K. Holz u.a.: Antisemitismus gegen Israel

Cover
Titel
Antisemitismus gegen Israel.


Autor(en)
Holz, Klaus; Haury, Thomas
Erschienen
Anzahl Seiten
450 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Gollasch, Zentrum für Antisemitismusforschung, Technische Universität Berlin

BDS, Achille Mbembe, der Postkolonialismus, Michael Rothberg, neuer Historikerstreit, Singularität des Holocausts – das Potpourri zum Thema Antisemitismus gegen Israel besteht aus einer Vielzahl an Zutaten. Doch nicht nur wissenschaftliche Köch:innen, akademische Gourmets und studentische Gastronomiekritiker:innen beteiligen sich am Diskurs.1 Längst fungieren Antisemitismus und Israel gesellschaftsweit als soziale Arenen mit identitätspolitischen Markern.2 Was darf, was soll, was muss gesagt werden? Wer steht wo? Und mit wem sollte man lieber nicht am selben Tisch speisen? Von der hohen Außenpolitik bis in die (bildungsbürgerlichen) Esszimmer: Symbolische Bekenntnisse ebenso wie Fettnäpfchen sind mitunter zahl- und wahllos.

Die beiden Soziologen Klaus Holz und Thomas Haury sind nicht dazu angetreten, den tausenden Einlassungen ihren eigenen Gusto hinzuzufügen. Mit ihrem Werk wollen sie keine Kriterien aufstellen, die uns politisch opportune und moralisch integre Positionen versprechen – wie dies zum Beispiel der vielzitierte 3-D-Test von Natan Scharanski tut.3 Vielmehr attestieren sie dem Diskurs einen kriteriologischen Wirrwarr, wenn tatsächliche und vorgebliche Einzelphänomene der Israelfeindschaft aufgezählt werden, dabei aber ein klarer und kohärenter Begriff von Antisemitismus fehle (S. 18). Oder, um es einmal mehr in kulinarischer Sprache zu sagen: „Der Begriff des Obstes erschöpft sich nicht in der Aufzählung von Äpfeln, Birnen und Bananen. Damit alle Typen gemeinsam Antisemitismus genannt werden dürfen, müsste ihr Allgemeines angegeben werden.“ (S. 20)

Wie bestimmen Holz und Haury folglich das Allgemeine? Hierfür knüpfen die Autoren an ihre wissenssoziologischen Qualifikationsarbeiten an.4 Beide entwickelten dort, hermeneutisch vorgehend, einen semantischen Begriff des (modernen) Antisemitismus. Als kulturell tradiertes Wissen beinhalte der Antisemitismus eine überindividuelle Sinnstruktur, die sich unter anderem durch Personifizierung, kollektive Zuschreibungen und die manichäische Einteilung in Gut und Böse auszeichne. Abwertende antisemitische Fremdzuschreibungen seien so auch stets verknüpft mit aufwertenden Selbstbildern. So kommen sie zu dem Schluss: Beim Antisemitismus gegen Israel, in der Forschung auch als „neuer Antisemitismus“5 bezeichnet, handle es sich um keine neue Form des Judenhasses. Im Gegenteil, dieser bestehe aus den üblichen Mustern des modernen Antisemitismus. Ein Fokus auf Israel und scheinbar neue Semantiken könne dagegen den Blick auf die übergreifenden antisemitischen Bedeutungszusammenhänge verstellen (S. 351).

Die Autoren nutzen die unterschiedlichen Selbstbilder verschiedener israelfeindlicher (Teil-)Kollektive, um ihrem Buch eine Struktur zu geben. Nach einem „Blick in die Geschichte“ (Kap. 2) folgen verschiedene Typen: Postnazisten (Kap. 3), antisemitische Linke (Kap. 4), Islamisten (Kap. 5), Antirassisten (Kap. 6), pro- und antizionistische Christen (Kap. 7) und neue Rechte (Kap. 8). Wenngleich Holz und Haury also das wohlfeile Aufzählen und kriteriologische Einordnen von Antisemitismen kritisieren, kommen sie für die Darstellung ihrer Perspektive selbst nicht um eine typologische Aufzählung herum. Doch im Unterschied zu anderen Arbeiten möchten sie ihre Typen nicht als voneinander abgeschottet verstanden wissen. Vielmehr befruchteten, überlappten, unterschieden und rekombinierten sich die jeweils spezifisch konturierten Gegenbilder „Jude“ bzw. „Israel“, welche von den jeweiligen Typen in Anschlag gebracht werden. Gemeinsam sei ihnen die antisemitische Sinnstruktur.

