Mit seiner Caesar-Biografie legt Robert Morstein-Marx ein auf den ersten Blick überwältigendes Werk mit einem Umfang von 646 Seiten intensivster Forschung vor, welches die vielen Jahre seines wissenschaftlichen Wirkens repräsentiert. Er verfolgt damit den Anspruch, Caesar nicht als einen politischen Außenseiter, sondern als Teil der republikanischen Gemeinschaft im 1. Jahrhundert v. Chr. zu präsentieren.
Zuerst ist sein anspruchsvoller Schreibstil gepaart mit einer hohen Dichte an Informationen in Text und Fußnoten zu erwähnen. Schon wenige Seiten von Morstein-Marx enthalten eine solche Fülle an Ideen und Denkanstößen, die man erst einmal verarbeiten muss. Mitdenken braucht Zeit, aber man wird hier auch auf eine Reise entführt, die einem eine ganz neue Perspektive nicht nur auf Caesar, sondern die späte Römische Republik insgesamt bringt. Morstein-Marx drängt seine Leserschaft gerade dazu, alte Forschungsparadigmen hinter sich zu lassen und Abstand zu Cicero als Hauptquelle zu gewinnen, um mit einem frischen Blick die Geschehnisse nicht vom Ergebnis, sondern von den Ursprüngen ausgehend zu untersuchen. Das allein ist schon die Hauptberechtigung, warum auch Morstein-Marx eine Caesar-Biografie vorlegt.1 Wir lernen hier einen anderen Caesar kennen, nämlich den republikanischen Feldherrn und nicht den von Geburt an auf Alleinherrschaft abzielenden Dictator. Gleichzeitig bietet sich ein tiefer Einblick in die Mechanismen der späten Republik, insbesondere der Entscheidungsfindung im Senat. Genau diese Tiefe und der hohe Detailgrad sind sowohl die größte Stärke als auch die größte Schwäche des Werks. Besonders für Nicht-Akademiker kann die Schreibweise des Autors abschreckend sein. Wer den im Original zitierten Quellen und den Landessprachen der Literatur (vornehmlich Deutsch) nicht mächtig ist, fühlt sich aufgrund fehlender Übersetzungen ins Englische alleingelassen. Auch wenn sich der Autor viel Mühe gibt, seine Leser in den einführenden Texten und mit Zwischenüberschriften gut durch die Kapitel zu leiten, wären mehr als die drei im Buch enthaltenen Abbildungen sehr nützlich gewesen, um Abläufe oder Schlachtbewegungen zu visualisieren.
In seiner Einleitung identifiziert Morstein-Marx bei den Erzählungen über Caesar das große Problem, dass diese häufig den Anfang dem Ende anpassen. Seine Perspektive soll Caesar aber so darstellen, wie er von seinen Zeitgenossen wahrgenommen wurde, und zwar „as a great republican leader“ (S. 27). Dazu wählt er einen chronologischen Ansatz und beginnt damit zu zeigen, dass der frühe Caesar nicht von der Norm der römischen Jugend zu Beginn ihrer politischen und militärischen Karriere abweicht (Kap. 2). Es folgt eine genaue Untersuchung der Debatte um Catilina und Caesars überraschenden Reaktion darauf (Kap. 3). Hier distanziert sich Morstein-Marx erstmals klar von der Ciceronischen Interpretation der Vorgänge. Alle Beteiligten, sowohl die Senatoren um Cato und Cicero als auch Caesar mit seiner Rede gegen die Exekutionen (S. 89–99), hatten das Ziel, den Senat in der Situation der Krise zu stärken, nur eben sehr unterschiedliche Ansätze dies zu erreichen. Umwälzende Ideen außerhalb der republikanischen Tradition sind hier nicht vorzufinden.
Als zentrales Element jeder Biografie von Caesar darf das angeblich alles verändernde Konsulat von 59 v. Chr. nicht fehlen, wobei für Morstein-Marx nicht Caesar derjenige gewesen sei, der sich von den üblichen Methoden entfernte, sondern vielmehr seine Gegner (Kap. 4). Gerade hier wird sehr auffällig, wie hilfreich es ist, die bisher übliche Perspektive zu verlassen und zu schauen, wer sich denn mit seinem Handeln gegen die althergebrachten Normen der Republik stellt. Es folgen die kriegerischen Auseinandersetzungen in Gallien (Kap. 5), die für Caesar von Beginn an eine Bewährungsprobe darstellten. Dabei betont Morstein-Marx, wie wenig Kontrolle und Einfluss Caesar über den Informationsfluss am Ende haben konnte. In seiner Argumentation versucht er Übertreibungen und falsche Einschätzungen der Machtposition Caesars zu korrigieren. In seinen Kapiteln zum Bürgerkrieg legt er seinen Fokus darauf, dass die Überschreitung des Rubikons nicht der point of no return war, für den er doch häufig gehalten wird. Er dekonstruiert Stück für Stück die seit Gruen vorherrschenden Vorstellungen über die Eskalationsspirale und ihre Zwangsläufigkeit (Kap. 6)2, bevor er sich dann dem Kriegsgeschehen selbst zuwendet und aufzeigt, wie lange Caesar noch auf Vermittlung anstelle eines schnellen Sieges auf dem Schlachtfeld setzt (Kap. 7).
