Kindheit im 2. Weltkrieg. Lebensgeschichtliche und politisch-kulturelle Bedeutung von Kriegserfahrung und Generationalität in Europa

Kindheit im 2. Weltkrieg. Lebensgeschichtliche und politisch-kulturelle Bedeutung von Kriegserfahrung und Generationalität in Europa

Projektträger
Kulturwissenschaftliches Institut, Essen ()
Ausrichter
Ort des Projektträgers
Essen
Land
Deutschland
Vom - Bis
01.10.2004 -
Von
Sabine Rehorst, Böhlau Verlag Köln/Weimar

Die historische Erfahrung des 2. Weltkrieges spielt eine zentrale Rolle in der Erinnerungskultur aller daran beteiligten bzw. davon betroffenen Länder. Mehr als in vorangegangenen Kriegen waren im Verlauf der 10 Kriegs- und Nachkriegsjahre (1939-1949) große Teile der zivilen Bevölkerung auf direkte oder indirekte Weise von diesem welthistorischen Ereignis betroffen. Sei es, dass sie unfreiwillig in kriegerische Handlungen verwickelt wurden; zu Opfern von Kriegs- und Verfolgungsterror – von der Bombardierung von Städten bis hin zum verordneten Genozid – gemacht wurden; dass sie evakuiert, ausgesiedelt, deportiert oder verschleppt wurden; sei es schließlich, dass sie, bei Kriegsende, Versorgungskrisen auszuhalten und die Restitution von Wirtschaft, Kommunen und Familien zu tragen hatten. Im Vergleich zu diesen lang anhaltenden, sich sequentiell wiederholenden Verwicklungen der Zivilbevölkerung in die Geschehnisse des 2. Weltkrieges erscheinen deren vielfältige Kriegserfahrungen in der offiziellen Erinnerungskultur bislang ausgesprochen unterrepräsentiert. Weithin stehen die Erfahrungen und Erinnerungen der aktiven Kombattanten und politisch-militärischen Strategen des Weltkrieges im Vordergrund des offiziellen „kulturellen Kriegsgedächtnisses“, das in den Jahrzehnten nach dem historischen Ereignis aufgebaut wurde.
Sechs Jahrzehnte nach dem Ende des 2. Weltkrieges sind mittlerweile die jüngsten Kohorten der Zivilbevölkerung, deren Lebensgeschichte noch durch die Erfahrung von Kriegs- und unmittelbarer Nachkriegszeit geprägt sind, in das Ruhestandsalter vorgerückt. Es handelt sich im Kern um die Jahrgänge der zwischen 1930 und 1940 Geborenen, die am Beginn ihres Lebens, als Kinder, in dieses welthistorische Ereignis hineingezogen wurden, und die gegenwärtig etwa zwischen Mitte 60 Jahre und Mitte 70 Jahre alt sind.

Die Studiengruppe hat aus diesem Grund und aus Anlass der 60. Wiederkehr des Kriegsendes die Erfahrungen und Erinnerungen der Kriegskinder des 2. Weltkrieges, der letzten noch verbleibenden zivilen Kriegsgeneration, zum Thema des wissenschaftlichen und politisch-kulturellen Diskurses gemacht. Das Forschungsprojekt soll dazu beitragen, die Summe der Erfahrungen dieser historischen Generation in das „kommunikative Gedächtnis“, in die öffentlichen Diskurse und Erinnerungskulturen der am Krieg beteiligten und vom Krieg betroffenen Länder zu reintegrieren.
Die Studiengruppe möchte das Thema nicht auf die unmittelbaren Erfahrungen der Kriegs- und Nachkriegsjahre und damit auf die Jahre der Kindheit beschränkt wissen. Es geht ebenso um die vielfältigen Bedeutungen, welche die Erfahrung von „Kriegskindheit“ für die weitere individuelle und generationelle Lebensgeschichte der Betroffenen angenommen hat. Hier gilt es insbesondere Anregungen aufzugreifen und fortzuführen, die aus Kreisen der Gerontologie, der Entwicklungspsychologie des Lebenslaufs und der Psychotherapie erwachsen sind, und in denen es um mögliche riskante Langzeitfolgen von Kriegskindheiten geht, die erst im Prozess des Alterns dieser Generation – und das bedeutet: in der gegenwärtigen medizinisch-therapeutischen Praxis – sichtbar werden. Eine weitere Forschungsfrage bezieht sich sodann auf die Geschichte der Mentalitäten und politischen Kulturen in den vom Weltkrieg betroffenen nationalen Gesellschaften. Lassen sich Zusammenhänge zwischen dieser Geschichte und den Kriegserfahrungen der zivilen Bevölkerung – und hier insbesondere die Generation der „Kriegskinder“ – herstellen? Eine solche Frage ließe sich beispielsweise an die Nachkriegsgeschichte der europäischen Wohlfahrtsstaaten stellen, an die Entwicklung demokratischer Kultur, die Ost-West-Konfrontation, aber auch an die Restaurierung von Wirtschaft, Familie, Kirche, Bildung und der darauf bezogenen kollektiv geteilten Wertvorstellungen und Moralsysteme.

Die Studiengruppe möchte diesen Fragen in drei Etappen nachgehen: Zunächst sollen die Kriegskindheiten des 2. Weltkrieges in ausgewählten europäischen Ländern – unter Einbeziehung von Japan und Nordamerika – sozial- und kulturgeschichtlich rekonstruiert werden (Stand der aktuellen Forschungen). In einem zweiten Schritt werden die nationalen Erinnerungskulturen zu diesen Kriegskindheiten, so wie sie sich in sechs Jahrzehnten Nachkriegsgeschichte entwickelt haben, transnational miteinander verglichen. Schließlich geht es, drittens, um eine wissenschaftliche Würdigung der möglichen lebensgeschichtlichen und politisch-kulturellen Folgen, die mit den historischen Erfahrungen dieser Generation von Kriegskindern des 2. Weltkrieges verknüpft sind.

Diese drei Arbeitsschritte werden jeweils von internen Workshops der Studiengruppe, Einladungen internationaler Referenten und Projektgruppen sowie von Internet-Auftritten und einer Broschürenreihe zum Forschungsstand begleitet und von auf wissenschaftliche Nachhaltigkeit bedachten internationalen Tagungen mit je eigenen Buchpublikationen abgeschlossen. Ein in die internationale Medienöffentlichkeit hineinwirkendes Zeichen soll eine Tagung im April 2005 (60 Jahre Kriegsende) setzen.

Als Fellows gehören der Studiengruppe an:
Prof. Dr. Hans-Heino Ewers (Frankfurt), Prof. Dr. Insa Fooken (Siegen), Prof. Dr. Gereon Heuft (Münster), Prof. Dr. Hartmut Radebold (Kassel), Prof. Dr. Jürgen Reulecke (Gießen), Dr. Jana Mikota (Siegen/Essen) und Prof. Dr. Jürgen Zinnecker (Essen/Siegen) als wissenschaftlicher Leiter.

Am 8. Oktober um 19.30 Uhr findet am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen die Eröffnung der neuen Studiengruppe statt. Den öffentlichen Festvortrag "Im Alter wacht die Kindheit auf" hält der Psychoanalytiker und einer der führenden Forscher der Alterspsychotherapie Prof. Dr. Hartmut Radebold.

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