Es ist die Stärke des hermeneutischen Ansatzes, diese Gemeinsamkeit insbesondere für den weltanschaulichen, explizit politischen Antisemitismus herauszuarbeiten und dies historisch herzuleiten, so etwa mit Beispielen aus Texten des NS-Ideologen Alfred Rosenberg oder aus Adolf Hitlers „Mein Kampf“ (S. 72). Ebenso auch mit Blick auf das Programm des Spätstalinismus, der unter anderem mit Schauprozessen dazu beitrug, das Bild von „Juden“ als „Zionisten“ und Vertreter der „Wallstreet“ zu amalgamieren (S. 114ff.). Auch der islamistische Antisemitismus wird beleuchtet, dessen Tropen etwa im Iran in antizionistischer Manier gegen Israel gewendet werden. Ebenso beziehen die Autoren Sinnstrukturen des christlichen Antijudaismus mit ein, die heute lose und multipel verknüpft werden und als religiöse und säkulare Semantiken weit über den Erdball verteilt sind (S. 268ff.).

Durch den angelegten Antisemitismusbegriff wirken Holz und Haury zwangsläufig in die Gegenwart. Schließlich hat es sich in der Forschung etabliert, den Antisemitismus zu unterscheiden, zum Beispiel zeitlich in einen vor und einen nach 1945. Den mit dieser Unterscheidung verbundene Begriff „sekundärer Antisemitismus“, welcher insbesondere für den deutschsprachigen Raum verwandt wird, lehnen die Autoren jedoch ab. Denn die Täter-Opfer-Umkehr, die diesen auszeichnet, sei schon immer Bestandteil des Antisemitismus gewesen. Feindschaft gegen Jüd:innen erscheint Antisemit:innen häufig deshalb als legitim, weil sie ihre Existenz von diesen bedroht sehen. Fälschlicherweise suggeriere der Begriff also, dass es sich beim Antisemitismus nach 1945 um ein neues oder grundlegend anderes Phänomen handle. Die Autoren plädieren daher für den Begriff „postnazistischer Antisemitismus“ (S. 100), um einerseits auf die diskursive Varianz nach Auschwitz zu verweisen6, andererseits aber die Kontinuität nicht zu verschleiern.

So beeindruckend die Autoren argumentieren, so geht ihre Argumentation doch nicht gänzlich auf. Deutlich wird dies am „unglücklichen Bewusstsein der Rassismuskritik“ (S. 212ff.), welches Holz und Haury insbesondere Judith Butler attestieren. Plausibel argumentieren sie zwar anhand von deren Text „Antisemitismus und Rassismus: Für eine Allianz der sozialen Gerechtigkeit“, dass Butler daran scheitere, eine angemessene Antisemitismuskritik zu leisten. Denn die Philosophin begreife den Antisemitismus nur als Spielart des Rassismus und verweigere sich so der notwendigen Vermittlung von Rassismus- und Antisemitismuskritik.7 Im Gegensatz zu anderen Autor:innen leiten Holz und Haury aus der falschen Antisemitismuskritik jedoch keinen Antisemitismusvorwurf ab. Wohl aus Gründen der Solidarität fragen sie nach deren Kontext und nach Butlers Intention. Dabei sieht ihr hermeneutischer Ansatz solche Empathie eigentlich nicht vor. Könnte es also sein, dass der postmoderne Wirrwarr einer sich sozial – und auch ihren Sinnstrukturen nach – immer stärker ausdifferenzierenden Gesellschaft doch nicht auf den einen Antisemitismusbegriff gebracht werden kann?

Wie in ihren vorangegangenen Qualifikationsarbeiten vermag die semantische Methode in vielen Aspekten zu überzeugen, insbesondere beim Aufdecken von antisemitischen Selbst- und Fremdbildern. An einem allgemeinen und überzeitlichen Antisemitismusbegriff festzuhalten, führt jedoch zu Inkonsistenzen. Die Autoren beschreiben unter anderem die gefühlte Bedrohung der eigenen Existenz als grundlegenden Inhalt des Antisemitismus. Zwar mag die antiimperialistische Linke der 1970er-Jahre eine Täter-Opfer-Umkehr betrieben haben, sie sah sich aber nicht selbst in existentieller Gefahr, sondern identifizierte sich mit den „Opfern“ der israelischen und amerikanischen Politik. Und für große Teile der neuen Rechten mag Moeller van den Brucks „An Liberalismus gehen die Völker zu Grunde“ zwar weiterhin als antisemitisches Movens fungieren. Warum aus dieser Weltanschauung aber unweigerlich Antisemitismus gegen Israel folgt (S. 347), erschließt sich nur bedingt. Die gewiefte neurechte Denkbewegung wird von Holz und Haury selbst beschrieben: Beim Bundeskongress der AfD-Nachwuchsorganisation „Junge Alternative“ im Jahr 2018 betrieb Alexander Gauland eine „Schuldabkapselung“ (S. 311), wofür es einerseits einer starken Schuldanerkennung bedurfte8, welche andererseits den „Vogelschiss“ als neue Form der Schuldabwehr ermöglichte. Dass viele Rechte in Israel heute kein Feindobjekt mehr sehen, sie sich gar ostentativ mit dem jüdischen Staat solidarisieren, kann vor dem Hintergrund des angelegten Antisemitismusbegriffs nur als instrumentelles Verhältnis interpretiert werden. In einer anderen Perspektive würde man dies dagegen als substanzielle Neukonfiguration begreifen.

