O. Budnickij: Drugaja Rossija [Das andere Russland]

Cover
Titel
Drugaja Rossija. Issledovanija po istorii russkoj emigraсii [Das andere Russland. Forschungen zur Geschichte der russischen Emgration]


Autor(en)
Budnickij, Oleg
Erschienen
Anzahl Seiten
632 S.
Preis
₽ 840
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Karl Schlögel, Berlin

Das Ende der Sowjetunion vor 30 Jahren öffnete Wege für die Erforschung von lange tabuisierten Themen. Die Geschichte der russischen Emigration, des Exils, der Diaspora war eines der wichtigsten. Das „Russland jenseits der Grenzen“ kehrte gleichsam in die Heimat zurück. Schriftsteller wie Vladimir Nabokov, die Jahrzehnte vergessen und verfemt waren, wurden – zum Teil in riesigen Auflagen – gedruckt, die Werke von Künstlern wurden zum ersten Mal ausgestellt, vor allem aber wurde die dokumentarische Hinterlassenschaft der russischen Diaspora, sofern sie wie die Bestände des Prager Historischen Auslandsarchivs, das nach 1945 nach Moskau transferiert und auf verschiedene Archive aufgeteilt worden war, einem weiteren Kreis von Forschern zugänglich. War eine Publikation wie die von Leonid Škarenkovs „Agonija beloj emigracii“ 1981 noch ein Einzelfall und noch weitgehend in den schwarz-weiß-Koordinaten der sowjetischen Historiographie verhandelt1, so begann Ende der 1980er- und in den 1990er-Jahren ein regelrechter Boom der postsowjetischen Version von Exilforschung.

Einer der Pioniere der Erforschung des Russlands jenseits der Grenzen war und ist Oleg Vital’evič Budnickij, der in einer kaum mehr überschaubaren, aber systematischen Serie von meist mehrbändigen Quellen-Editionen den wohl wichtigsten Beitrag der russischen Forschung geleistet hat. Seiner bewunderungswürdigen und produktiven Arbeit verdanken wir eine umfassende Bibliographie des russischen Verlags- und Zeitungswesens, die Edition von Briefwechseln führender Vertreter der Diaspora, eine ganze Reihe von Monographien zur Geschichte des vorrevolutionären Terrorismus, eine Geschichte der russisch-jüdischen Beziehungen in Revolution und Bürgerkrieg, eine detektivische Rekonstruktion der verschlungenen Wege des russischen Goldschatzes nach 1918. Im letzten Jahrzehnt hat sich bei ihm ein zweiter Forschungsschwerpunkt ergeben: die Geschichte des Zweiten Weltkrieges, in dem viele Forschungslücken benannt und bearbeitet worden sind – etwa die Geschichte der Kollaboration.2

Der Großteil der Veröffentlichung bisher nicht erschlossener Quellen ist jedoch nicht mit der „Archivrevolution“ (Tatjana Pavlova) in Russland selbst verbunden, vor allem mit den Beständen im Russischen Staatsarchiv (GARF), sondern mit der Erschließung der bis dahin kaum genutzten Bestände in Archiven außerhalb der Sowjetunion bzw. Russlands. Budnickij, Mitte der 1990er-Jahre erstmals in den USA, stieß bei der Recherche für seine Monographie über den Terrorismus im Zarenreich auf Bestände, die bis heute seine Aufmerksamkeit und seine Arbeit bestimmten. Das waren vor allem die in der Hoover Institution an der Stanford-Universität aufbewahrten Sammlungen führender Vertreter des russischen Exils, die Bestände des Bachmet’ev-Archivs an der Columbia-Universität in New York, der Universitätsarchive in Leeds und London, aber auch an anderen Orten der Diaspora wie z.B. Belgrad.

Beflügelt durch die Entdeckungen und getragen von den phantastischen Arbeitsbedingungen in amerikanischen Archiven, begab sich Budnickij auf eine atemberaubende Spurensuche, folgte den Bewegungen der Exilanten und lernte, sich in den Netzwerken und Milieus der Diaspora zu bewegen – Konstantinopel, Belgrad, Prag, Berlin, Paris, New York, Los Angeles. Das Forschungsfeld der Diaspora war nicht ganz unbeleuchtet – Marc Raeff hatte mit seinem Buch „Russia Abroad. A Cultural History of the Russian Emigration 1919–1939“ schon 1990 einen großen konzeptionellen Entwurf geliefert, der fast alles Aspekte mit einbezogen hatte – die wechselnde Bedeutung der Metropolen, die Diaspora als „Gutenberg-Galaxie“, das Verlags- und Zeitungswesen.3 Für Budnickijs Arbeit stand nun die wiedervereinigte Archivlandschaft zur Verfügung, die alten sowjetischen Bestände und diejenigen „jenseits der Grenzen“. Und er hat nach und nach verschiedene Szenen, Felder, Milieus durchmessen.

