K. Wohlfart: Der Rigaer Letten Verein und die lettische Nationalbewegung

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Titel
Der Rigaer Letten Verein und die lettische Nationalbewegung von 1868 bis 1905.


Autor(en)
Wohlfart, Kristine
Reihe
Materialien und Studien zur Ostmitteleuropa-Forschung 14
Erschienen
Anzahl Seiten
336 S.
Preis
€ 43,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Felix Heinert, Düsseldorf

Ließ sich die historische deutsche Ostforschung über Jahrzehnte vom Kulturträger-Paradigma beflügeln, war für viele ostmitteleuropäische Historiker eine nationalhistorische Fixierung der eigenen Forschung unhinterfragbar. Dies gilt auch für die lettische Geschichtsschreibung. Der nationalgeschichtliche Untersuchungsrahmen wurde – unterschiedlich akzentuiert – sowohl in der sowjetisch-, als auch in der exil-lettischen Historiographie (mit wenigen Ausnahmen) beibehalten. Die postsowjetisch-lettische Geschichtsforschung beginnt – nach einer Renaissance nationalhistorischer Narrative – erst langsam, diese Paradigmen kritisch zu reflektieren.

Kristine Wohlfart untersucht in ihrer Doktorarbeit den „Rigaer Letten Verein und die lettische Nationalbewegung von 1868 bis 1905“. Die unzureichende Erforschung dieses Themas erklärt sie unter anderem damit, „dass die lettische Geschichtswissenschaft die modernen Theorien über die Nationsbildung kaum rezipiert hat“ (S. 2). Wohlfart setzt sich das Ziel, die „Reflexion anzustoßen“, „[zur kritischen] Auseinandersetzung mit der Kategorie des Nationalen anzuregen“ (S. 1) und damit zu ihrer „[Entzauberung] im heutigen Lettland“ (S. 7) beizutragen. Das Ziel der Arbeit ist es, nachzuzeichnen, wie die „Phase B“ des sozialhistorischen Phasenmodells nationaler Verdichtung von Miroslav Hroch im lettischen Fall abgelaufen sei, wie die Behebung der „vorhandenen Defizite“ der „lettischen Nation“ gegenüber den „voll entwickelten Nationen“ von statten gegangen war und wie der Rigaer Letten Verein dieses Ziel verfolgt hat. Dieses Erkenntnisinteresse durchzieht die Untersuchung wie ein roter Faden: „Wie die Nationalbewegungen anderer nicht dominanter ethnischer Gruppen verfolgten die lettischen nationalen Aktivisten zwischen 1868 und 1905 ein sprachlich-kulturelles, ein soziales und ein politisches Programm und strebten somit danach, die noch vorhandenen Defizite (politische Autonomie, vollständige gesellschaftliche Struktur, Hochkultur) zu überwinden, die der lettischen Nation zu einer vollständigen Existenz fehlten.“ (S. 335) Dass Nationen „Defizite“ haben können und dass zu ihrer – wie auch immer definierten – „vollen Entwicklung“ „vollständige gesellschaftliche Struktur“, „politische Autonomie“ und „Hochkultur“ benötigt würden, ist die Annahme der Arbeit.

Die bisweilen fehlende begriffsanalytische Trennung zwischen den zu untersuchenden nationalen Denkfiguren sowie dem Duktus der Arbeit hat den Rezensenten zunächst irritiert. Beim näheren Hinsehen scheint der Begriffsapparat einen Zugriff darzustellen, der relativ nahe am Wertehimmel der „nationalen Aktivisten“ verortet werden kann. Verwendet wird außerdem das Vokabular klassischer Modernisierungstheorien, was die Autorin nicht zuletzt in der Berufung auf die Thesen von Karl Deutsch verdeutlicht.

