C. Pletzing (Hrsg.): Vorposten des Reichs?

Titel
Vorposten des Reichs?. Ostpreußen 1933-1945


Herausgeber
Pletzing, Christian
Reihe
Colloquia Baltica 3
Erschienen
München 2006: Martin Meidenbauer
Anzahl Seiten
294 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Izabela Drozdowska, Adam-Mickiewicz-Universität Poznań

Auf dem deutschen Büchermarkt sind in den letzten Jahren viele Publikationen zum Thema Ostpreußen erschienen. Ein gewisser Anstieg des Interesses war um das Jahr 2001 zu verzeichnen, das in Berlin und Brandenburg als „Preußenjahr“ begangen wurde. Als Schwerpunkte der bisherigen Untersuchungen kristallisierten sich a) die Geschichte der Region bis zum Jahre 1933 sowie b) die letzten Kriegsmonate mit der Flucht und Vertreibung der deutschen Bevölkerung heraus. Das hier anzuzeigende Buch, herausgegeben vom Leiter der Academia Baltica in Lübeck, ist nun vollständig der Geschichte des Nationalsozialismus in der östlichen Provinz Preußens gewidmet, womit es einen wichtigen Beitrag zur Erforschung des schwierigen, von Tabuisierung und zahlreichen Mythen gekennzeichneten Kapitels der deutschen Geschichte leistet. Der Sammelband basiert auf Referaten, die von deutschen, litauischen und polnischen Teilnehmern einer Konferenz zum Thema „Vorposten des Reichs? Ostpreußen 1933-1945“ (Lübeck 2001) diskutiert wurden. Neben diesen fachwissenschaftlichen Beiträgen wurden Zeitzeugenberichte aufgenommen, was zu einer Multiperspektivität und Mehrstimmigkeit beiträgt und zu den größten Vorteilen der Publikation zählt.

Der einführende Aufsatz von Christian Pletzing stellt den Forschungsstand zum Thema Nationalsozialismus in Ostpreußen dar mit Fokus auf deutsche und polnische Arbeiten. Der Autor unterstreicht die langjährige Marginalisierung des Problems auf der deutschen Seite vor dem Hintergrund der gleichzeitigen Hervorhebung der historischen Aufarbeitung von Flucht und Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten. Der Herausgeber weist gleichzeitig auf Tabuthemen und verschwiegene Inhalte sowohl in der polnischen als auch in der deutschen Historiographie hin, wobei er gleichzeitig auf den Mangel an fundierter Bearbeitung der Verhältnisse in Memelland während der Nazizeit aufmerksam macht. Darüber hinaus werden die oft unzureichenden Fremdsprachkenntnisse (besonders im Falle von jeweils Polnisch und Litauisch) als hinderlich benannt, zu einem ganzheitlichen Bild zu gelangen.

Zu den interessantesten Kapiteln des Bandes gehört der Artikel des ausgezeichneten Kenners der ostpreußischen Problematik, Bohdan Koziełło-Poklewski, der sich mit der Aktivität der NSDAP in Ostpreußen auseinandersetzt. Der Beitrag dieses bereits 2002 verstorbenen Historikers stellt eine gewisse Einführung in die besprochene Thematik dar. Der Autor versucht das Phänomen der Popularität der NSDAP in der Region zu untersuchen, indem er wenig bekannte Fakten beleuchtet. Ihr endgültiger Sieg im Jahre 1930 ist, laut Koziełło-Poklewski, einerseits auf die Anstachelung der hier seit jeher anwesenden Xenophobie, Nationalismus und Antisemitismus, andererseits auf die Wirtschaftskrise in dieser von Berlin vernachlässigten Provinz zurückzuführen: „Nationalismus, Xenophobie und der mit ihr verbundene Antisemitismus, die in der Propaganda der NSDAP Ostpreußens bedient wurden und im übrigen zu den festen Bestandteilen ihrer Ideologie zählten, waren in Verbindung mit dem in der Provinz weit verbreiteten Gefühl der Isolation, der Vernachlässigung und des Verrats durch Berlin im politischen Leben nichts Neues. […] Die Propaganda der NSDAP traf also auf einen in hohem Maße vorbereiteten Nährboden. […] Die Agitation blieb nicht ohne Folgen.“ (S. 19-21)

Zwei Aufsätze sind der Gestalt des Gauleiters von Ostpreußen, Erich Koch, gewidmet. Ralf Meindl skizziert das Porträt des kontroversen NSDAP-Funktionärs, ohne jene Fäden aus Kochs Biographie wegzulassen, die nicht zu der gängigen Vorstellung von einem Paladin passen. Bilder aus dem kollektiven Gedächtnis, die eines Kommentars bedürfen: „Die Vertriebenen erinnern sich an ihn als denjenigen, der die Schuld an ihrem Leid trug, ähnlich die Jäger des Bernsteinzimmers, die vergeblich nach seinem geheimen Wissen fahndeten“ (S. 29), treffen auf Analysen von Quellenmaterialien und der wenigen bisher zu Koch publizierten Texte. Dieses Vorgehen versetzt den Autor nicht nur dazu in die Lage, das Tätigkeitsfeld des Gauleiters abzustecken, sondern auch seine Motivation und seine Ziele zu untersuchen, in denen sich mitunter dessen „persönlichen Frustrationen ausdrückte(n).“ (S. 31) Der andere Beitrag von Christian Rohrer, der die Tätigkeit der Stiftung Kochs beschreibt - darunter die Übernahme der „nichtarischen“ Fabriken in Ostpreußen - neigt eher zu einer soliden jedoch etwas monotonen Dokumentation.

