M. Gehler u.a. (Hrsg.): Von Sarajewo zum 11. September

Cover
Titel
Von Sarajewo zum 11. September. Einzelattentate und Massenterrorismus


Herausgeber
Gehler, Michael; Ortner, René
Erschienen
Innsbruck 2007: StudienVerlag
Anzahl Seiten
512 S.
Preis
€ 54,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Carola Dietze, German Historical Institute, Washington

Das Interesse der Öffentlichkeit an spektakulären Attentaten und terroristischen Anschlägen ist in der Regel stark, auch unabhängig von aktuellen Ereignissen. Man denke nur an die breite Rezeption, die Publikationen zum 20. Juli 1944 regelmäßig in Deutschland finden, oder an die Diskussionen, die von Amateurhistorikern in den USA ohne Unterlass zur Ermordung John F. Kennedys geführt werden. Innerhalb der „historischen Zunft“ ist die Aufmerksamkeit für diese Themen stärker vom Zeitgeschehen abhängig. In der Bundesrepublik haben insbesondere die Aktionen der Roten Armee Fraktion und der „Bewegung 2. Juni“ zu Konferenzen und Forschungen angeregt. Seit den Anschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon am 11. September 2001 haben Forschungen zum Terrorismus auch international eine besondere Konjunktur.

Der hier zu besprechende Band versammelt die Beiträge eines Seminars, das die beiden Herausgeber im Wintersemester 2002/03 an der Universität Innsbruck gehalten haben. In 16 Kapiteln behandeln Teilnehmer und Teilnehmerinnen des Seminars 15 politisch motivierte Attentate bzw. Anschläge, die im 20. Jahrhundert verübt worden sind. In dem Abschnitt „Moderne Attentate zwischen Monarchie und Diktatur“ geht es um das Attentat auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand, die Ermordung Walther Rathenaus, den Anschlag Georg Elsers auf Adolf Hitler, den Absturz der Maschine Władysław E. Sikorskis 1943 sowie das Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944. Unter der Überschrift „Moderne Attentate nach dem Zweiten Weltkrieg“ werden die Ermordung Mahatma Ghandis, das Attentat auf Rafael Leonidas Trujillo Molina, die Erschießung John F. Kennedys, die Ermordung Robert F. Kennedys, die Attentate des „Befreiungs-Ausschusses Südtirol“, die Geschichte der Roten Armee Fraktion, die Ermordung Aldo Moros und die Erschießung Izhak Rabins thematisiert. Im letzten Abschnitt „Postmoderner Massenterrorismus“ geht es schließlich um die Anschläge vom 11. September 2001 und ihre Folgen. Um die Vergleichbarkeit der verschiedenen Attentate zu gewährleisten, folgt die Behandlung der Fallbeispiele einem festgelegten Schema. Die Artikel gehen erstens auf die Attentäter und ihre Biographien ein, widmen sich zweitens den Opfern und deren Biographien, beschreiben drittens den Anschlag in Planung und Verlauf, viertens die mit dem Anschlag verfolgten politischen Ziele sowie fünftens die politischen Folgen des Attentats und seine spätere Rezeption. Viele Autoren sprechen darüber hinaus weitere historische Kontexte an.

Die Beiträge der Studierenden werden flankiert von zwei übergreifenden Kapiteln der Herausgeber. René Ortner schreibt einleitend über die Begriffe „Attentate“, „Terror“ und „Terrorismus“. Michael Gehler beschließt den Band mit einem Überblick zur Entwicklung des Terrorismus vom Ende des 19. Jahrhunderts bis heute. Dieser 127 Seiten starke Beitrag ist ambitioniert. Er will die in dem Band behandelten Attentate und terroristischen Aktionen rekapitulieren und durch weitere nicht berücksichtigte, aber ebenso wichtige Anschläge ergänzen, sie bezüglich ihrer Wirkungen zusammenfassend bewerten, den „Wandel vom modernen Einzelattentat zum postmodernen Massenterrorismus“ analysieren sowie schließlich Antworten darauf geben, „wie mit diesen umzugehen und dagegen vorzugehen sinnvoll erscheint“ (S. 361ff.).

Ein Sammelband mit studentischen Referaten oder Hausarbeiten zu bedeutenden Attentaten des 20. Jahrhunderts hat mit einem grundlegenden Problem zu kämpfen. Er kann keine eigenen Forschungsergebnisse präsentieren, sondern bestenfalls Forschungsergebnisse anderer zusammenfassen. Das muss nicht per se ein Makel sein. Eine gutgeschriebene Darstellung und Analyse verschiedener Attentate würde ihr Publikum finden, wie der Erfolg einer Anthologie Jörg von Uthmanns zeigt.1 Doch der vorliegende Band bietet weder dem Historiker noch dem historisch interessierten Laien, was er sucht.

Orthographische und grammatikalische Fehler sowie stilistische Ungeschicklichkeiten stören die Lektüre wiederholt. Die Häufigkeit handwerklicher Fehler lässt den Leser nicht vergessen, dass er es hier mit Seminararbeiten zu tun hat.2 In einigen Kapiteln schlagen die Bewertungen der herangezogenen Literatur unmittelbar in die Urteile und Sprache der Autoren durch, insbesondere im Beitrag zu Sikorski. In den Kapiteln zum 20. Juli und zum Attentat auf Trujillo wird die Analyse überschattet von moralischer Empörung oder dem Versuch, Schuld zuzuweisen. Stereotype Bilder von Lateinamerika und den USA (S. 128, S. 337ff., S. 448) sowie anti-amerikanische und anti-italienische Ressentiments (etwa S. 237, S. 245, S. 333, S. 338) trüben den Leseeindruck weiter.

