Netzwerk Oral History gegründet

Von
Linde Apel/Stefan Müller

Seit 2014 trifft sich das Netzwerk Oral History (NOH), eine interdisziplinäre und selbstorganisierte Gruppe von Personen und Institutionen, die mit mündlichen und/oder audiovisuellen Quellen im geschichtswissenschaftlichen, pädagogischen, musealen oder archivalischen Kontext arbeiten. Die Idee entstand 2014 in einem sonnenbeschienenen Hof der Universität Wien während einer Pause der European Social Science History Conference. Anlass war die Feststellung, dass Oral History zwar in der Geschichtswissenschaft etabliert zu sein scheint, sie aber wenig gelehrt und selten kritisch reflektiert und diskutiert wird. Zur selben Zeit ließ sich beobachten, dass einige Interviewprojekte entstanden, die vor allem quellensichernd konzipiert sind. Zugleich nimmt die Bedeutung des „Zeitzeugen“ in den Medien stark zu, was wiederum Auswirkungen auf Oral History-Projekte hat. Und schließlich tritt die Sekundärauswertung von vor Jahren geführten Interviews immer stärker in den Vordergrund. Daraufhin beschlossen einige Kolleginnen und Kollegen aus Hamburg, Düsseldorf und Bonn, mit Oral History befasste Projekte, Personen und Institutionen zusammenzuführen, um sich über Quellen und Methoden, Projekte und Ergebnisse, aber auch Fragestellungen, Vernetzungen und die Möglichkeit der kollaborativen Archivierung auszutauschen. Der Hans Böckler-Stiftung, die seit Jahren Oral History-Projekte initiiert und fördert, danken wir für ihre finanzielle Unterstützung von 2014 bis 2016. Das Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich Ebert-Stiftung unterstützt das NOH organisatorisch.

Das erste Treffen begann mit einer Übersicht von Linde Apel zur Geschichte der bundesdeutschen Oral History, ihren Themen, Methoden und Netzwerken sowie einem weiteren Impulsreferat von Knud Andresen zu den inhaltlichen Potentialen von Oral History mit der „affluent (boring?) generation“ (beide Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg). Denn die deutschsprachige Oral History hat sich bisher vor allem für Personen interessiert, die Krieg, Verfolgung oder Zwangsmigration erlebt hatten oder Gewalt- und Repressionserfahrungen machten. Für die heutigen, überwiegend in Frieden und Wohlstand aufgewachsenen bundesrepublikanischen Generationen gilt dies nicht, mit Ausnahme von migrantischen Kohorten und der DDR-Bevölkerung. Wie und ob dies die Oral History zukünftig verändern wird, wurde angeregt diskutiert. Bei der zweiten Zusammenkunft, die wie das erste Treffen bei der Hans-Böckler-Stiftung in Düsseldorf stattfand, stellte Karin Orth ihr Konzept einer Lehrveranstaltung vor, bei der Studierende selbständig Interviews zum Thema Kindheit in Krieg und Nationalsozialismus führten. Auf dem dritten Treffen im Archiv „Deutsches Gedächtnis“ der FernUniversität Hagen und damit in jener Einrichtung, die aus der Verankerung der Oral History an den Universitäten hervorgegangen ist, stellte Archivleiterin Almut Leh das Online-Archiv der Interviews aus dem Projekt „Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet 1930-1960“ vor (https://www.fernuni-hagen.de/geschichteundbiographie/deutschesgedaechtnis/#online). Es wurde in Kooperation mit dem Center für Digitale Systeme an der FU Berlin entwickelt und orientiert sich am Online-Archiv „Zwangsarbeit 1939-1945“ (http://www.zwangsarbeit-archiv.de/). Das vierte Treffen, diesmal im Dokumentationszentrum „Topographie des Terrors“ in Berlin, widmete sich der Archivierung von Interviews am Beispiel der Videointerviews, die im Projekt „Menschen im Bergbau“ in Bochum entstehen (http://isb.rub.de/sbr/drittmittelprojekte/gedaechtnisspeicher.html.de). Im Mittelpunkt standen Fragen nach Datenmodellen für die Verzeichnung und Archivierung von Oral History-Quellen sowie die Herausforderungen einer dauerhaften (digitalen) Sicherung und (Online)-Zugänglichkeit von Interviews. Die intensive Diskussion zeigt, wie groß der Bedarf nach einer Verbunderschließung der dezentral in den letzten 35 Jahren entstandenen und verstreut archivierten Interviews ist.

Die Netzwerktreffen haben den Erfahrungstausch der teilnehmenden Kolleginnen und Kollegen zum Ziel und sollen inhaltliche, methodische und archivierungsspezifische Aspekte der Oral History profilieren. Unsere Themen spiegeln in ihrer Vielfalt unsere Herkünfte aus Archiven, Museen, Forschungsinstitutionen und Erinnerungseinrichtungen wieder. Weitere Termine, bei denen es um die Arbeit mit Oral History-Quellen im musealen Kontext und um Fragen der digitalen Langzeitarchivierung und Verbunderfassung gehen soll, werden derzeit für 2017 vorbereitet. Wer Interesse an einer Teilnahme hat, melde sich bei Stefan Müller (Stefan.Mueller@fes.de) oder Linde Apel (apel@zeitgeschichte-hamburg.de).

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