Der Untersuchungszeitrahmen umspannt die ersten vier Jahrzehnte schnellen gesellschaftlichen Wandels, der durch liberale Reformen, soziale Mobilität und Industrialisierung ausgelöst wurde, und in der Revolution von 1905, die in dieser Region eine besonders explosive Wirkung entfaltete, seine vorläufige Ventilfunktion fand. Knapp ein Drittel der Arbeit ist der Beschreibung politisch-rechtlicher und sozialer Bedingungen der lettischen Nationalbewegung gewidmet. Trotz aller Hindernisse gestand der russische Staat bis zur Mitte der 1880er-Jahre „der gesellschaftlichen Aktivität der Letten einen für die Verhältnisse des autokratischen Russlands relativ großen Handlungsspielraum zu“ (S. 54). Die „Russifizierung“, mit der die Wortführer der Nationalbewegung auch Hoffnungen verknüpften, beispielsweise auf den Abbau ständischer Privilegien deutschbaltischer Ritterschaften sowie die größere Beteiligung an der Selbstverwaltung, führte dazu, dass das Lettische aus den Volksschulen als Unterrichtssprache verbannt sowie aus den Gemeindeinstitutionen verdrängt wurde. So aufschlussreich die breiten Ausführungen etwa über „die russische Staatspolitik in Livland und Kurland und ihre Auswirkungen auf die lettische Nationalbewegung“ oder über „die Rahmenbedingungen für die gesellschaftliche Tätigkeit im russischen autokratischen Staat in der Zeit von 1860 bis 1905“ auch sind, es stellt sich dennoch die Frage, ob die etatistische Perspektive, der relativ viel Platz eingeräumt wird, durchgängig erhellend ist. Dies um so mehr, wenn – nicht wirklich überraschend – auch für die weniger liberale Phase seit den 1880er-Jahren festgestellt werden muss, dass „trotz aller Einschränkungen, die die Russifizierungspolitik für die Arbeit der nationalen Vereine [mit sich brachte]“, es nicht möglich sei, „von einer einheitlichen Staatspolitik gegenüber den lettischen Vereinen zu sprechen“. Denn letztlich habe es eben „keine strengen Richtlinien“ gegeben (S. 75).

Bei der Beschreibung sozialer Bedingungen der Nationalbewegung wurden Südlivland/Kurland als Untersuchungseinheit gewählt, weil sich die nationalen Aktivitäten des Vereins in der behandelten Zeit auf diese Gebiete mit hohem lettischsprachigem Bevölkerungsanteil konzentrierten. Wohlfart vergleicht die Sozial- und Berufsstruktur der Letten vor allem mit den Deutschbalten in der Region, die sie zusammen mit Juden und Russen als in den Städten konzentrierte „Diasporagruppen“ (S. 82) bezeichnet. Mit umfangreichem Zahlenmaterial entwickelt die Autorin die These, dass „die lettische Nation“ bzw. „die lettische Gesellschaft“ – beide Begriffe werden meist synonym verwendet – „Defizite“ gegenüber „voll entwickelten“ Nationen gehabt hätte, die im Zuge der Modernisierung zwar nicht verschwunden seien, sich aber etwas normalisiert hätten. Dabei werden bevorzugt statistische Vergleiche mit der deutschbaltischen Bevölkerung präsentiert, die große Teile der Mittel- und Oberschicht stellte und gegen deren Dominanz die Stoßrichtung der nationalen Anstrengungen gerade der ersten Generation lettischer Nationalisten gerichtet war. Ob diese Gegenüberstellung, die die Gegensätze zwischen lettischsprachiger Bevölkerung und einer „andersethnischen Elite“ (S. 5) tendenziell festzuschreiben scheint, durchweg sinnvoll ist, scheint fraglich, denn zumindest seit dem Ende des 19. Jahrhunderts war die gesellschaftliche Differenzierung so weit vorangeschritten, dass jedenfalls in Riga und in den kurländischen Städten die lettisch-deutschen Gegensätze – trotz nationaler Einheitsrhetorik – nicht die einzigen relevanten Differenzierungs- und Konfliktlinien darstellten.1 Dass außerdem beispielsweise 1881 Juden und Deutschbalten in kurländischen Städten jeweils 40 Prozent des Mittelstandes darstellten, wird zwar am Rande erwähnt (S. 86), aber in der Arbeit ist der angesprochene Vergleich entscheidend. Zu berücksichtigen wäre vielleicht auch, dass die Wahl des Untersuchungsrahmens, die Fokussierung auf Südlivland/Kurland, bei statistischen Vergleichen bestimmte Ergebnisse antizipiert und ausgerechnet die Denkfiguren lettischer „nationaler Aktivisten“ mit einem umfangreichen Zahlenwerk rückwirkend objektiviert. Dass hier konkurrierende Raumentwürfe entstanden, sei jedenfalls erwähnt.2

