M. Gebhardt u.a. (Hrsg.): Familiensozialisation seit 1933

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Titel
Familiensozialisation seit 1933 - Verhandlungen über Kontinuität.


Herausgeber
Gebhardt, Miriam; Wischermann, Clemens
Reihe
Studien zur Geschichte des Alltags 25
Erschienen
Stuttgart 2007: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
211 S.
Preis
€ 54,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Eva-Maria Silies, Graduiertenkolleg Generationengeschichte, Georg-August-Universität Göttingen

„Familie als Sozialisationsagentur“, „Generationenkrieg“, „Single-“ bzw. „Minimum-Gesellschaft“ – das sind mediale Schlagworte, mit denen die Herausgeber Miriam Gebhardt und Clemens Wischermann die Bedeutung ihres Sammelbandes in der aktuellen Diskussion herausheben möchten. Dabei geht es vor allem um die Frage nach dem historischen Wandel von Sozialisation im Familienkontext mit besonderem Fokus auf der frühkindlichen Phase. Die Autorinnen und Autoren fragen nach der Bedeutung von Sozialisation, ihren Trägern oder dem Einfluss auf familiale Beziehungen. Auf den zweiten Blick schwingt in einer Vielzahl der Beiträge die Frage mit, wie unterschiedliche Erziehungs- und Familienkonzepte in verschiedenen historischen Zeitabschnitten und politischen Systemen funktionierten bzw. diese beeinflussten oder von ihnen beeinflusst wurden. Bewusst wählen die Herausgeber nicht 1945 als Zäsur, sondern beziehen die NS-Zeit in den Untersuchungszeitraum ein, so dass in mehreren Beiträgen auf die Kontinuitäten und Brüche in der Theoretisierung und Umsetzung von familialer Sozialisation vor, während und nach dem Krieg eingegangen werden kann – eine Herangehensweise, die in der Sozialisationsforschung bisher zu wenig berücksichtigt worden sei.

Dabei unterscheiden sich die zehn Beiträge, die aus einer Konstanzer Tagung von 2004 hervorgegangen sind, nicht nur disziplinär und methodisch, sondern auch quantitativ und qualitativ. Um ein Fazit bereits vorwegzunehmen: Es wäre vielleicht ein Gewinn gewesen, die Aufsätze noch stärker unter einer gemeinsamen Fragestellung, einem zu verifizierenden oder abzulehnenden Konzept zusammenzuführen. Mit dem von Kurt Lüscher beigetragenen Text ist zunächst ein guter Anfang gemacht. Lüscher definiert sein Verständnis von „Sozialisation“ in der doppelten Perspektive von Individuum und Gesellschaft und setzt diese in Beziehung mit den Erfahrungen von Ambivalenz auf der einen und Generationenlernen auf der anderen Seite. Ambivalenzerfahrungen sieht er im Sozialisationsprozess als Möglichkeit, unterschiedliche, ja durchaus gegensätzliche Erfahrungen zu machen (S. 35), während Generationenlernen solche Formen des Lernens bezeichnet, in denen das Lebensalter bzw. die Generationenzugehörigkeit der Individuen einer Familie von entscheidender Bedeutung ist (S. 40). Es wäre spannend gewesen, sein Modul (das im Unterschied zu einem „Modell“ keinen umfassenden Erklärungsanspruch hat) zu vier unterschiedlichen Arten der Sozialisation im Folgenden bei anderen Autoren angewendet zu sehen und es damit auf seine Tragfähigkeit untersuchen zu können.1

Stattdessen dominiert in den folgenden drei Aufsätzen ein schon immer populäres Genre der Sachliteratur: der Elternratgeber. Genauer noch, in den Texten von Gudrun Brockhaus, Markus Höffer-Mehlmer und Miriam Gebhardt geht es – wenn auch nicht ausschließlich – um die Eltern- (oder besser: Mütter-)Ratgeber Johanna Haarers, die ihre größten Erfolge in der NS-Zeit hatte, aber bis in die 1970er-Jahre noch beachtliche Auflagenhöhen erreichte, und des US-Amerikaners Benjamin Spock, dessen Ratgeber „The Common-Sense Book of Baby and Child Care“ angeblich das nach der Bibel meistverkaufte nicht-fiktionale Buch der Welt ist (S. 75, S. 99). Der für die historische Perspektive interessanteste Text ist derjenige von Miriam Gebhardt, die die Hauptwerke der beiden Autoren für die Zeit nach 1945 vergleichend analysiert und dabei unterschiedliche Menschen- bzw. Kinderbilder ausmachen kann: Haarer stellte das Kind als von Natur aus geradezu bösartig dar, so dass die diesem Verhalten hilflos gegenüberstehende Mutter Anweisung und Hilfe durch außenstehende Kompetenz brauche; Spock hingegen charakterisierte das Kind als freundliches menschliches Wesen und sah seine Aufgabe darin, bei den Eltern Verständnis für das Kind zu wecken und Hilfe im alltäglichen Umgang anzubieten. Gerade anhand dieser Differenzen kann Gebhardt zeigen, dass sich in Westdeutschland nach 1945 noch bis in die 1960er- und 1970er-Jahre Vorstellungen der frühkindlichen Sozialisation hielten, die in der Zeit zwischen 1933 und 1945 überaus populär gewesen waren. Jedoch war das von Spock vertretene Sozialisationskonzept keine so revolutionäre amerikanische Erfindung, wie viele Zeitgenossen vielleicht glaubten; zu Recht betont Gebhardt, dass derartige Positionen bereits in der Weimarer Zeit sehr verbreitet gewesen waren (S. 103).

