A. Steen: Zwischen Unterhaltung und Revolution

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Titel
Zwischen Unterhaltung und Revolution. Grammophone, Schallplatten und die Anfänge der Musikindustrie in Shanghai, 1878-1937


Autor(en)
Steen, Andreas
Erschienen
Wiesbaden 2006: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
525 S.
Preis
€ 78,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lena Henningsen, Institut für Sinologie, Universität Heidelberg

Ausgehend vom Medium Schallplatte zeichnet Andreas Steen in seiner 2006 veröffentlichten Dissertation die Entstehung und Entwicklung der chinesischen Musikindustrie in Shanghai nach. Eingebettet in den weiteren historischen Kontext entwirft er dabei ein lebendiges Bild der musikalischen Szene und ihrer Akteure. Durch die Fokussierung auf ein in der sinologischen Forschung bislang wenig untersuchtes Medium beleuchtet der Autor die vermeintlich gegensätzlichen Phänomene Tradition und Moderne, fremde und eigene kulturelle Errungenschaften, Konsum und Propaganda. Produktion, Verkauf und Rezeption der Schallplatte zeigen, dass es sich bei diesen keineswegs um einander ausschließende Konzepte handelt. Vielmehr spiegeln sich in sämtlichen Anwendungen der Schallplatte Mischformen wider – und damit die Hybridität Shanghais im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert.

Zwar kam die Grammophon-, und Schallplattenindustrie als eine westliche Industrie im Dienste westlicher imperialistischer und kommerzieller Interessen nach China. Doch ihr Erfolg beruhte nicht nur auf westlichem Kapital und Know-how, sondern auf der Integration chinesischer Experten und auf der Nutzbarmachung des chinesischen musikalischen Repertoires. Schließlich wurde nicht nur westliche Musik nach China eingeführt. Vielmehr wurde chinesische Musik in China aufgenommen, in Europa oder Amerika auf Schallplatten gepresst und dann zum Verkauf an ein chinesisches Publikum wieder nach China eingeführt. Entsprechend waren die westlichen Konzerne auf chinesische Künstler ebenso angewiesen wie auf chinesische Mittelsmänner, die Kontakte zu diesen herstellten, Verträge aushandelten und Aufnahmesitzungen arrangierten. Hierbei zeigt sich, dass diese Mittelsmänner nicht willenlose Handlanger westlicher Unternehmen waren. Im Gegenteil, sie setzten den Produkten ihren eigenen Stempel auf. In der Frühzeit waren dies Liebhaber der Pekingoper, die das aufgenommene Repertoire prägten. Später gelang es Musikern wie Ren Guang und Nie Er, bei EMI sozialkritische Lieder zu platzieren, die ihren politischen Überzeugungen entsprachen (S. 425f). Auch erkannten die politischen Parteien das propagandistische Potential des neuen Mediums und schickten sich an, dieses auszunutzen.

Da die westlichen Firmen darauf zielten, Musik für ein chinesisches Publikum zu produzieren, waren nicht nur chinesische Akteure zentral für die frühen Schritte dieser Industrie, sondern auch der Klang der chinesischen Musik. Das chinesische musikalische Repertoire fand seinen Weg auf das neue Medium, und wurde in seiner weiteren Entwicklung von diesem stark geprägt, insbesondere gilt dies für die chinesische Oper sowie populäre chinesische Lieder.

Aufnahmen berühmter Opernsänger dienten Laien oder dem Nachwuchs als Unterrichtsmaterial. Damit brachte die Schallplatte den Klang der chinesischen Oper nicht nur – potentiell – in jedes Wohnzimmer, sondern leistete der Professionalisierung ebenso wie einer nationalen Vereinheitlichung des Stils Vorschub. Ohne die kommerziell motivierten Bemühungen der Schallplattenindustrie wäre dies nicht denkbar gewesen. Erfolgreiche Opern-Künstler wie Tan Xinpei – „unbestritten der erste ‚Schallplattenstar’ in China“ (S. 134) – oder Mei Lanfang konnten ihren Ruhm und ihre überragenden Interpretationen für die Nachwelt sichern. Gleichzeitig begründete ihre akustische Präsenz ihre Medienwirksamkeit – und im Falle Mei Lanfangs seinen Erfolg als Werbeikone.

Neben der Oper verhalf die Schallplatte auch anderen populären Formen zu Gehör, wie dem „Lied seiner Zeit“ (Shidaiqu, S. 245ff.). An der Verbreitung dieses Genres und dem Erfolg des Musikers Li Junhui wird deutlich, wie traditionelle und moderne Elemente erfolgreich eingesetzt wurden, um kommerzielle wie politische Interessen umzusetzen: in den Shidaiqu werden Elemente westlicher Schlagermusik und Jazz mit volkstümlichen Melodien und überlieferten Volksliedern kombiniert. Stärker noch als bei der Pekingoper ist die Popularität dieses Genres an das neue Medium gebunden. Damit wird deutlich, dass die neuen künstlerischen Entwicklungen zwar sehr wohl geistige Strömungen der Zeit widerspiegelten, in denen es um Erneuerung der chinesischen Kultur ging durch eine Rückbesinnung auf Wurzeln in der eigenen Tradition ebenso wie durch eine Nutzbarmachung neuer, westlicher Techniken. Darüber hinaus kann aber ein Vorrang kommerzieller Interessen vor politischen konstatiert werden.