Gesondert werden die Gründung des Rigaer Letten Vereins und dessen soziale Zusammensetzung bis 1905 behandelt. Es wird deutlich, dass der Verein von einer schmalen Schicht des (Klein-)Bürgertums und der Intelligenz getragen und in den ersten Jahrzehnten seiner Existenz zum Zentrum der lettischen Nationalbewegung wurde. Für die umfangreiche Darstellung der Vereinsaktivitäten wertete Wohlfahrt bisher nur unzureichend erschlossene Quellen zur Selbstorganisation der bürgerlichen lettischen Nationalbewegung aus. Diese Quellen systematisiert zu haben, ist ein Verdienst, denn Studien zur Selbstorganisation in Vereinen sind für diese Region ein Forschungsdesiderat. Der Verein versuchte mehr oder weniger erfolgreich, seinen Handlungsspielraum zur Förderung des lettischen Mittelstandes sowie zur nationalen Mobilisierung der lettischsprachigen Bevölkerung zu nutzen. Seine einzelnen Foren, so die Sommerveranstaltungen der Wissenschaftskommission, wurden um die Jahrhundertwende (bis 1905) zum „Parlament der lettischen Intelligenz“ (S. 221). Zu diesem Zeitpunkt war „die lettische Nationalbewegung“ bereits in mindestens zwei unversöhnlich konkurrierende Lager zerfallen: 1) das vom Verein vertretene bürgerliche und zunehmend konservative; 2) das demokratische sowie sozialistische Lager. Die Segmentierung „der lettischen Nationalbewegung“ begann, wie in einem der letzten Kapitel deutlich wird, spätestens Mitte der 1880er-Jahre und war 1905, als von lettischer Seite sogar Aufrufe zur Verwüstung des Vereins zu hören waren, bereits unüberbrückbar.3 Wohlfart geht immer wieder auch auf die Adressaten der nationalen Mobilisierung ein, wobei letztlich die Aktivitäten der bürgerlichen Nationalisten sowie deren Führungsanspruch und Deutungsmonopol Kontur erlangen. Wie aber nun aus Bauern Letten wurden, wie sie sich die nationalen Sinnstiftungsangebote aneigneten und welchen (Eigen-)Sinn sie mit Sängerfesten oder anderen nationalen Aktivitäten bürgerlicher Nationalisten verknüpften, bleibt offen. Insgesamt aber stellt die Arbeit eine faktenreiche und weiterführende Spezialstudie dar, die eine unzureichend erforschte europäische Nationalbewegung auf bürgerliche Trägerschichten hin untersucht. Weitere Studien müssten folgen und insbesondere den Anschluss an die neueren Nationalismusforschungen und -theorien herstellen.

Anmerkungen:
1 Zu Riga vgl.: Hirschhausen, Ulrike von, Die Grenzen der Gemeinsamkeit. Deutsche, Letten, Russen und Juden in Riga 1860-1914 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 172), Göttingen 2006, S. 42ff.
2 Vgl. ebd., S. 341ff.
3 Dazu weiterführend ebd., S. 120-135.

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