Besonders unangenehm ist es, wenn sich Ressentiments mit unzureichender Literaturkenntnis und überzogener Selbstsicherheit paaren. „Wir haben an Flugzeugentführung im herkömmlichen Sinn gedacht, nicht aber an Selbstmordattentäter, die Passagierflugzeuge wie Raketen einsetzen“, zitiert Daniela Kundmann den Sprecher des Weißen Hauses Ari Fleischer und urteilt: „Unverständlich, da seit dem ersten Anschlag auf das World Trade Center 1993 doch deutlich zu erkennen war, dass ein weltweit agierendes Netzwerk von Islamisten versuchte, das Land im großen Stil zu attackieren.“ (S. 326) Und kurz darauf fragt sie suggestiv: „Warum konnten diese jungen Männer [d.h. die Attentäter des 11. September] völlig sicher und ungehindert ihren Vorbereitungen für die tödlichen Anschläge auf amerikanischen Boden nachgehen, obwohl einige von ihnen angeblich auf der Watchlist der CIA standen oder wie Mohammed Atta [...] gesucht wurde [sic]?“ Den Bericht der Untersuchungskommission zu den Anschlägen des 11. September, der genau auf diese Frage eine Antwort zu geben versucht, und mit dem man sich folglich auseinanderzusetzen hätte, selbst wenn man sich kritisch zu ihm stellt, sucht man im Literaturverzeichnis vergeblich.3

Mag man den beteiligten Studenten und Studentinnen zugute halten, dass sie es nicht besser wissen können, wenn es ihnen niemand zeigt, gilt dies für die Herausgeber nicht. Ortner stellt in seinem Beitrag zu den Begriffen „Attentat“, „Terror“ und „Terrorismus“ eine Reihe von Definitionen nebeneinander, ohne sie in ihrer Bedeutung zu diskutieren. Den Mühen der Literaturrecherche und -rezeption fühlt er sich meistenteils enthoben: Beispielsweise ersetzt ihm die private Website <http://www.marx-forum.de/philosophie/personen/personen-b/bakunin.html> die Lektüre von Literatur zu Bakunin und den Auseinandersetzungen zwischen Anarchisten und Kommunisten (S. 14, Anm. 13). So kann es nicht verwundern, dass seine Ausführungen unklar bleiben.

Gehler hingegen zitiert anstelle von Fachliteratur überwiegend Zeitungsartikel. Die unsystematische Literaturkenntnis wirkt sich unter anderem auf seine Periodisierungen aus. Wenn etwa Max Hödel bei seinem Attentat auf Wilhelm I. nicht allein handelte, wie Andrew R. Carlson mit guten Argumenten behauptet hat4, wäre er nach Gehlers Definition womöglich eher ein „moderner“ als ein „vormoderner“ Attentäter. Und wenn es so wenig bedarf, um ein Attentat von einer Kategorie in die andere wechseln zu lassen, stellt sich die Frage, ob die Periodisierung in dieser Form sinnvoll gefasst ist. Man wird Gehlers Kapitel sicher eher gerecht, wenn man es als Überlegungen eines engagierten und besorgten Europäers liest und weniger als Beitrag zur Geschichtswissenschaft. Doch auch dann bleibt lästig, dass die in manchem überzeugenden Beobachtungen zur Veränderung des Terrorismus im 20. und beginnenden 21. Jahrhundert über einen Text verstreut sind, der vielfach wiederholt, was in den studentischen Beiträgen zuvor schon ausgeführt ist.

Fazit: Der Sammelband ist wissenschaftlich wertlos, da er keine neuen Erkenntnisse liefert und Bekanntes nicht überzeugend synthetisiert. Der historisch interessierten Öffentlichkeit ist er nicht zu empfehlen, da er über weite Strecken mühsam zu lesen und zudem nicht gerade preiswert ist. Wer sich für Attentate und die Geschichte des Terrorismus interessiert, greife deshalb lieber zu den wissenschaftlich profunden und zugleich gut geschriebenen Bänden von Alexander Demandt oder Michael Sommer.5

Anmerkungen:
1 Von Uthmann, Jörg, Attentat. Mord mit gutem Gewissen, Berlin 1996.
2 Vgl. beispielsweise die fehlenden, ungenauen oder falschen Nachweise für Text und/oder Bilder (etwa S. 50-53, S. 114, S. 417, S. 437, S. 472), die überlangen Zitate aus Quellen, Zeitungen und Sekundärliteratur ohne ersichtliches Ziel und eigene Analyse (etwa S. 93, S. 104f., S. 229, 232, S. 363f., S. 460, S. 466-471) oder das Unvermögen, Quellenzitate nach anderen Werken korrekt als solche auszuweisen (etwa S. 61, Anm. 15; S. 108, Anm. 11, 24, 27).
3 The 9/11 Commission Report. Final Report of the National Commission on Terrorist Attacks upon the United States. Authorized Edition, New York o.J. [2004], online unter URL: <http://www.gpoaccess.gov/911/pdf/fullreport.pdf>.
4 Carlson, Andrew R., Anarchismus und individueller Terror im Deutschen Kaiserreich, 1870–1890, in: Mommsen, Wolfgang J.; Hirschfeld, Gerhard (Hrsg.), Sozialprotest, Gewalt, Terror. Gewaltanwendung durch politische und gesellschaftliche Randgruppen im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1982, S. 207-236. Ein Hinweis auf diesen wichtigen Band fehlt bei Gehler/Ortner.
5 Demandt, Alexander (Hrsg.), Das Attentat in der Geschichte, Köln 1996; Sommer, Michael (Hrsg.), Politische Morde. Vom Altertum bis zur Gegenwart, Darmstadt 2005.

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