Das Spannungsfeld „zwischen Revolution und Unterhaltung“ durchzieht die Studie wie ein roter Faden. Neben den oben geschilderten unterhaltenden Musikformen diente die Schallplatte auch als Medium zur Verbreitung politischer Ideen. Die Erkenntnis des propagandistischen Werts der Schallplatte schlug sich z.B. in Aufnahmen von Reden Sun Yatsens (S. 182) oder von politischen Liedern nieder, in den Bestrebungen, eine nationale chinesische Schallplattenindustrie zu fördern, aber auch in Bemühungen seitens der nationalistischen GMD-Regierung, die Produkte zu zensieren.

Das Buch basiert auf akribischer Quellenrecherche in diversen Archiven in China und Europa. Um die Entwicklung der Schallplattenindustrie möglichst genau nachzuzeichnen, greift der Autor neben diesem Archivmaterial auf Statistiken und Unterlagen der Schallplattenindustrie zurück. Darüber hinaus wertet er Berichte und Werbeanzeigen in zeitgenössischen chinesischen Tageszeitungen und Magazinen aus und zieht schlaglichtartig literarische Texte aus dem frühen 20. Jahrhundert hinzu, in denen berühmte chinesische Autoren wie Lu Xun, Mao Dun oder Ding Ling das Grammophon oder die Schallplatte thematisieren. Der Autor benennt dabei klar die Grenzen der Quellenlage und markiert nachvollziehbar, welche Thesen sich auf empirische Daten stützen lassen und welche Thesen auf spekulativen Indizien und gut begründeten Vermutungen beruhen.

Klare Zusammenfassungen am Anfang und Ende der Arbeit, sowie in den einzelnen Abschnitten erleichtern die Lektüre. Darüber hinaus wird der analytische Teil der Arbeit ergänzt durch einen umfangreichen Bildteil sowie Übersichtstafeln zur Schallplattenproduktion in China. Ein Personenindex findet sich am Ende des Buches. Ein Sachregister sowie der chinesische Wortlaut übersetzter Passagen fehlen leider.

Die Abwesenheit der klanglichen Komponente stellt ein weiteres – und bedeutenderes – Manko der Arbeit dar. Der Autor benennt zwar wiederholt die unterschiedlichen Traditionen, aus denen sich die Produkte der Schallplattenindustrie sowie der „hybride Klang Shanghais“ speisen. Doch in den Analysen exemplarischer Schallplatten liegt der Fokus auf den Liedtexten. Die akustischen Merkmale (melodische, rhythmische und harmonische Gestaltung, Instrumentierung, Verhältnis von Text und Musik) werden bestenfalls gestreift, nicht jedoch in die Analyse mit einbezogen. Eine klarere Beschreibung und Analyse dieses Aspekts hätte dem Leser des Buchs geholfen, den „Klang Shanghais“ nicht nur anhand abstrakter Kategorien (Jazz, klassische Orchestermusik, Pekingoper), sondern auf konkreten Klangerlebnissen nachzuvollziehen. Wie hat die Kombination unterschiedlicher Musikstile geklungen? Wie hat sie möglicherweise auf einen zeitgenössischen Hörer gewirkt, dem nicht nur die Schallplatte, sondern auch die darauf erklingenden musikalischen Inhalte völlig neu waren? Wie hybrid war der Klang tatsächlich? Ohne eine Antwort auf diese Fragen erscheint der „hybride Klang“ lediglich als eine konstatierte Kategorie. Dies ist umso bedauerlicher, als Steen die Hybridität in den übrigen Bereichen der Schallplattenproduktion sehr differenziert nachgezeichnet hat: in der für beide Seiten ertragreichen Kooperation zwischen westlichen und chinesischen Akteuren, zwischen westlichem technischen Know-how und chinesischem künstlerischen Input auf der Seite der Produktion, in der Interaktion zwischen Hörern und Produzenten, ebenso wie in der innovativen Kombination chinesischer und westlicher Elemente und in der kommerziell erfolgreichen Nutzbarmachung politischer Inhalte.

Mit seinem Buch zu den Anfängen der chinesischen Musikindustrie hat Andreas Steen eine fundierte, lesenswerte und gut lesbare Studie vorgelegt, die unser Bild von Shanghai in den Jahrzehnten um die Jahrhundertwende um einige Facetten erweitert und die Entstehung der chinesischen Schallplattenindustrie nachvollziehbar analysiert.

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