Cover
Titel
Kulturelles Erbe. Was uns wichtig ist!


Herausgeber
Benzer, Sabine
Erschienen
Wien 2020: Folio Verlag
Anzahl Seiten
161 S.
Preis
€ 16,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefanie Samida, Historisches Seminar, Universität Heidelberg

Bücher, Aufsätze und Essays zum Kulturerbe bzw. zu Heritage sind seit etwa zwei Jahrzehnten so zahlreich, dass sich das Forschungsfeld kaum noch überblicken lässt. Das hängt auch damit zusammen, dass sich immer mehr Fächer dem kulturellen Erbe widmen. War das Kulturerbe lange Zeit vor allem eine Domäne der Denkmalpflege und der verschiedenen Archäologien, beschäftigen sich heute die Empirische Kulturwissenschaft, die Ethnologie, die Geschichtswissenschaft, die Soziologie, die Geographie und viele andere Fächer mit dem Phänomen. Die Thematik ist aber nicht nur eine wissenschaftliche, sondern sie wird auch in der Gesellschaft und Öffentlichkeit – und, wenn man so mag: in Kunst und Kultur – debattiert bzw. sorgt dort durchaus regelmäßig für Diskussionsstoff.

Die Herausgeberin Sabine Benzer nimmt diesen Umstand in dem Band Kulturelles Erbe: Was uns wichtig ist! gewissermaßen auf. Das Buch ist nämlich kein Sammelband im herkömmlichen Sinne, es handelt sich vielmehr um einen Gesprächsband, der in sieben Interviews mit Expertinnen und Experten aus Wissenschaft, Kunst und Kultur der Bedeutung des kulturellen Erbe nachspürt und dabei danach fragt, „was uns wichtig ist“. Darin liegt das Potential, aber auch die Crux des Buches. Denn die Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner haben natürlich einen ganz eigenen Blick auf das Thema – bedingt durch die jeweilige disziplinäre „Herkunft“ bzw. ihre berufliche Arbeit. Diese unterschiedlichen Perspektiven erweitern zweifellos den Horizont hinsichtlich der Kulturerbe-Debatte, lassen aber einen roten Faden, der über „was uns wichtig ist“ hinausgeht, nicht immer erkennen. Das liegt zum einen auch daran, dass das Vorwort der Herausgeberin (S. 9f.) mit etwas mehr als einer Seite recht kurz ausfällt und darüber hinaus leider kaum eine Einordnung liefert. Denn gerne hätte man erfahren, was der Anlass für das Buch war, was die Auswahl der Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner bestimmt hat, was die Herausgeberin am kulturellen Erbe interessiert und wie sie sich selbst in der Debatte positioniert. Hier bleibt eine Lücke. Zum anderen fehlt ein echtes Nachwort, das zusammenfasst und resümiert – stattdessen findet sich ein Tschechow-Zitat aus den Drei Schwestern (S. 153), auf das sich die Leserinnen und Leser selbst einen Reim machen müssen. Doch von vorne, was bietet das Buch?

Wie Benzer in ihrem Vorwort betont, besitzt kulturelles Erbe ein verbindendes Element, indem es einen Bezug zur Vergangenheit herstellt, in der Gegenwart gedeutet wird und für die Zukunft bewahrt werden soll (S. 9). Kulturerbe vermittelt also zwischen Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem. Zugleich wird es „instrumentalisiert, eindimensional dargestellt, einschlägig ausgewählt, kommerziell verwertet oder der nationalen Sache angedient“ (ebd.). Das, was hier skizziert wird, findet sich zweifellos in den Gesprächen mit der Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann, dem Philosophen Konrad Paul Liessmann, der Kulturwissenschaftlerin Sharon Macdonald, dem Kulturvermittler und Aktivisten Felipe Polanía Rodríguez, dem Wiener Schriftsteller und Essayisten Franz Schuh, dem Kulturwissenschaftler Bernhard Tschofen und der Sprachwissenschaftlerin Ruth Wodak. Doch die Felder gehen vielfach unter, werden lediglich angedeutet und angerissen sowie in den Interviews nicht immer explizit gemacht. Das mag der Interviewform geschuldet sein, die anderen Prämissen folgt als der klassische wissenschaftliche Aufsatz, der eingehendere Argumentationsgänge zulässt. Man tut daher gut daran, die essayistisch-geprägten Gespräche einerseits fernab des rein wissenschaftlichen Blickwinkels zu lesen und andererseits kulturelles Erbe freier zu fassen, als es noch im Vorwort durchklingt. Denn es geht in den Gesprächen um mehr. Das deutet sich schon beim ersten Interview mit Aleida Assmann (S. 11ff.) an, werden hier doch vor dem Hintergrund von Kulturerbe Fragen von (kultureller) Bildung aufgeworfen und Vor- und Nachteile eines Bildungskanons erörtert. Der Kanon, so Assmann zusammenfassend, sei „keine Zwangsjacke, er ist ein Maßstab“ (S. 22). Auch in den Gesprächen mit Konrad Paul Liessmann (S. 37ff.), Franz Schuh (S. 91ff.) und Ruth Wodak (S. 133ff.) spielen Fragen zum Bildungs- und Literaturkanon eine wichtige Rolle. Da werden der Leser und die Leserin dann schon einmal in die Schule und die Literaturvermittlung mitgenommen (S. 43ff.), ins Fernsehen und die Popkultur, wenn „Die Simpsons“ zum Thema werden (S. 103ff.) und mit der Jugendsprache (S. 134ff.) konfrontiert.

