchaus differenzierten Ruf genoss. Aber als wir uns kurz kennengelernt hatten, war die Entscheidung schnell getroffen: Das wird interessant werden.

Zu den Aufgaben gehörten Korrespondenzpflege (es gab einen riesigen Aktenschrank, nach Personen geordnet, mit seiner beruflichen Korrespondenz – eine unglaubliche Quellensammlung!), Rechercheaufgaben und das Editieren von Manuskripten auf der Basis seiner handschriftlichen Kommentare. Diese letzte Aufgabe nahm allerdings mit der Zeit ab, da wir ihm 1998 seinen ersten Laptop kauften und so eine neue Aufgabe – Computer-Tutor und Wegweiser in die elektronische Welt – dazu kam. Mit der Autokorrektur der Textverarbeitung stand er auf Kriegsfuß, da er beim Tippen oft Fehler machte, dies ihn aber nicht störte. „I know what the correct spelling is!“, sagte er, und fand es unmöglich, dass ein Textverarbeitungsprogramm ihn während des schöpferischen Prozesses ablenkte. Seine übliche Schlussformel bei Emails mit neuen Arbeitsaufträgen sehe ich jetzt noch vor Augen: „many thanks, fs“. Nachdem ich promoviert war, wurde daraus: „many thanks, fritz“. (Meine ehemaligen „Kollegen“ – die Research Assistants, die vor meiner Zeit da waren und nach mir kamen, schmunzeln vermutlich gerade…)

Zwei Geschichten aus dieser Zeit, an die ich mich gerne erinnere: Als ich 1997 bei ihm anfing, beschäftigte er sich gerade mit der Überarbeitung der Aufsätze, die sein Buch „Einstein‘s German World“ bilden sollten und er hatte ein Problem, denn einige seiner Zitate hatten die Übersetzung ins Englische nicht geschafft. Er hatte seine Übersetzung, aber weder die deutschen Originalzitate noch die genaue Quellenangabe vorliegen. Meine erste Aufgabe lautete daher: „max, here is a citation from harnack on german science, i think from around 1905. could you pls find the german original? many thanks, fs”. Den Namen Adolf von Harnack hatte ich zwar schon gehört, viel über sein Wirken als Wissenschaftspolitiker und –manager jedoch nicht, geschweige denn etwas über den Kirchenhistoriker und Theologen. Das sollte sich nun ändern und ich verbrachte zwei wunderbare Wochen mit Harnacks gesammelten Werken, um zwei Zitate zu suchen – und das für $ 10 die Stunde! Nachmittags stand ich dann bei Fritz Stern zu Hause im Arbeitszimmer, um seine Korrespondenz mit ihm durchzugehen und die Arbeitsaufträge und das, was ich bisher von Harnack gelesen hatte durchzusprechen. So lernte ich die Grundpfeiler des deutschen Wissenschaftssystems kennen. Eine wunderbare Zeit!

Die zweite Geschichte ereignete sich etwas später, im Frühjahr 1999, nachdem Fritz Stern erfahren hatte, dass er vom Börsenverein den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhalten sollte. Die Dankesrede des vorjährigen Preisträgers Martin Walser, in der er von der Auschwitz-Erinnerung als geschichtspolitischer „Moralkeule“ gesprochen hatte, war noch präsent und die öffentliche Aufregung darüber – jedenfalls in Deutschland – groß. Worüber sollte er in seiner Ansprache reden? Welches Thema konnte man überhaupt im Jahr nach Walser wählen? Zeitgleich beschäftigte ich mich mit der Vorbereitung meiner „Oral Exams“ – der mündlichen Prüfung, die in den USA die Masters-Phase der Doktorandenzeit abschließt und nach der man offiziell zur Doktorarbeit zugelassen ist. Es war Frühling und das Wetter wurde immer schöner, aber wir beide sahen Tag für Tag, Woche für Woche immer schlechter aus, absolute „nervous wrecks“. Stern hat mehrere Wochen Ideenskizzen zu Samuel Taylor Coleridge geschrieben, die ihm aber nicht gefielen. Ich wiederum las und las und versuchte die Themen zu bearbeiten, die ich mir für die mündliche Prüfung vorgenommen hatte. Ich sehe uns jetzt noch in seinem Arbeitszimmer: zwei wirkliche Leidensgenossen, blass und etwas mitgenommen.

Die Rede hat Fritz Stern noch häufiger umgeschrieben und er begegnete schließlich der moralischen „Pflichtübung“ von Auschwitz, ohne auf Walser explizit einzugehen, mit seinem Plädoyer für die Frage »Warum?«:

„Das »Warum« ist nicht nur existenzielle Urfrage, sondern auch die Grundlage jeglichen Rechtssystems; es erzeugt den Anfang des Denkens, den Anstoß zur Wissenschaft, zum fruchtbaren Argument. Die westliche Welt hat den Kampf gegen intolerante Orthodoxie bestanden, hat sich von der Inquisition befreit, und diese Offenheit und Freiheit, die mit dem uneingeschränkten »Warum« beginnt, hat ihr den Vorsprung im geistigen und politischen Leben ermöglicht. Gerade diesen Fels der Menschlichkeit wollte der Totalitarismus zerstören.“ (Dankesrede Fritz Stern, Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, 1999, S. 12.)

Das „Warum“ konnte für ihn keine Pflichtübung sein.

Anfang des Jahres 2000 übergab ich meine Stelle an den nächsten Research Assistant und zog nach Europa, um meine Doktorarbeit fertigzustellen. Als Fritz Stern 2002 in Berlin für ein Treffen der Ordensträger Pour le Mérite zu Gast war, fand er dennoch einen Nachmittag Zeit, um mich und meine damals junge Familie zu Sekt, Kaffee und Kuchen in Steglitz zu besuchen. Und als ich 2010 wieder in die USA zog, habe ich ihn – wenn auch unregelmäßig – in New York besucht. Zuletzt sah ich ihn vor wenigen Monaten im Deutschen Historischen Institut hier in Washington, als der Fritz Stern Preis für junge Doktoranden verliehen wurde, zum letzten Mal in seiner Gegenwart. In den letzten Monaten korrespondierten wir, um während einer meinen nächsten New York Besuche erneut Zeit für ein Glas Wein bei ihm zu Hause zu finden. Dabei ist es leider geblieben. Jetzt werde ich das Glas Wein allein trinken müssen – auf einen großen Menschen und Freund.

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Max Vögler hat 2005 an der Columbia Universität promoviert und 1997-1999 bei Fritz Stern als „Research Assistant“ gearbeitet. Seit 2010 ist er Leiter des Nordamerikabüros der Deutschen Forschungsgemeinschaft in Washington DC.

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