Rudolf Morsey, der Nestor der bundesrepublikanischen Zeitgeschichtsschreibung, ist am 14. Mai 2024 im Alter von 96 Jahren verstorben – wenige Tage vor dem 75. Jubiläum des Grundgesetzes, dessen Entstehung im Parlamentarischen Rat er als einer der ersten erforscht hat.
Morsey wurde 1927 in Recklinghausen geboren, in einer Familie, die tief im katholischen Milieu verwurzelt war. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten war für ihn ein zeitlebens prägendes Ereignis, das tief in sein persönliches Umfeld hinein gewirkt hat: Sein Vater verlor seine Stelle, weil er sich geweigert hatte, der NSDAP beizutreten. Die Familie entzog sich den Anfeindungen durch den Umzug nach Münster, wo Morsey das angesehene Gymnasium Paulinum besuchte. In der Endphase des Zweiten Weltkriegs wurde er als Flakhelfer eingezogen und geriet in US-Gefangenschaft.
Mit dem Beginn des Geschichtsstudiums 1947 an der Universität Münster hatte Rudolf Morsey sein Betätigungsfeld gefunden. Er knüpfte Kontakte zum Zentrumsprälaten Georg Schreiber, dem in der Weimarer Republik einflussreichsten Wissenschaftspolitiker der katholischen Partei. In der Nachkriegszeit war Schreiber, der zeitweise auch Rektor der Universität Münster war, durch die Bestimmungen des Reichskonkordats an einer Mitgliedschaft in der CDU gehindert, nahm aber vielfach inoffiziell Einfluss. Der junge Student wurde zum „Adlatus“ Schreibers. Morsey hat dem Wirken Schreibers noch 2016 ein von der Konrad-Adenauer-Stiftung publiziertes Erinnerungsbuch gewidmet. Wie für einen katholischen Wissenschaftler damals selbstverständlich, trat Morsey der katholischen „Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft“ bei. Ihr gehörte er bis zu seinem Tode an, von 1977 bis 2003 als Vizepräsident und von 1979 bis 2000 als Mitherausgeber des „Historischen Jahrbuchs“.
Morseys akademische Karriere verlief rasch und gradlinig. Im Anschluss an die Promotion zur „obersten Reichsverwaltung unter Bismarck“ bei Kurt von Raumer wechselte er nach Bonn und habilitierte sich dort 1965 über die Geschichte der Deutschen Zentrumspartei 1917–1923. In Würzburg, wohin er gleich im Anschluss berufen worden war, hielt es ihn nicht lange. Bereits 1970 folgte er dem Ruf an die Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer, die bis zur Emeritierung 1996 seine Wirkungsstätte blieb. Hier bot sich das ideale Umfeld für die Vertiefung seiner Forschungsinteressen und das Engagement in den außeruniversitären Gremien. Das Ergebnis ist ein wissenschaftliches Lebenswerk von gewaltigem Umfang – Morseys Schriftenverzeichnis listet mehr als 1300 von ihm selbst verfasste oder herausgegebene Einzeltitel.
So schwierig es sein mag, ein solches Oeuvre zu kategorisieren, lässt sich doch feststellen, dass es vor allem die Frage nach dem Scheitern und Gelingen der deutschen Demokratien im 20. Jahrhundert gewesen ist, die Morsey umgetrieben hat. Dabei nahm er, was die Entwicklung sowohl der Weimarer Republik als auch der Bonner Nachkriegsdemokratie betrifft, Strukturen und Personen gleichermaßen in den Blick: Der Parlamentarismus als Ordnungsprinzip der repräsentativen Demokratie beschäftigte ihn ebenso wie die Geschichte der Parteien als Foren der politischen Willensbildung und die Biografie Konrad Adenauers als prägender Gründungsfigur der Bundesrepublik Deutschland.
Morseys Wirken wäre nur unvollständig beschrieben, wenn man seine wissenschaftsorganisatorische Tätigkeit ausließe. Im „konservativen Dreigestirn“ zusammen mit dem Bonner Frühneuzeitler Konrad Repgen und dem Politikwissenschaftler Hans-Peter Schwarz war Morsey an der Etablierung etlicher wissenschaftlicher Institutionen und Forschungsreihen beteiligt, die seither aus der deutschen zeithistorischen Forschung nicht mehr wegzudenken sind. Neben der der Erforschung des deutschen Katholizismus dienenden „Kommission für Zeitgeschichte“ 1962 stieß Morsey – hier v.a. zusammen mit Schwarz – die Erforschung der „Ära Adenauer“ an. Zudem saß er dreißig Jahre lang, von 1968 bis 1998, der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien vor.
