Cover
Titel
Mad by the Millions. Mental Disorders and the Early Years of the World Health Organization


Autor(en)
Yi-Jui Wu, Harry
Erschienen
Cambridge MA 2021: The MIT Press
Anzahl Seiten
240 S.
Preis
$ 35.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marietta Meier, Historisches Seminar, Universität Zürich

„Mad by the Millions“, der Titel von Harry Yi-Jui Wus Buch, spielt auf eine Stelle in Erich Fromms „The Sane Society“ von 1955 an. So wie es eine „folie à deux“ gebe, heißt es dort, eine gemeinsame, symbiotische Störung zweier nahestehenden Personen, bei der die eine die Wahnsymptomatik der anderen übernehme, existiere auch eine „folie à millions“, eine kollektive Psychose. Fromm kritisierte in „The Sane Society“ die gesellschaftlichen Auswüchse des Kapitalismus und formulierte „Wege aus einer kranken Gesellschaft“, wie der deutsche Titel des Werks heißt.

Wo aber liegt die Verbindung zum Thema von Wus Studie, einem langjährigen Unterfangen der World Health Organization (WHO)1 in der Nachkriegszeit, das die Epidemiologie psychischer Störungen erforschen und eine Klassifizierung erstellen sollte? Der Autor sieht zwei Parallelen: Erstens hätten Psychiater:innen und Sozialwissenschaftler:innen der WHO damals versucht, zu weltweit gültigen Aussagen über die menschliche Psyche und deren Krankheiten zu kommen. Zweitens hätten diese Erkenntnisse dazu beitragen sollen, die Welt zu verbessern und die Bevölkerung dabei zu unterstützen, nach dem Krieg wieder auf die Beine zu kommen (S. 12). Die WHO wollte diese Ziele allerdings auf ganz andere Weise erreichen als Fromm.

Harry Yi-Jui Wu untersucht in seinem Buch das „International Social Psychiatry Project“, wie er es nennt: ein zehnjähriges Unternehmen der Abteilung für psychische Gesundheit der Weltgesundheitsorganisation, das kooperierende Forschungszentren sowie miteinander zusammenhängende Subprojekte miteinschloss. Neben der Art und Weise, wie das Projekt ab 1948 entwickelt und 1964–1974 durchgeführt wurde, nimmt Wu vor allem die Rolle der beteiligten Expert:innen in den Blick. Auf einer übergeordneten Ebene verfolgt er mit seiner Studie das Ziel, die „Transnationalität“ psychischer Gesundheit und die Infrastruktur der Produktion wissenschaftlichen Wissens zu analysieren (S. 16). Mit anderen Worten: Wie kam es nach dem Zweiten Weltkrieg zur Konstruktion eines Konzepts von psychischer Gesundheit, das weltweite Gültigkeit beanspruchte? Wu vertritt die These, das ehrgeizige Projekt der WHO sei durch die universalisierende Vision einer „Weltpsyche“ und den – in der Nachkriegszeit weitverbreiteten – Glauben an Fachwissen und Technologie geprägt worden. Und er zeigt, dass diese Bestrebungen die Basis für das heutige globale, auf Messbarkeit beruhende Konzept von psychischer Gesundheit legten.

Neben der Einleitung (Kapitel 1) und einem Epilog, der das WHO-Projekt mit aktuellen Debatten über globale psychische Gesundheit in Verbindung bringt, umfasst „Mad by the Millions“ fünf Kapitel. Diese sind chronologisch geordnet, nehmen aber jeweils ein bestimmtes Thema in den Blick.

Das zweite Kapitel handelt von der Entstehung der internationalen Sozialpsychiatrie und dem konzeptuellen Wandel, den die Forschung über psychische Krankheiten in der Nachkriegszeit vollzog. Die Sozialpsychiatrie konzentrierte sich auf die sozialen und kulturellen Determinanten psychischer Erkrankungen und setzte in erster Linie auf Prävention. Um psychischen Krankheiten so weit als möglich vorzubeugen, benötigte man aber auch Erkenntnisse zur Ätiologie psychischer Störungen, wie sie die epidemiologische Forschung versprach. Eine Verbindung von Sozialpsychiatrie, Epidemiologie und öffentlicher Gesundheit schien den WHO-Vertretern deshalb der richtige Ansatz zu sein, um ihr Ziel, die weltweite Förderung der psychischen Gesundheit, zu erreichen.

Kapitel 3 befasst sich mit der Frage, wie das International Social Psychiatry Project konzipiert und welche Vorgehensweisen für die erste groß angelegte internationale Studie zur psychischen Gesundheit entwickelt wurden. Durch die Klassifikation und Standardisierung psychiatrischer Krankheiten und die Pilotstudien zur Schizophrenie wurden neben einer gemeinsamen Sprache auch diagnostische Methoden, statistische Verfahren und weitere Forschungsinstrumente geschaffen. Dies trug dazu bei, dass immer mehr Leute an die Realisierbarkeit internationaler, kulturübergreifender Forschung über psychische Gesundheit glaubten.

Das vierte Kapitel zeigt, wie die WHO gleichgesinnte, auf ähnliche Weise ausgebildete Wissenschaftler:innen aus der ganzen Welt rekrutierte, die es der Organisation und ihren Mitgliedstaaten ermöglichten, in der Forschung zusammenzuarbeiten und Wissen auszutauschen. Der Schwerpunkt liegt auf Taiwan und Tsung-yi Lin, einem bis dahin unbekannten taiwanesischen Psychiater, den die WHO zum medizinischen Beauftragten und Leiter des sozialpsychiatrischen Projekts machte. Laut Wu war Taiwan für die WHO der ideale Forschungspartner im westpazifischen Raum, unter anderem, weil sie hoffte, dank dieser Kooperation die chinesische Kultur verstehen zu lernen.