In einem mit „Erinnerung und Dialog“ überschriebenen Kapitel beschäftigen sich zwei Beiträge ebenfalls mit den Folgen von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg, nun aber eher auf der psychisch-sozialen Ebene und weniger auf Grundlage konkreter Erziehungskonzepte in der Familie. In Lu Seegers’ Beitrag zur Vaterlosigkeit als Form der Familiensozialisation in der Nachkriegsgesellschaft wird deutlich, wie sehr nicht nur in der Eigenwahrnehmung der vaterlos aufgewachsenen Jugendlichen, sondern auch in der historischen und psychologischen Forschung diese Thematik ausgeblendet worden ist. Obwohl schätzungsweise ein Viertel der jungen Bevölkerung in Deutschland nach dem Krieg vaterlos auswuchs (S. 108)2, ist bisher nur wenig bekannt über die Auswirkungen auf die betroffenen Individuen und die gesellschaftlichen Vorstellungen von Familie und Rollenbildern. In ihrem multiperspektivisch und trinational ausgerichteten Forschungsprojekt, das Interviews in Polen, Großbritannien und der Bundesrepublik umfasst, will Seegers die Bedeutung der Vaterlosigkeit für den Sozialisationsprozess inner- und außerhalb der Familien aufzeigen, sich dabei aber beispielsweise von der in Mode gekommenen Trauma-Forschung abgrenzen (S. 111). Anhand der ersten ausgewerteten Interviews mit Betroffenen kann sie zeigen, dass die in der Forschung teilweise vorgenommene Verknüpfung von Zugehörigkeit zur „68er-Generation“ und der Charakterisierung als (vaterlose) Kriegskinder in der Eigenwahrnehmung nicht existent ist (S. 116). In dem zweiten Beitrag des Kapitels analysiert Andreas Kraft die ab Mitte der 1970er-Jahre entstandene so genannte „Vaterliteratur“, in der sich Autoren, die überwiegend in der 68er-Bewegung aktiv gewesen waren, mit der Beteiligung ihrer eigenen Väter am Nationalsozialismus literarisch auseinandersetzten. Anders als Harald Welzer3 sieht Kraft die Beschäftigung der Söhne mit den möglichen Verbrechen der Väter als Versuch einer innerfamilialen Bewältigung der NS-Vergangenheit, die von den Jüngeren eingefordert und nicht, wie Welzer schlussfolgert, verschwiegen worden sei (S. 124f.).

Eine weitere, nicht zu unterschätzende Dimension in der familialen Sozialisation analysiert Ulf Preuss-Lausitz. Er plädiert dafür, die gegenseitigen Einflüsse von individuellen Körpererfahrungen und politisch-gesellschaftlichen Entwicklungen stärker zu berücksichtigen (S. 136). In seinem Beitrag führt er eine analytische Dreiteilung von „Energiekörper“, „Symbolkörper“ und „Lustkörper“ ein (S. 136f.) und demonstriert anhand verschiedener Zeitabschnitte des 20. Jahrhunderts, wie sich die unterschiedliche Ausgestaltung und die Verschiebung der einzelnen Bedeutungen vollzog. Die zeitliche Abgrenzung der einzelnen Zeitabschnitte bleibt aber leider diffus, sowohl im Hinblick auf die Festlegung von Beginn und Ende als auch bei der Begründung für den sich vollziehenden Wandel. Die Grenzen interdisziplinären Arbeitens und Publizierens werden an dem Beitrag von Heinz Walter und Eva Rass über das Phänomen ADHS/HKS (Aufmerksamkeitsstörungen) und den therapeutischen Umgang damit besonders deutlich. Leider bietet der Beitrag für die historische Perspektive keinerlei Erkenntnisgewinn.

Abschließend plädiert Andreas Lange für eine stärkere Einbeziehung der Populärkultur in die Analyse von Sozialisationsprozessen, weil dadurch die Verschiebung von Macht- und Wissensprozessen in den Familien von der älteren zur jüngeren Generation seit den 1960er-Jahren deutlich werde (S. 186). Dies wird durch aktuelle historische Forschungen bestätigt4, ebenso wie die Erkenntnis, dass die Familie in den letzten 40 Jahren nicht – wie häufig kolportiert wird – an Bedeutung verloren hat.

Alles in allem bietet der Sammelband mit einigen Texten interessante Denkanstöße und Forschungsinterpretationen, die weiterzuverfolgen für die Sozialisations- und Familienforschung gewinnbringend sein werden. Bei der Zusammenführung interdisziplinärer Forschungsansätze in diesem Kontext bleiben aber weiterhin Lücken, die mit dem Band nicht geschlossen werden können.

Anmerkungen:
1 Zumal Lüscher dieses Konzept bereits vor mehreren Jahren entwickelt und publiziert hat; vgl. Lüscher, Kurt, Die Ambivalenz von Generationenbeziehungen – eine allgemeine Hypothese, in: Kohli, Martin (Hrsg.), Generationen in Familie und Gesellschaft, Opladen 2000, S. 138-161.
2 Für die Daten vgl. Niehuss, Merith, Familie, Frau und Gesellschaft. Studien zur Strukturgeschichte der Familie in Westdeutschland 1945–1960, Göttingen 2001, S. 116f., und Radebold, Hartmut, Abwesende Väter. Folgen der Kriegskindheit in Psychoanalysen, Göttingen 2000, S. 18f. Beide betonen aber, dass diese Daten größtenteils auf Schätzungen beruhen.
3 Vgl. Welzer, Harald; Moller, Sabine; Tschuggnall, Karoline, „Opa war kein Nazi“. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt am Main 2002.
4 Vgl. zuletzt: Siegfried, Detlef, Time is on my Side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, Göttingen 2006.

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