Mein persönliches Highlight (auch aufgrund persönlichen Forschungsinteresses) ist die Diskussion der Clementia Caesars (Kap. 8). Hier stellt sich Morstein-Marx erneut klar gegen die bisherige (insbesondere englischsprachige) Forschungsmeinung, welche diese als Element einer wohlwollenden Alleinherrschaft interpretiert, und schließt sich David Konstans Idee einer Neuinterpretation an.3 Dies zeigt sich gerade darin, dass er als alternativen Begriff zum kaiserzeitlichen Konzept der Milde für die Zeit der Republik „Leniency“ nutzt, was auch näher an den von Caesar selbst genutzten Konzepten liegt. Hier legt der Autor erneut demonstrativ die Cicero-Brille ab. Caesar zielte mit seiner Strategie der Vergebung nicht darauf ab, die Empfänger seiner „Leniency“ zur Unterwerfung unter seine Herrschaft zu verpflichten. Sie schuldeten ihm nichts. Vielmehr lebte er eine republikanische Tugend gegenüber seinen Gegnern, um eine Eskalation des Bürgerkriegs mit viel Blutvergießen zu verhindern und die gespaltene Gesellschaft wieder zu vereinen. Äußerst hilfreich – und damit zeigt sich klar die Hauptstärke des Werks – ist der Katalog aller Empfänger von Caesars Nachsichtigkeit, den man in diesem Umfang hier erstmals vorfindet. Morstein-Marx schaut sich in allen Kapiteln konkret die Quellenbelege an und prüft sie historisch-kritisch auf ihren Aussagewert.
Zuletzt folgt der Blick auf Caesars Zukunftspläne und deren abruptes Ende durch die Ermordung Caesars (Kap. 9). Zusammenfassend stellt sich im Fazit (Kap. 10) die Frage, ob er seinem Anspruch der Unbefangenheit von Teleologie gerecht werden konnte. Meiner Meinung nach hat er dies geschafft und stets überzeugend auf Grundlage intensiver Quellenarbeit ein klares Abwägen der Faktenlage präsentiert. Abschließend erläutert er pointiert, dass es am Ende „an erosion of mutual trust“ (S. 604) war, die zur Zerstörung der Republik führte, und nicht das Handeln einer einzelnen Person. Caesar ist in diesem Werk kein Mann, der darauf bedacht war, seine Alleinherrschaft aufzubauen, sondern wie seine Zeitgenossen ein Teil der republikanischen Gemeinschaft. Er war nicht der Zerstörer der Republik, wie er von seinen Gegnern beschrieben wurde, sondern schlicht ein Verteidiger seiner eigenen dignitas und damit seiner eigenen Ehre und Würde als republikanischer Politiker und Feldherr. Vielmehr waren es seine Gegner, die durch ihre Aktionen die Regeln der Gemeinschaft zersetzten. Caesar war in der Interpretation von Morstein-Marx kein Außenseiter, der das System abschaffen wollte, sondern ein Teil des Systems.
Mit seinem Werk versucht Morstein-Marx seinen Blick auf die Handlungen aller Beteiligten (Caesar ausdrücklich eingeschlossen) als in der Römischen Republik sozialisiert zu lenken. Es geht dabei häufig gar nicht so sehr um Caesar selbst, sondern mehr um die inneren Mechaniken und Abläufe des römischen Gemeinwesens an sich. Zudem schafft er eine Gegenerzählung zu den von Cicero stark beeinflussten Narrativen. Insgesamt hat Morstein-Marx hier eine Pflichtliteratur für all diejenigen geschaffen, die sich mit dem letzten Jahrhundert vor Christus und dem Übergang von Republik zum Prinzipat auseinandersetzen wollen und dabei einer Flut an unüberschaubarer Forschung ausgesetzt waren. Für Nicht-Akademiker und Studierende der ersten Semester ist das Werk weniger geeignet. Einen schnellen Überblick muss man sich anderswo suchen, denn Morstein-Marx nimmt einen mit in die Tiefen des Kaninchenbaus. Diese Diskussion wird von ihm aber so umfassend geführt, dass es der Ausgangspunkt für die weitere Forschung sein muss. Anstatt viele Werke zu lesen, ist die erste Adresse für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der späten Römischen Republik nun hier zu finden.
Anmerkungen:
1 Siehe auch die ähnliche Einschätzung bei Michael Fallon, Rezension zu: Robert Morstein-Marx, Julius Caesar and the Roman People, Cambridge 2021, in: Classics for All, 03.07.2022, https://classicsforall.org.uk/reading-room/book-reviews/julius-caesar-and-roman-people (05.04.2024).
2 Erich S. Gruen, The Last Generation of the Roman Republic, Berkeley 1974.
3 David Konstan, Clemency as a Virtue, in: Classical Philology 100 (2005), S. 337–346.