G. Metzger: Liang Qichao, China und der Westen nach dem Ersten Weltkrieg

Titel
Liang Qichao, China und der Westen nach dem Ersten Weltkrieg. Ein Viertel der Menschheit hat gegenüber der gesamten Menschheit die Verpflichtung für ein Viertel ihres Glücks


Autor(en)
Metzger, Gilbert
Erschienen
Münster 2006: LIT Verlag
Anzahl Seiten
328 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dominic Sachsenmaier, Duke University

Das Buch mit dem etwas barocken Untertitel geht auf eine Dissertation zurück, die am sinologischen Institut der Universität Trier entstanden ist. Hauptgegenstand ist die Schrift „Eindrücke einer Europareise“ (Ouyou xinying lu) des chinesischen Journalisten, Gelehrten und Reformpolitikers Liang Qichao (1873-1929). Als einer der bedeutendsten öffentlichen Intellektuellen seiner Zeit wurde Liang inoffizielles Mitglied der chinesischen Delegation bei den Pariser Friedensverhandlungen, bei denen unter anderem auch der Status der ehemaligen deutschen Kolonien in der Provinz Shandong geklärt werden sollte. Liang nutzte seinen Aufenthalt in Europa zu ausgedehnten Reisen und Treffen mit einer Vielzahl führender Politiker, Künstler und Wissenschaftler. Seine Eindrücke und Erkenntnisse publizierte er zunächst stückweise in chinesischen Zeitungen. Später ergänzte er diese Artikel und fügte sie in der von Gilbert Metzger analysierten Schrift zusammen, welche erstmals als Teil der „Gesammelten Werke aus der Kammer des Eistrinkers“ (Yinbingshi heji) erschien.

„Die Eindrücke einer Europareise“ gliedern sich im Wesentlichen in zwei Teile. Im zweiten Part widmet sich Liang nicht nur Themenkreisen wie dem entstehenden Völkerbund, sondern schildert auch seine Impressionen von verschiedenen Orten wie etwa London oder einzelnen Frontabschnitten nach dem Krieg. Metzger zitiert einige interessante Reisebeobachtungen des chinesischen Betrachters, wie zum Beispiel Liangs Darstellungen der Versorgungsknappheit und der angespannten sozialen Lage in einigen europäischen Städten. Im Wesentlichen widmet sich Metzgers Analyse jedoch den theoretischen Reflexionen im ersten Teil der „Eindrücke einer Europareise“, welche im wesentlichen die Implikationen des Ersten Weltkrieges für Visionen von Politik, Ethik und Weltordnung diskutieren. In diesem Zusammenhang erörterte der berühmte chinesische Intellektuelle die historischen und philosophischen Urgründe des Ersten Weltkrieges. Hierauf aufbauend skizzierte Liang Qichao die Grundzüge eines neuen Verhältnisses zwischen China und dem Westen und einer Neubewertung des Zusammenspiels zwischen Tradition und Moderne. In einer Zeit, in der sich große Teile der gebildeten Jugend für radikale Formen der Verwestlichung einsetzten, verschob sich das Bild Liang Qichaos in der Öffentlichkeit. Galt er ursprünglich als Vertreter der Reformkräfte, so wurde er nun dem Lager der Traditionalisten oder „Konservativen“ zugerechnet.

Gilbert Metzgers Studie stellt die Gedanken Liang Qichaos zu einer neuen Welt- und Kulturordnung sehr klar und umfangreich dar. Wie Metzger ausführt, deutete Liang Qichao die Ereignisse zwischen 1914 und 1918 vornehmlich als kulturelle Krise eines Kontinents, der sich zu sehr dem Liberalismus und dem Materialismus verschrieben hatte. Nach Liang hatten vor allem der wachsende Einfluss wissenschaftlicher Denkweisen und individuellen Besitzstrebens den soziokulturellen Halt Europas erodiert. In seinen Augen waren selbst künstlerische Tendenzen wie das Aufkommen einer naturalistisch orientierten Literatur Ausdruck einer wachsenden Geisteshaltung, die jeglichen Sinn für Gemeinschaft und für höhere Ideale schonungslosen Wahrheiten opferte. Aus der resultierenden kulturellen Orientierungslosigkeit, so der chinesische Denker, entsprangen widersprüchliche Ideologien wie etwa der Nationalismus und Sozialismus, die Europa näher an die Katastrophe des 1. August 1914 brachten. Dabei distanzierte sich Liang deutlich von der pessimistischen Grundstimmung vieler europäischer Zeitgenossen, die er seinen chinesischen Lesern gegenüber erwähnte. Europas Zustand mit all seinen Spannungen sei mit einer Krankheit zu vergleichen, die jedoch keineswegs unheilbar sei. Die philosophischen Entwürfe von Denkern wie etwa Henri Bergson oder Rudolf Eucken enthielten bereits das Potential, die gewaltigen Klüfte innerhalb der europäischen Kultur zu überbrücken und soziale wie auch politische Spannungen zu reduzieren. Hilfreich auf dem Weg zu einer gemäßigteren Form der Moderne sei auch, dass die Europäer während des Krieges die Abgründe von Wissenschaft und Technik deutlich erfahren hätten.

