Die vorliegende Arbeit ist eine in mehrerlei Hinsicht besondere Veröffentlichung. Erschienen ist sie als fünfter und abschließender Band im Rahmen der Reihe „Das Reichsarbeitsministerium im Nationalsozialismus“, herausgegeben von der durch das Bundesarbeitsministerium selbst eingesetzten Historikerkommission, deren Aufgabe es war, die institutionelle Vorgeschichte des Hauses zu untersuchen, wie dies in den letzten bald zwei Jahrzehnten im Nachgang der entsprechenden Untersuchung für das Auswärtige Amt für letztlich jedes Bundesministerium sowie weitere oberste Bundesbehörden geschehen ist.1
Drei Faktoren machen das unstreitig nicht nur ob seines schieren Umfangs gewichtige Werk zu einer im besten Sinne außergewöhnlichen Arbeit. Zum einen war der Verfasser im Rahmen des Forschungsprojekts nicht der ursprünglich vorgesehene Autor der Studie. Das ist mit Blick auf die Einordnung der Arbeit insofern eine relevante Tatsache, als Rüdiger Hachtmann keine klassische monografische Synthese der im Projekt erarbeiteten Forschungsergebnisse vorlegt, sondern sich schon recht früh und sehr eindeutig von der Herangehensweise einiger anderer Autoren des Reihenwerkes absetzt (S. 28, Anm. 13, sowie nochmals massiv S. 1.374f.).
Zum anderen – und dies mag eine Erklärung für den letztlich erreichten Umfang der Studie sein, deren Inhaltsverzeichnis allein 14 Seiten umfasst – bildet sie nicht nur formal den Abschluss der Publikationsreihe des Projekts zur Vorgeschichte des Bundesarbeitsministeriums, sondern ist zugleich Synthese einer mehr als drei Jahrzehnte umfassenden historiographischen Auseinandersetzung des Autors mit der Geschichte der (Industrie-)Arbeit in Deutschland (S. 1.379f.).2 Dabei gelingt es ihm, immer wieder ein besseres Verständnis für die Entwicklungslinien der deutschen Arbeits- und Sozialpolitik sowie -verwaltung zwischen den Kriegen zu wecken, indem er die Geschichte der Behörde und der von ihr bearbeiteten Politikfelder in den Kontext der Entwicklung von Weimarer Republik und NS-Regime insgesamt einbettet. Seine Arbeit ist drittens als Praxistest der Anwendbarkeit seines vor rund anderthalb Jahrzehnten erstmalig formulierten Interpretationsansatzes zu lesen, das Staatsgefüge der NS-Herrschaft auf den Begriff der „neuen Staatlichkeit“ zu bringen.3
Insofern ist die vorliegende Studie weit mehr als eine Institutionengeschichte. Sie ist vielmehr die Geschichte des Reichsarbeitsministeriums im Kontext der jeweils zeitgenössischen arbeits- und sozialpolitischen Debatten, die wiederum in die allgemeine Politikgeschichte des Untersuchungszeitraums eingebettet sind. Gerade darin liegt einerseits die unstreitige Stärke des Buches, eine umfassende Gesamtschau des Themenkomplexes von beinahe enzyklopädischer Vollständigkeit zu sein: Wer künftig zur deutschen Geschichte der Arbeits- und Sozialpolitik 1918 bis 1945 arbeiten oder sich informieren will, wird an diesen beiden Bänden nicht vorbeikommen, auch wenn gerade die aus erkennbar langjähriger Befassung mit der Materie sich speisende enorme Breite der Darstellung mitunter vom eigentlichen Kern der Sache – der Geschichte des Reichsarbeitsministeriums als Behörde – wegführt, was die Lektüre durchaus zu einer Herausforderung macht.
Auch deshalb konzentriert sich diese Besprechung im Folgenden vor allem auf den letzten der drei genannten Aspekte. Hier steht mit Blick auf das Reichsarbeitsministerium als Institution im engeren Sinne die Frage im Raum, inwieweit sich mit der Untersuchung die vom Autor schon früher skizzenhaft entwickelte Interpretation vom NS-Staat als Ausdruck einer „neuen Staatlichkeit“ tatsächlich plausibilisieren lässt – oder eben nicht.
Auf diesem Aspekt soll auch aufgrund seiner über den eigentlichen Untersuchungsgegenstand hinausreichenden, grundlegenden Bedeutung für das Verständnis des Nationalsozialismus der Fokus dieser Besprechung liegen; eine Perspektive, die der Verfasser selbst als wesentliche Triebfeder bei der Niederschrift der Arbeit konstatiert hat (S. 1.380). Dabei, dies sei vorausgeschickt, erfüllt die Arbeit in dieser Hinsicht die selbst gesteckten Ziele nicht. Vielleicht auch deshalb hat der Autor sich ganz zu ihrem Ende dann auch demonstrativ dagegen verwahrt, „sich im Vorfeld auf eine ganz bestimmte Großtheorie festgelegt“ (S. 1.380) zu haben.