Mit „Antisemitismus gegen Israel“ haben Holz und Haury ein beeindruckendes Werk verfasst, dem eine breite Rezeption zu wünschen ist. Um den Antisemitismus, den Antisemitismus gegen Israel und vor allem das Zusammenspiel zwischen beiden zu verstehen, brauchen wir die semantische Analyse antisemitischer Sinnstrukturen. Doch auch weiterhin muss darüber hinausgegangen werden. Gesellschaftliche Konfigurationen mit materiellen Abhängigkeiten und Zwängen spielen für den Antisemitismus genauso eine Rolle wie Emotionen. Und so sitzt man nach der Lektüre weiter zu Tisch und kann die Speisen noch immer nicht überblicken. Sich ihnen durch Aufzählung, Beschreibung und Probieren anzunähern, scheint weiterhin alternativlos. Um sie im Anschluss nicht nur nach dem eigenen Bauchgefühl zu beurteilen, sondern vor dem Hintergrund eines umfassenden Wissens über antisemitische Semantiken zu prüfen – hierfür hilft „Antisemitismus gegen Israel“ ungemein.

Anmerkungen:
1 Siehe beispielhaft die Rezensionen von: Jonas Kreienbaum zu: Steffen Klävers, Decolonizing Auschwitz? Komparativ-postkoloniale Ansätze in der Holocaustforschung, Berlin 2019, in: H-Soz-Kult, 09.07.2019, <https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-28339> (26.03.2022); und Katharina Stengel zu: Michael Rothberg, Multidirektionale Erinnerung. Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung, Berlin 2021, in: H-Soz-Kult, 11.05.2021, <https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-95854> (26.03.2022).
2 Der Begriff „soziale Arena“ geht auf den amerikanischen Soziologen Anselm Strauss (1916–1996) zurück und bezeichnet alltagsweltliche Räume, die von diskursiver Auseinandersetzung geprägt sind. Als „Marker“ werden in der Soziologie Zeichen verstanden, welche zur Wahrnehmung von Differenz und Einteilung von Personen beitragen.
3 Der 3-D-Test des konservativen israelischen Politikers besagt, dass israelbezogener Antisemitismus vorliege, wenn Israel a) dämonisiert, b) delegitimiert oder c) mit doppelten Standards beurteilt werde. Wie Holz und Haury richtig feststellen, kann eine derart vereinfachende Schablone nur erste Hinweise auf israelbezogenen Antisemitismus liefern, diesen aber nicht hinreichend belegen. Schließlich sind Delegitimierung, doppelte Standards und dämonisierende Rhetorik elementare Bestandteile politischer Auseinandersetzungen (vgl. S. 17f.).
4 Klaus Holz, Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung, Hamburg 2001; Thomas Haury, Antisemitismus von links. Kommunistische Ideologie, Nationalismus und Antizionismus in der frühen DDR, Hamburg 2002.
5 Vgl. Doron Rabinovici / Ulrich Speck / Natan Sznaider (Hrsg.), Neuer Antisemitismus? Eine globale Debatte, Berlin 2019.
6 „Auschwitz“ steht hier nicht allein für das Vernichtungslager, sondern auch als Symbol für die nationalsozialistische Ermordung der europäischen Jüd:innen und als Diskursphänomen, das vom Nachweis und der Anerkennung des Holocaust bis zur Stigmatisierung des „alten“ Antisemitismus reicht.
7 Mit Verweis auf Sina Arnold setzen Holz und Haury dem Schein-Universalismus Butlers einen „situierten Universalismus“ entgegen. Ziel müsse es sein, universalistisch zu urteilen, dabei aber die Besonderheiten individueller Erfahrungen nicht zu tilgen (S. 238). Vgl. Sina Arnold, Das unsichtbare Vorurteil. Antisemitismusdiskurse in der US-amerikanischen Linken nach 9/11, Hamburg 2016.
8 Gauland sagte demnach wörtlich: „Ja, wir haben uns mit den Verbrechen der 12 Jahre auseinandergesetzt.“

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch