N. Finzsch: Geschichte der Kliteridektomie

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Titel
Der Widerspenstigen Verstümmelung. Eine Geschichte der Kliteridektomie im »Westen«, 1500–2000


Autor(en)
Finzsch, Norbert
Reihe
Gender, Diversity and Culture in History and Politics
Anzahl Seiten
528 S.
Preis
€ 49,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Leonie Braam, Institut für Ethik und Geschichte der Medizin, Universität Tübingen

Medizinische Eingriffe hinterlassen Spuren – Spuren in der Geschichte und am Körper selbst. Diese Spuren sind dabei nicht nur individuelle Verweise auf den Eingriff, sondern können zugleich als Quellen gesellschaftlicher und historischer Fragen gelesen werden. Am weiblichen Körper sind sie dabei besonderer Marker einer Geschichte von Gewalt, Macht und Kontrolle durch die Medizin: Wie wird über den weiblichen Körper in der Medizin gesprochen? Welche Praktiken und Zugriffe konstruieren und kontrollieren Vorstellungen von Weiblichkeit, insbesondere weiblicher Sexualität?

Einem besonders gewaltvollen Teil der Geschichte von Zugriffen auf den weiblichen Körper widmet sich Norbert Finzsch in seinem 2021 publizierten Werk Der Widerspenstigen Verstümmelung. Eine Geschichte der Kliteridektomie im „Westen“, 1500–2000. Finzsch fokussiert in seiner Studie die nach der Weltgesundheitsorganisation WHO 1996 definierte Female Genital Mutilation (FGM/C) als Verstümmelung weiblicher Genitalien durch Beschneidung, Exzision oder Kauterisieren in Quellen vom 16. bis ins 20. Jahrhundert. Dabei konzentriert er seine Untersuchungen auf einen recht uneindeutig bezeichneten „Westen“ – Deutschland, Frankreich, Großbritannien und die USA. Während zahlreiche Studien die Verstümmelung weiblicher Genitalien in kulturellen wie religiösen Kontexten oftmals außerhalb eines vermeintlich fortschrittlichen, rationalen „Westens“ verorten, versucht Finzsch, eben diese Vorstellung durch die Analyse der Kliteridektomie als Praxis der „westlichen“ Geschichte herauszufordern. Eine beeindruckende Fülle schriftlicher Quellen wie Handbücher, Fachaufsätze und Forschungsberichte aus Medizin, Theologie, Philosophie, Zeitgeschichte und Alltagskultur bilden so die Grundlage für seine transnationale, generationen- und disziplinüberschreitende Untersuchung. Obgleich dieser Fülle überwiegt ein Blick in den Quellen: „Der medikalisierte Blick blendete die Subjektivität der betroffenen Frauen aus, reduzierte sie zu Objekten und ließ ihre Widerständigkeit, ihren Eigensinn und ihre Noncompliance [Hervorhebung im Original, LB] nahezu unsichtbar werden.“ (S. 23) Finzsch deutet also diese Problematik der Dominanz des ärztlichen – und somit historisch zumeist des männlichen – Blicks auf weibliche Devianz in den Quellen an und versucht dieser in einer dichten Diskursanalyse entgegenzuwirken. Dennoch blieb die Perspektive der betroffenen Personen im historischen Diskurs oft ungehört. Ego-Dokumente sind zumeist nicht vorhanden oder wurden nicht systematisch gesammelt. Finzschs Studie ist somit vor allem eine Analyse des Sprechens über weibliche Devianz und Sexualität, über den weiblichen Körper und die Versuche, diesen zu kontrollieren. Die Praxis der Kliteridektomie als gewaltsamer Zugriff ist für Finzsch so nur durch die sorgsame Analyse der Quellen rekonstruierbar; „die empirische Nachweisbarkeit des Einsatzes“ (S. 19) bleibt vor der Diskursdichte zurück.

Finzsch nimmt für seine Studie Zuordnungen vor, um den Diskurs über Abweichungen und Sexualität analysieren zu können. Er bedient sich der Paarung Figuration/Formation, um sowohl Diskurs als auch Praktik der Zugriffe abbilden zu können. Die von Finzsch so identifizierten Figurationen/Formationen dienen als Gliederung für seine Studie. Dabei folgt die Zuordnung der Figurationen/Formationen lose einer historischen Abfolge im von Finzsch gewählten Untersuchungszeitraum und wird zusätzlich von diskursiven Brücken begleitet und ergänzt. Diese Einteilung der Abweichungen von einer heteronormativen Vorstellung von Körpern und Sexualität verweist jedoch schon auf die Schwierigkeiten, eine klare Trennung der Diskurslinien und Kategorisierungen vorzunehmen. Daher überschneiden sich die Analysen, Quellenbegriffe und Benennungen.

Zu Beginn der Studie erlaubt die Figuration/Formation A: Die Hermaphroditin gleichwohl, die „frühneuzeitliche Angst vor uneindeutigen Geschlechtsbestimmungen“ (S. 110) in den medizinischen Quellen nachzuzeichnen. Personen, die Merkmale des männlichen wie weiblichen Geschlechts zeigten, traten laut Finzsch als „monströs“ (S. 94) in Erscheinung. Die Medizin versuchte dieser geschlechtlichen Uneindeutigkeit entgegenzuwirken und erklärte in Diskursen des 18. Jahrhunderts die vergrößerte Klitoris als pathologische Ursache des uneindeutigen Geschlechts. Durch die Verkleinerung, gar Entfernung der Klitoris sei dies allerdings zu beheben. Über die diskursive Brücke der Virago führt Finzsch den Diskurs weiter zur Figuration/Formation B: Die Tribade, die sich als gleichgeschlechtlich liebende Frau außerhalb der heterosexuellen Norm bewegt. Nun als Veranlagung der Frauen kategorisiert, wurde die Kliteridektomie als „Heilung dieser Disposition“ (S. 138) forciert. In Korrelation mit Masturbation tritt auch hier die vergrößerte Klitoris in den Fokus der Pathologisierung – Finzsch geht dieser Fokussierung in der diskursiven Brücke „Die übermäßig vergrößerte Klitoris“ nach. Im 19. Jahrhundert wurde die vergrößerte Klitoris zugleich Mittelpunkt „familaristischer“ Diskurse. Mit der Figuration/Formation C: Die Masturbatorin umfasst Finzsch ein Phänomen, das gleichsam die vorher genannten Figurationen/Formationen einschließt. Als Folge übermäßiger Masturbation markiere die vergrößerte Klitoris den devianten Körper. Eindrucksvoll wendet sich Finzsch dabei sowohl gegen Michel Foucault als auch Thomas Laqueur, indem er die Medikalisierung der Masturbation bereits vor dem 18. Jahrhundert verortet und nachweist, wie die Masturbation als „Todsünde“ von der theologischen Verurteilung Einzug in die medizinischen Diskurse fand. Finzsch zeigt zudem auf, wie der Ursprung der theologischen Verurteilung der Masturbation im medizinischen Kontext gewaltvolle Eingriffe auf den weiblichen Körper vorbereitete. Über Exkurse und diskursive Brücken gelangt Finzsch zur letzten Figuration/Formation D: Die Hysterikerin. Durch die Entwicklungsgeschichte der „hysterischen“ Erkrankung von einer am Organ der Gebärmutter verursachten Störung hin zu einer Erkrankung des Gehirns ergab sich ein „Ansatzpunkt für die Abschaffung der Kliteridektomie“ (S. 318). Zugleich aber blieb der gewaltsame Eingriff auf die weiblichen Geschlechtsorgane Teil einer Behandlung der Hysterie.

Die Studie zur Kliteridektomie bringt Norbert Finzsch zu einem offenen Schluss. Irritierend ist hierbei, dass Finzsch sich im letzten Teil der Arbeit mit dem amerikanischen Arzt James C. Burt (1921–2012) befasst, der in den 1960er-Jahren zahlreiche Patientinnen zum Teil gegen ihren Willen oder gar unwissentlich verstümmelte. Die Eingriffe, die Finzsch mit großem Detailreichtum schildert, führen den zuvor erarbeiteten Diskurs der weiblichen Genitalverstümmelung ohne Reflexion fort. Unklar ist, mit welcher Absicht Finzsch das letzte Kapitel vor seine Schlussbetrachtungen setzt. So entlässt er die Leser:innen reichlich empört in seine Gedanken zur Frage nach dem Fortbestehen gewaltsamer Zugriffe auf den weiblichen Körper. Im Kontext chirurgisch-plastischer Eingriffe an den weiblichen Genitalien wie der Labioplastik verkehrt Finzsch zudem teilweise die Perspektive: Während in den historischen Diskursen die Motive und Lebenswelten der Patient:innen unsichtbar bleiben und die medizinische Perspektive in den Quellen überwiegt, verkürzt er in der Schlussbetrachtung den Blick auf die Patient:innen, die sich heute der Eingriffe unterziehen.

Die Studie von Norbert Finzsch ermöglicht insgesamt einen detaillierten Einblick in Quellen zur weiblichen Devianz, doch fehlt an einigen Stellen die (medizin-)historische Kontextualisierung. Auch unterscheidet sich der Aufbau der Kapitel kaum und die Verwendung langer Zitate ist redundant. Obwohl die Quellenlage zur Sicht der betroffenen Personen aus bereits genannten Gründen problematisch und lückenhaft ist, bleiben die Betroffenen seltsam stumm und finden sich – trotz der sorgsamen Einordnung Finzschs – erneut in Kategorisierungen wieder. Zugleich unterstellt bereits der Titel Der Widerspenstigen Verstümmelung eine konstruierte Widerständigkeit, die sich aus den Quellen selbst heraus nicht gänzlich erschließt. Welche Räume und Praktiken konnten die von der Medizin als deviant kategorisierten Personen tatsächlich einnehmen? Hierbei fehlt eine Unterscheidung von aktiver und passiver Zuordnung außerhalb der heteronormativen Systeme. Welche agency besaßen Personen auch abseits ihrer von der Medizin definierten Form von Sexualität wirklich? In der Studie von Norbert Finzsch ist hier die Autorität der Medizin als Teil einer patriarchalen Struktur noch unangetastet. Erneut bleiben nur die Spuren der Eingriffe am Körper der Betroffenen zurück und sind Verweise auf die tieferliegenden, verwobenen Strukturen von Gewalt, Macht und Kontrolle.