Dem den traditionellen Periodisierungsrastern der deutschen Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zuwiderlaufenden Ansatz von Anthony McElligott folgend, der die Einheit der Epoche durch die Jahre 1916 und 1936 definiert sieht4, sieht auch Hachtmann den Strukturbruch insbesondere ab 1936 mit der Etablierung der Vierjahresplanbehörde gegeben (S. 791). Spätestens ab diesem Zeitpunkt habe sich vollends eine Staatsstruktur entwickelt, die mit dem bis dato Bestehenden immer weniger gemein gehabt habe. Vielmehr habe die neue Form staatlicher Wesenheit eine Art Zwitterdasein geführt, weil neben neuen, bisher (vermeintlich) unbekannten oder ungewohnten Organisationsformen und Prozessstrukturen mit nachgerade postmodern anmutendem Charakter, dezidiert (neo-)feudale Phänomene Bedeutung erlangt hätten.
Zugleich verwahrt sich der Autor gegen die Argumentation, die ab 1933 einsetzenden Eingriffe hätten eine Art Ausnahmezustand begründet. Tatsächlich, so argumentiert Hachtmann unter Verweis auf die in vielerlei Hinsicht komplementär zu lesende Untersuchung von Stefanie Middendorf zur Geschichte des Reichsfinanzministeriums zwischen 1918 und 19455, dass die krisenhafte Ausnahme ohnehin Signum der Epoche gewesen sei. In diesem Sinne seien die Veränderungen des Frühjahrs 1933 nur eine weitere Sonderheit in der auch von Zeitgenossen als unstete, rastlose Abfolge sich wechselseitig bedingender politischer und gesellschaftlicher Krisen empfundenen Zeitspanne gewesen. So gesehen waren Ausnahmeregelungen und extranormative Vorgehensweisen nur die Reaktion auf immer neue Heraus- und Anforderungen einer gesellschaftlichen Umwelt, die mit den Mitteln einer tradierten normativen Staatsordnung nicht zu lösen gewesen seien (S. 1.214). Besonderes Gewicht erhält diese Argumentation durch die detaillierte Nachweisführung, dass schon in der Phase der Weimarer Präsidialkabinette ab 1930 die Struktur des Staatswesens wie auch die Tektonik der Machtverteilung zwischen Ministerialbürokratie und Parlament bzw. Politik erhebliche Veränderungen erfuhren, sodass der vermeintliche Systembruch des Frühjahrs 1933 zumindest für die Beamtenschaft weniger gravierend ausfiel als gemeinhin angenommen (vor allem S. 355).
So überzeugend insofern die These von der Normalität des Außerordentlichen dargelegt wird, so widersprüchlich bleibt in sich der theoretisch-analytische Überbau, den der Verfasser der – es sei nochmals betont – in der sachlichen Darstellung in jeder Hinsicht überzeugenden Arbeit aufpfropft. Denn während er sich einerseits der organisationssoziologischen Klassiker von Max Weber bis Niklas Luhmann situativ und selektiv gerne bedient, um die Funktionsweise „charismatischer“ Verwaltungsstäbe oder die personelle Dynamik in Institutionen zu erklären, wendet er sich wiederholt scharf gegen die Vorstellung, es habe überhaupt irgendwann in der (deutschen) Vor- oder Nachgeschichte des Nationalsozialismus eine rationale bürokratische Herrschaft in Reinform gegeben, die dann als in den Köpfen früherer Historikergenerationen verankerter Idealtypus als Wertmaßstab diente, an dem sich die (normative, nicht faktische) Defizienz des nationalsozialistischen Staatswesens scheinbar offensichtlich ablesen ließ. Hier muss sich der Autor fragen lassen, warum er bei der Entwicklung seiner eigenen analytischen Perspektive auf die Staatsstruktur des Nationalsozialismus buchstäblich eine begriffliche Neuschöpfung gewählt hat, die just diese implizite Vergleichsperspektive semantisch stark macht. Denn wo es eine „neue Staatlichkeit“ gibt, drängt sich umgehend die Frage auf, wie denn die von ihr abgelöste „alte“ Staatlichkeit beschaffen war – und worin sich beide voneinander unterschieden.
Ähnlich irritierend wirkt es auch, wenn der Verfasser einerseits mit scharfen Worten den Gebrauch des systemtheoretisch inspirierter Begriffs „Umwelt“ zur Beschreibung des Verhältnisses der untersuchten Behörde zu dem sie umgebenden politischen System bzw. zur Gesellschaft insgesamt als verharmlosend kritisiert (S. 1.214), sich aber selbst bereits zeitgenössisch gebräuchlicher Begriffe wie „Gaufürsten“ und „Vizekönige“ bedient (insbes. 1.101ff.), um die strukturellen Eigenheit des stark personalisierten nationalsozialistischen Staatswesens begreiflich zu machen. Dass er sich dabei der damit verbundenen Risiken bewusst ist, die unterschiedlichen Bedeutungsebenen im Sinne einer Differenzierung der „Geschichte der Begriffe“ von den „Begriffen der Geschichte“ (Koselleck) zu vermengen, macht das Festhalten an ihnen nur noch problematischer. Und auch, dass er gefühlt mit dem letzten Satz des Buches die Relevanz der gesellschaftlichen Umwelt für die Entwicklung einer Institution explizit herausstellt, wobei er zumindest folgerichtig den Begriff der Umwelt meidet und stattdessen vom phonetisch eng verwandten „Umfeld“ spricht, muss in diesem Kontext irritieren (S. 1.377f.).
An diesen und anderen Stellen drängt sich bei der Lektüre der Eindruck auf, dass es auf der analytischen Ebene zu sehr darum gegangen ist, die empirischen Befunde über den Leisten des vorher schon bestehenden Interpretationsansatzes zu schlagen, anstatt aus der empirisch mehr als gesättigten Darstellung analytische Befunde abzuleiten. In diesem Sinne wirkt die Arbeit mitunter so, als sei der Stoff darstellerisch so zugerichtet worden, dass er die schon vorausgesetzten Hypothesen stützt statt umgekehrt. Kurz: Explanans und Explanandum geraten stellenweise in Konflikt bzw. scheinen die Rollen zu tauschen. Das ist insofern bedauerlich, als die Arbeit dies nicht nötig hätte, zumal sie sich in der Sache in vielen Befunden mit dem deckt, was Stefanie Middendorf unlängst am Beispiel des Reichsfinanzministeriums herausgearbeitet hat. Wo Middendorf sich jedoch semantisch darauf beschränkt, die Wesenheit nationalsozialistischer Staatlichkeit zu beschreiben und diese Befunde analytisch einzuordnen, scheint Hachtmann stets darauf bedacht, den Gegenstand in das Interpretationsraster der „neuen Staatlichkeit“ einzufügen.
Insofern bleibt abschließend der Eindruck einer Arbeit, die auf der inhaltlichen, darstellerischen Eben absolut zu überzeugen vermag, die aber zugleich die analytischen Schwachstellen des Konzepts der „neuen Staatlichkeit“ exemplarisch offenlegt. Auch dies bedeutet für sich betrachtet einen Erkenntnisfortschritt – jedoch gewiss einen anderen als der Verfasser intendiert hat.
Anmerkungen:
1 Eckart Conze / Norbert Frei / Peter Hayes / Moshe Zimmermann, Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, München 2010, sowie zuletzt Niels Weise, „Mehr als Nazizählerei". Die Konjunktur der behördlichen Aufarbeitungsforschung seit 2005, in: Magnus Brechtken (Hrsg.), Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Ein Kompendium, Göttingen 2021, S. 386–404.
2 Rüdiger Hachtmann, Industriearbeit im „Dritten Reich". Untersuchungen zu den Lohn- und Arbeitsbedingungen in Deutschland 1933 bis 1945, Göttingen 1989. Im Literaturverzeichnis führt der Autor über nicht weniger als zwei Seiten eigene Literatur auf (S. 1.422ff.)
3 Rüdiger Hachtmann, „Neue Staatlichkeit“. Überlegungen zu einer systematischen Theorie des NS-Herrschaftssystems und ihrer Anwendung auf die mittlere Ebene der Gaue, in: Jürgen John / Horst Möller / Thomas Schaarschmidt (Hrsg.), Die NS-Gaue. Regionale Mittelinstanzen im zentralistischen „Führerstaat“, München 2007, S. 56–79; ders., Elastisch, dynamisch und von katastrophaler Effizienz. Zur Struktur der Neuen Staatlichkeit des Nationalsozialismus, in: Sven Reichardt / Wolfgang Seibel (Hrsg.), Der prekäre Staat. Herrschen und Verwalten im Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 2011, S. 29–73.
4 Anthony McElligott, Rethinking the Weimar Republic. Authority and Authoritarianism, 1916–1936, London 2013.
5 Stefanie Middendorf, Macht der Ausnahme. Reichsfinanzministerium und Staatlichkeit (1919–1945), Berlin 2022.