Für das weite Themenspektrum des Bandes stehen Beiträge, wie der Artikel über Hauptquartiere Hitlers in Ostpreußen (Uwe Neumärker) oder die Studie zur Situation der jüdischen Gemeinde in Königsberg (Stefanie Schüler-Springorum). Mit den Umbruchjahren 1932-1934 am Beispiel der Universität Königsberg hat sich Christian Tilitzki auseinandergesetzt. Beiträge von zwei Autorinnen – Ruth Leiserowitz und Arūnė Arbušauskaitė – sind der Problematik des Memellandes gewidmet. Während die erste Autorin sich hauptsächlich mit der Lage der Juden in der Region beschäftigt, gilt das Interesse der zweiten vor allem der Situation der Litauer. Bei Leiserowitz erfährt man z.B., dass die Litauer Juden aus dem Memelland zwar 1939, nach dem Abkommen zwischen Litauen und dem Deutschen Reich über die Angehörigkeit von Memelländern, auswandern durften, dass ihre materielle Lage sie jedoch überwiegend zum Bleiben zwang, was in zahlreichen Repressalien (seitens der deutschen Behörden aber auch der litauischen Mitbürger), Enteignungen und schließlich Deportationen und Ermordung resultierte. Arūnė Arbušauskaitė stellt dagegen fest, dass die ersten Opfer der nationalsozialistischen Diktatur in Memelland die Litauer selbst waren, ohne dabei die jüdischen Opfer zu erwähnen: „Die ersten Unterdrückungsmaßnahmen, die sich gegen Zivilisten des Memellandes und zwar ausnahmslos gegen litauische Bürger richteten, begannen schon am 21./22. März 1939, am Vorabend der Unterzeichnung des litauisch-deutschen Rückgabevertrages.“ (S. 154) Auch wenn man die beiden Artikel als komplementär lesen kann, wird sichtbar, wie durch unterschiedliches Herangehen verschiedene Inhalte beleuchtet und aufgenommen werden, was wiederum das Bild des jeweiligen Problems beeinflusst.

Der Zeitzeugenbericht von Martin Bergau stellt einen deutlichen Perspektivenwechsel dar. Der Autor beschreibt darin das bisher wenig thematisierte Massaker von Palmnicken dem er einen 2006 herausgegeben Band widmete. 1 Im Januar 1945 waren etwa 3000 meist jüdische Häftlinge in einer ehemaligen Schachtanlage durch ein SS-Komando ermordet worden. Bergau, der seinerzeit aufgefordert war, die jüdischen Häftlinge zu bewachen und schließlich einem Erschießungskommando zugeteilt wurde, beschreibt nicht nur detailliert das Geschehen, sondern weist auch auf die Tendenz anderer Zeugen hin, das Erlebte und Mitgemachte auszublenden. Der Autor postuliert einen Wechsel im deutschen Erinnern an die letzten Kriegsjahre, indem er schreibt: „Die Geschichte der Vertriebenencharta beginnt fatalerweise erst 1945 – mit der Vertreibung. Das verklärte Erscheinungsbild der alten Heimat könnte ja verunziert werden, betriebe man Ursachenforschung, beginnend etwa 1933. Mit dem Davor beschäftigt man sich nicht – und verschließt sich ehrlicher Aufarbeitung.“ (S. 195)

Der Band klingt aus mit den Artikeln „Ostpreußen 1944/45. Mythen und Realitäten“ von Bernhard Fisch sowie „Jugendzeit in Ostpreußen. Ein oral-history-Projekt“ von Cezary Bazydło. Der erste Beitrag stellt das breite Spektrum der Mythen vor, die durch die Geschichtsschreibung nach 1950 produziert oder gestärkt wurden und in die kollektive Erinnerung eingegangen sind. Die einzelnen stereotypen Bilder wurden hier mit Tatsachen konfrontiert und einer Analyse unterzogen. Der letzte Aufsatz des Bandes beschreibt ein Projekt, das die Darstellung des Alltaglebens im Dritten Reich am Beispiel von Ostpreußen zum Ziel hat. In der Aufzeichnung von privater Erinnerung deutscher Zeitzeugen sieht der Autor eine Chance einen „Einblick in die Denkweise der Menschen von damals“ (S. 247) zu gewinnen, wobei er sich bewusst ist, dass man die Aussagen wegen ihrer Subjektivität nicht uneingeschränkt als historisch relevante Quellen betrachten kann.

Resümierend kann man feststellen, dass viele Beiträge erfolgreich das Ziel verfolgen, tradierte Bilder des nationalsozialistischen Ostpreußens umzuwerfen und wenig erforschte Themenbereiche zu popularisieren. Dabei entgingen manche der Autoren nicht der Versuchung, bei Beschreibung und Analyse eines speziellen Problems die anderen Motive und Stränge völlig auszublenden, wodurch die Lektüre der Publikation als eines Ganzen ratsam ist. Dennoch stellt der Band „Vorposten des Reichs? Ostpreußen 1933-1945“ eine Auswahl von kompetenten, narrativ wie thematisch differenzierten Beiträgen dar, die den Forschungsstand auf diesem jahrzehntelang verdrängten, tabuisierten und von Mythen bestimmten Feld abbilden.

Anmerkung:
1 Martin Bergau (Hrsg.), Todesmarsch zur Bernsteinküste. Das Massaker an Juden im ostpreußischen Palmnicken im Januar 1945. Zeitzeugen erinnern sich, Heidelberg 2006.

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