Dabei galt Liang Qichaos Hauptsorge nicht allein Europa, sondern vor allem auch China, wo sich seiner Meinung nach ähnlich zerstörerische Kräfte zusammenbrauten wie zuvor im fernen Westen. Gegen traditionsfeindliche Elemente innerhalb der chinesischen Jugend betonte er, dass Revolutionen als Irrwege des Westens im industriellen Zeitalter zu vermeiden seien. Anstatt sich lediglich an dem vermeintlichen Aufstieg Europas zu orientieren, solle China auch von dessen Katastrophe zwischen 1914 und 1918 lernen und somit die Wege zu behutsameren Formen des Fortschritts finden. Dabei, so betont Metzger, verfällt Liang Qichao weder einer Idealisierung Chinas noch vertritt er einen kulturellen Monadismus. In Liangs Denken entsteht kultureller Glanz unter anderem durch wechselseitige Beeinflussungen. China könne und solle weiterhin vom Westen lernen, so stellt er fest, doch sei es nun auch in der Lage, eigene, konfuzianische und sino-buddhistische Elemente in eine zukünftige stabile Ordnung Europas und der Welt einzuspeisen. Vor allem eine stärkere Verbindung von Politik und Moralität könne, so Liang, die Welt dem Traum gerechter und menschenwürdiger internationaler Beziehungen näher bringen. Auch könnten Aspekte der chinesischen Geisteswelt zu einer Aussöhnung zwischen Geist und Materie beitragen. Als Grundpfeiler einer zukünftigen Weltordnung betrachtete Liang ein kosmopolitisch orientiertes nationalstaatliches System mit einer starken Rolle transnationaler Organisationen. Nach Liang war insbesondere die konfuzianische Gelehrtenkultur mit ihrer Funktion als Träger eines übergeordneten Einheitsstaates dazu geeignet, eine tragende Rolle in einer solchen internationalen Gemeinschaft zu spielen.

In seiner Arbeit diskutiert Gilbert Metzger all diese Aspekte der „Eindrücke einer Europareise“, wobei er im Wesentlichen „eine Analyse des chinesischen Denkens aus sich selbst heraus“ anstrebt. Metzger schlägt Verbindungen zwischen Liang Qichaos Schrift und der chinesischen Geisteswelt der Zeit, wobei sein Analyserahmen sehr stark von der These einer chinesischen Reaktion auf den Westen abgesteckt bleibt. Neuere Ansätze, die der chinesischen Seite eine stärkere Eigendynamik zuschreiben, werden ebenso marginalisiert wie sozialhistorische oder transnationale Perspektiven. Bezeichnend ist, dass die Biographie Liang Qichaos sich im Anhang von Metzgers Studie findet, wobei insbesondere seine - im chinesischen Kontext – öffentliche Rolle als international vernetzter Intellektueller stärkere Beachtung verdient hätte. Hierauf aufbauend wäre es sehr fruchtbar gewesen, Liang Qichaos Schrift nicht nur in einen chinesischen, sondern vielmehr in transnationale Kontexte einzubetten. Liang erhielt entscheidende Impulse von einem Zirkel renommierter Denker wie etwa Rabindranath Tagore und Romain Rolland, und er selber identifizierte sich zu einem beträchtlichen Teil mit internationalen Kreisen, die eine Reform der Weltordnung und ihrer geistigen Grundlagen anstrebten. Eine allein auf China zentrierte Betrachtungsweise kann diese international vernetzten Dimensionen der intellektuellen und politischen Milieus, denen Liang Qichao angehörte, kaum erfassen.

Ein wenig befremdlich sind Metzgers Ausführungen zum chinesischen Forschungsstand zu Liang Qichao und seiner Zeit, die in der These von der „unbefriedigenden und zum Teil auch ungenügenden Wissenschaftlichkeit der chinesischen Geisteswissenschaften“ (S. 30) münden. In solchen Aussagen steckt ein gutes Stück Orientalismus, der zudem auch die sehr reichhaltigen gegenwärtigen chinesischen Forschungen zur Kultur- und Sozialgeschichte der frühen 1920er-Jahre verkennt. Metzgers Studie ist methodologisch sehr solide aufgebaut, doch hätte sie an Fokus gewonnen, wenn die Struktur etwa stringenter auf das eigentliche Thema hin ausgerichtet worden wäre. Lange einleitende und methodologische Betrachtungen, verbunden mit Erörterungen des Kultur- und Modernisierungsbegriffs lassen Metzger erst auf Seite 100 bei Liang Qichao ankommen. Nach nur etwa 110 weiteren Seiten springt die Arbeit dann weiter zu chinesischen Debatten der 1980er-Jahre, ohne die sechs Jahrzehnte Distanz zu Liang Qichaos Europareise auf nennenswerte Weite zu überbrücken.

Trotz dieser strukturellen und teilweise auch methodologischen Mängel leistet Metzgers Arbeit einen sehr wertvollen Beitrag zur Forschung auf verschiedenen Bereichen. Von seiner detaillierten Untersuchung der „Eindrücke einer Europareise“ können nicht nur zukünftige Arbeiten zu Liang Qichao und chinesischen Intellektuellen im China der frühen Republik profitieren. Auch die Forschung zu Europabildern, Weltordnungskonzeptionen und Diskursen über Tradition und Moderne wird in Metzgers Studie reichhaltige Materialien finden.

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