Im Gespräch mit der in Berlin lehrenden und forschenden Kulturwissenschaftlerin Sharon Macdonald (S. 63ff.) ist der Fokus enger. Hier steht vor allem das „dunkle Erbe“ im Vordergrund1, verhandelt werden aber auch Aspekte, die im musealen Kontext unter dem Stichwort „Entsammeln“ debattiert werden. Macdonald hebt hervor, dass mit dem Erbe-Begriff der „Anspruch der Erhaltung verbunden ist“ (S. 66) und heute alles darauf ziele, „alles zu behalten, was gesammelt wurde oder als Erbe definiert wird“ (S. 67). In anderen Kontexten wurde diese Phänomen schon als „Massendinghaltung“ bezeichnet.2 Zu Recht verweist sie darauf, dass die Depots voll sind und nicht alles bewahrt werden kann und man darüber diskutieren müsse, was „weggeschmissen wird und wer darüber entscheiden darf“ (S. 76). Hier klingen Aspekte durch, die im Gespräch mit Felipe Polanía Rodríguez (S. 79ff.) im Zentrum stehen. Für Rodríguez ist die Frage nach dem Kulturerbe nämlich „vor allem eine Frage von Definitionsmacht“ (S. 81). Das Einordungssystem von Kulturerbe sei ein „weißes, europäisches Monopol“ und als eine „Fortsetzung des Kolonialismus“ zu begreifen (S. 82). Damit greift er wichtige und aktuelle Kulturerbe-Debatten auf, die in den anderen Interviews in dieser Deutlichkeit kaum an- und ausgesprochen werden. Verweist Rodríguez auf die Machtstrukturen, plädiert der Kulturwissenschaftler Bernhard Tschofen im Gespräch mit Sabine Benzer (S. 112ff.) für mehr Bottom-up-Partizipation (S. 120f.), wie sie die Critical Heritage Studies schon länger fordern.3 Zugleich müsse einem essentialisierenden Verständnis von Kulturerbe, das immer noch zu oft anzutreffen sei, durch die „Betonung des Nicht-Abgeschlossenen, der Beziehungen, der Relationen, der Hybridisierungs- und Unterwanderungstendenzen“ begegnet werden (S. 129). Es müsse, so Tschofen, darum gehen, „Kulturerbe in den Dialog zu bringen“ (ebd.).

Die in dem Band versammelten Gespräche versuchen letztlich genau das, also „Kulturerbe in den Dialog zu bringen“. Dabei werden viele verschiedene Facetten des kulturellen Erbes angesprochen – allzu oft aber in einer mäandernden Art und Weise, sodass sich die Bezüge zum eigentlichen Thema, dem kulturellen Erbe, beim Lesen nicht immer auf den ersten Blick erschließen. Eine zielführendere Gesprächsführung, die diese Bezüge hätte herausarbeiten können, wäre wünschenswert gewesen. Nach der Lektüre des Buches stellt sich daher ein ambivalentes Gefühl ein, denn man fühlt sich als Leserin ab und an orientierungslos.

Anmerkungen:
1 Macdonald hat sich ausführlich mit Aspekten vom schwierigem Erbe beschäftigt, z.B. Sharon Macdonald, Difficult Heritage. Negotiating the Nazi Past in Nuremberg and Beyond, London 2009.
2 Kerstin P. Hofmann / Thomas Meier / Doreen Mölders / Stefan Schreiber (Hrsg.), Massendinghaltung in der Archäologie. Der material turn und die Ur- und Frühgeschichte, Leiden 2016.
3 Beispielsweise: Rodney Harrison (Hrsg.), Understanding the Politics of Heritage, Manchester 2010; ders., Heritage. Critical Approaches, London 2013.

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