Für die Konrad-Adenauer-Stiftung war Morsey ein unermüdlicher Ideen- und Ratgeber. Die ersten Kontakte ergaben sich schon in den 1950er Jahren, besonders prägend wirkte er aber durch seine Rolle – neben Repgen und Klaus Gotto, dem damaligen Geschäftsführer der „Kommission für Zeitgeschichte“ – bei der wissenschaftlichen Etablierung des 1976 errichteten „Archivs für Christlich-Demokratische Politik“. Morsey stellte als einer der angesehensten deutschen Zeithistoriker die wissenschaftliche Qualität der Veröffentlichungen des jungen Archivs von Anfang an sicher. Als Mitherausgeber der Publikationsreihe der „Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte“ bis zuletzt verantwortete er u.a. die Edition der Protokolle des CDU-Bundesvorstands und etliche Studien zur Geschichte der christlichen Demokratie in Deutschland und Europa. Auch in den seit 1994 erscheinenden „Historisch-Politischen-Mitteilungen“ war er ein langjähriges Beiratsmitglied.
Zur Person Konrad Adenauers fand Morsey als Zeitgenosse und Beobachter gleichermaßen. Seine erste Veröffentlichung (im Neuen Westfälischen Kurier) datiert vom 12. Oktober 1949, knapp einen Monat nach der Kanzlerwahl am 15. September. Die Dissertationsschrift wurde 1957, dem Jahr der vierten Bundestagswahl, publiziert. Morseys Quellendokumentation über „Adenauers Opposition gegen die Gleichschaltung des Preußischen Landtags 1933“ erschien neun Monate vor dem Kanzlerrücktritt 1963 in der Januar-Ausgabe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte.
Seit den 1970er Jahren zählte Rudolf Morsey zu jener Forschergruppe, die sich im Umfeld der Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus intensiv mit Politik und Persönlichkeit des ersten Bundeskanzlers beschäftigte. Seine zahlreichend Einzelstudien – etwa zu Adenauers Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg oder den Erfahrungen in der nationalsozialistischen Diktatur – sind bis heute vorbildlich in ihrer analytischen Tiefenschärfe und methodischen Quellenauswertung. Was die Verdienste um die Adenauerforschung betrifft, so Hans-Peter Schwarz im Nachwort seiner großen Biografie von 1986, muss Morseys Name „an erster Stelle“ genannt werden.
Dem wissenschaftlichen Beirat der Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus gehörte Morsey seit 1970 für 48 Jahre an, von 1981 bis 2001 amtierte er als Vorsitzender. Kein anderes Gremienmitglied hat länger in Rhöndorf gewirkt. Sein bleibendes Vermächtnis stellt vor allem die Edition „Rhöndorfer Ausgabe“ dar, die er gemeinsam mit Hans-Peter Schwarz über dreißig Jahre hinweg herausgab. 19 Bände mit Spitzendokumenten aus dem Adenauer-Nachlass und anderen Beständen sind unter der Ägide des Duos „Morsey/Schwarz“ erschienen, angefangen von den „Briefen 1945–1947“ (1983) bis zur koalitionspolitischen Themenpublikation „Adenauer und die FDP“ (2013). Dass die Edition anerkannt hohe Standards etablierte, verdankte sie nicht zuletzt Morseys intensivem Herausgeberlektorat, das keineswegs nur auf konzeptionelle Fragen beschränkt war, sondern auch kleinste Details des Anmerkungsapparats umfasste und somit stets auf die Qualität des Gesamtprodukts abzielte.
Mit Rudolf Morsey ist nun der letzte Historiker verstorben, der die Frühgeschichte der Bundesrepublik aus einem zeitgenössischem Erfahrungshorizont heraus erschlossen hat. Das Lebenswerk dieser Generation wirkt fort, zugleich wird es zunehmend selbst historisiert und Gegenstand des wissenschaftlichen Interesses. Einem klassischen Schriftgelehrten wie Rudolf Morsey wäre das nur recht gewesen.