In Kapitel 5 geht es um Technologie und die Infrastruktur für Erhebungen. Der technologische Wandel der 1950er- und 1960er-Jahre ermöglichte der Psychiatrie, ihre Forschungsmethoden zu standardisieren. Für die WHO stellte die Standardisierung biometrischer Daten in den verschiedenen Mitgliedstaaten den ersten Schritt in Richtung internationaler Zusammenarbeit dar. Dabei war Standardisierung sowohl der Grund für internationale Kooperation als auch deren erwünschtes Produkt.

Das sechste Kapitel macht deutlich, dass der Idealismus der unmittelbaren Nachkriegsjahre im Zuge des Kalten Krieges sowie weiterer politischer, wirtschaftlicher und personeller Gegebenheiten schnell schwand. Die Ziele des International Social Psychiatry Project orientierten sich an den Leitbildern Gleichheit, Dekolonisation und „Weltbürgertum“. In der Zusammenarbeit zwischen den WHO-Funktionär:innen und den Wissenschaftler:innen vor Ort entwickelten sich jedoch klare Machtasymmetrien2, vor allem aus finanziellen und arbeitspraktischen Gründen. Gelegentlich griff man gar auf Klassifikationen und Datensätze aus der Kolonialzeit zurück. Die demokratischen Ambitionen des Projekts wurden, so Wu, dem Wunsch nach einem Weltstandard für psychische Störungen geopfert, der Vision eines menschlichen Universalismus.

„Mad by the Millions“ befasst sich mit den Methoden, welche die WHO anwandte, um psychische Gesundheit zu einem „handhabbaren“ globalen Projekt zu machen. Umso mehr erstaunt, dass Wu kaum auf seine eigene Methodik eingeht. Überlegungen zur Frage, wie die Geschichte der Erforschung und Prävention psychischer Krankheiten als globales Projekt erzählt werden und welche Fallstricke sich dabei stellen könnten, fehlen. Für Wu ist die WHO nicht nur ein wichtiger Player in der transnationalen Geschichte der psychischen Gesundheit, sondern auch ein geeigneter Ausgangspunkt, um das Thema aus einer postkolonialen Perspektive zu analysieren: „In establishing its postwar health-related agenda, the WHO occupied a position that can inform transnational historians as they consider the voices of marginalized people or groups.“ (S. 15) Der Entscheid, die WHO ins Zentrum der Studie zu stellen, scheint plausibel und macht das Thema zu einem „handhabbaren“ Untersuchungsgegenstand. Aber lässt sich der Anspruch, „a two-way approach to studying a history of the co-production of scientific knowledge from the perspective of the WHO and from the perspective of its member states“ (S. 17) zu bieten, auf Basis des zusammengestellten Quellenkorpus überhaupt einlösen? Welche blinden Flecken bringt die gewählte Vorgehensweise mit sich? Welche Akteur:innen werden in den untersuchten Quellen übergangen, was bleibt unerwähnt? Wer nicht explizit auf solche Fragen eingeht, riskiert trotz gegenteiliger Absichten, auf der Untersuchungsebene aufgezeigte Auslassungen zu reproduzieren.

Damit sind wir bei den Quellen angelangt, auf denen die Studie beruht. Wu nennt in der Einleitung Akten von WHO-Projekten, Sitzungsprotokolle, Tagungsberichte, wissenschaftliche Korrespondenz und medizinische Fachartikel (S. 19). Am Ende des Buchs sind auf einer halben Seite die zehn Archive bzw. deren Bestände aufgeführt, die der Autor konsultiert hat. Weitere Informationen zum Quellenkorpus fehlen ebenso wie quellenkritische Überlegungen. Angaben zur berücksichtigten Forschungsliteratur finden sich nur in den Endnoten, wo nach dem Erstbeleg mit Kurzbelegen gearbeitet wird. Dies alles macht es leider fast unmöglich, Wus Vorgehen nachzuvollziehen und sich ein genaueres Bild vom Material zu verschaffen, das dem Buch zugrunde liegt.

Schiebt man solche theoretisch-methodischen Bedenken beiseite, bietet „Mad by the Millions“ einen erhellenden Einblick in die Bemühungen um eine internationale Standardklassifikation psychischer Krankheiten. Mit Hilfe von Erhebungen, Videos und Seminaren sollte eine „Weltpsyche“ eruiert werden. Die Wurzeln dieses Unterfangens lagen in den unmittelbaren Nachkriegsjahren, in denen sich Verzweiflung mit Hoffnung paarte. Die Förderung der globalen Gesundheit und wissenschaftliche Erkenntnisse über eine universelle menschliche Natur sollten dazu beitragen, eine Rückkehr der Gewalt zu verhindern. Nach Wu wollte die WHO mit dem International Social Psychiatry Project ein Bottom-up-Unternehmen lancieren, das lokales Wissen aus der ganzen Welt sammelte. Die Implikationen des Kalten Kriegs, die Bürokratie und der Wunsch der Experten, global gültiges Wissen zu schaffen, hinderten die Organisation daran, so sein Fazit, dieses Ziel zu realisieren.

Anmerkungen:
1 Klaas Dykmann, Rezension zu: Lee, Kelley: The World Health Organization, London 2008, in: Connections. A Journal for Historians and Area Specialists, 12.11.2010, https://www.connections.clio-online.net/publicationreview/id/reb-14816 (18.08.2022).
2 Wu zeigt beispielsweise auf, dass die WHO die Entscheidungen im Bereich der psychischen Gesundheit in Genf traf und deren Umsetzung in den globalen Süden auslagerte.

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