Polesien als Interventionslandschaft. Raum, Herrschaft, Technologie und Ökologie an der europäischen Peripherie 1915-2015

Von
Silke Fengler

Die Geschichte des östlichen Europa im 20. Jahrhundert wird häufig als Gewalt- und Katastrophengeschichte konzeptualisiert. Das Forschungsprojekt „Polesien als Interventionslandschaft“ beabsichtigt, anhand der Geschichtslandschaft Polesien, welche infolge zweier Weltkriege und der Katastrophe von Tschernobyl sowohl Gewalt- als auch Katastrophenerfahrungen aufzuweisen hat, eine Alternative zum Narrativ "from bloodlands to nuclear wastelands" zu entwickeln. Zu diesem Zweck wurde ein innovatives Leitkonzept, jenes der Interventionslandschaft, entwickelt.

Der empirische Referenzraum des Projekts, Polesien, ist eine ausgedehnte Sumpf- und Waldlandschaft im Einzugsgebiet des Flusses Pripjat im ukrainisch-belarussisch-russischen Grenzgebiet. Im 20. Jahrhundert fanden hier massive Interventionen in die Landschaft und die häufig noch in vormodernen Traditionen verhaftete Gesellschaft statt. Dazu gehören zentralisiertes Verwaltungshandeln, social engineering, Integrations- und Modernisierungsoffensiven, Genozid und asymmetrische Kriegsführung, Technologie-, Agrar-, Energie- und Infrastrukturpolitik; schließlich seit 1986 die Technikfolgen-Bewältigung nach der nuklearen Katastrophe. Akteure dieser Interventionsgeschichte waren polnische und sowjetische Behörden, deutsche Besatzer, wissenschaftlich-technische Experten, Arbeitsmigranten und die alteingesessene Bevölkerung.

Das Leitkonzept der Interventionslandschaft wurde geschaffen, um die in Modernisierungskonzepten häufig vernachlässigten Wechselbeziehungen zwischen Herrschaft, Raum, Technologie/Artefakt und Akteuren unterschiedlicher Ebenen angemessen zu beschreiben. Es verbindet Ansätze der Umweltgeschichte, der Science, Technology and Society Studies sowie der Territorialisierungsforschung mit den Erkenntnissen der Diktatur- und Gewaltforschung.

Das Leitkonzept der Interventionslandschaft wird durch ausgewählte Charakteristika definiert, darunter Territorialisierung (Durchdringung, Kontrolle), Planung, Optimierung, Impedanz (Widerstandswirkung landschaftlicher Gegebenheiten oder Akteure gegen Intervention), Aneignung seitens lokaler Akteure sowie Asymmetrie der Machtmittel von Herrschern und Beherrschten, Impact (Intervention wird als nachhaltig umwälzend empfunden), Novität (historische Neuartigkeit von Eingriffen) und Transzendenz (Eingriffe als Teil eines höheren Plans).

Drei Fallstudien sollen die theoretisch-konzeptuellen Vorannahmen am historischen Befund überprüfen. Das an der Universität Siegen angesiedelte Teilprojekt „Herrschaftspraktiken und Verwaltungshandeln im Zeitalter der Weltkriege, 1915-1945“ fragt danach, mit welchen Zielen und Methoden militärische und zivile Interventen in Kriegs- und Friedenszeiten ihre Herrschaft über und mit den Einheimischen im als widerständig empfundenen, dünn besiedelten Raum Polesiens etablierten. Das an der Universität Gießen angesiedelte Teilprojekt „Melioration und Kollektivierung im belarussischen Polesien, 1965-2015“ untersucht die Trockenlegung der Sümpfe in der Belarussischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Neben der Interaktion von städtischen Expertenkulturen und dörflichen Lebenswelten steht insbesondere die Interdependenz von Umweltkatastrophe und Naturschutz im Fokus. Das am Herder-Institut in Marburg beforschte Teilprojekt „Polesien als Nuklearlandschaft und die Transformationen lokaler Identitäten, 1965-2015“ untersucht die Geschichte des ukrainischen Polesien im Kontext der (post-)sowjetischen Atomenergiewirtschaft. Es beschreibt die neuartigen Beziehungen, die durch die Interaktion von technologischen Artefakten, Akteuren und Landschaft entstanden und fragt, wie das technopolitische Regime lokale Identitäten und Lebenswelten transformierte.

Die Konzeptionierungs- und die empirische Forschungsarbeit des Gesamtprojekts werden durch einen Konzeptworkshop, Meilensteintagungen und eine internationale Sommerschule ergänzt. Osteuropäische Kooperationspartner aus Universität und Zivilgesellschaft arbeiten dabei mit der Projektgruppe zusammen.