Fast alle in dem Band vereinigten Beiträge sind bereits früher an anderer, eher entlegener Stelle veröffentlicht worden, zusammengenommen ergeben sie nun ein äußerst facettenreiches, aber in sich stimmiges Bild. Die Texte umfassen höchst informative, fast enzyklopädische Überblicksdarstellungen, fast intime Porträts wichtiger Figuren der Diaspora in der Form von Vignetten, ja Feuilletons, ausführliche Kommentaren zu den – oft erstmals – veröffentlichten Dokumenten, in erster Linie Briefwechsel zwischen führenden Repräsentanten der Diaspora. Die vorherrschende Linie der Diaspora-Forschung folgte den Intellektuellen und Gelehrten (Berdjaev, Losskij, Sorokin u.a.) oder den Schriftstellern (Nabokov, Bunin, Teffi), den Künstlern und Musikern (Chagall, Kusevickij, Evreinov), während Budnickij sich für die Diplomaten, die „Vertreter eines nicht mehr existierenden Staates“ (S.117ff.), interessiert und deren Versuche, mit den sich wandelnden Konstellationen fertig zu werden. Hier geht es vor allem um eine Figur wie den „Pariser Gouverneur“ Vasilij A. Maklakov, den glänzenden Redner der vorrevolutionären Duma und prominenten Verteidiger im Bejlis-Prozess 1913, eine Zentralfigur des russischen Liberalismus. Ein anderer ist Boris A. Bachmet’ev (Bakhmeteff), 1917 letzter Botschafter des demokratischen Russlands in den USA.

Die Dokumentation und Analyse der privaten Briefwechsel zwischen den Wortführern der Diaspora erlaubt es, die Lage-Einschätzungen und Selbstzweifel jenseits der öffentlichen Deklarationen nachzuverfolgen, das Ringen um eine Antwort auf die Frage nach der Zukunft der Emigration, nachdem der Bolschewismus im Bürgerkrieg gesiegt und sich als dauerhaft erwiesen hatte. Briefwechsel erlauben einen Blick „hinter die Kulissen“. Es geht hier um die Diskussion öffentlich nicht ausgetragener Konflikte, um Animositäten und Verdächtigungen, um die Rivalitäten und Fraktionsbildungen, die unter den Stressbedingungen des Exils besonders kultiviert werden; es geht um die Bewältigung eines extrem schwierigen Alltags mit den banalen Sorgen um Pässe, Visen, Verdienst- und Reisemöglichkeiten. Die Intensität des Austausches – einschließlich wechselseitiger Bezichtigungen für den sowjetischen Geheimdienst zu arbeiten – zeigt etwas von der Dichte und Selbstverständlichkeit der Beziehungen einer über die ganze Welt verstreuten Menschengruppe, die für viele Jahre einer „community of despair“ glich (R. C. Williams).4 Und doch ist das Exil für jene, denen die Flucht gelungen ist, Rettung, anders als für viele, die es nicht geschafft hatten oder – im Lande geblieben – für ihre Treue zum Land später mit dem Leben bezahlen mussten.

Es werden die Ambivalenzen deutlich: einerseits der abgrundtiefe Hass auf das Gewaltregime der Bolschewiki und später Stalins, andererseits die Rede von der Rettung und Wiederbegründung der russischen Staatlichkeit durch die Bolschewiki und die Leistung, die „Zeit der Wirren“ beendet zu haben. Die interne Kommunikation legt die Widersprüche offen im Ringen um eine Antwort: Soll man auf den Untergrundkampf, ja Terrorismus in Form von Attentaten setzen (so Bratstvo Russkoj Pravdy) oder auf die „Evolution des Bolschewismus“ (so Maklakov und Oskar Gruzenberg), auf die Überwindung des Maximalismus und Revolutionismus, der Russland in den Abgrund gestürzt habe? Wie soll sich das „Russland jenseits der Grenze“ verhalten in der Situation des Hitler-Stalin-Paktes und dann nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion? Die Emigration gab darauf unterschiedliche Antworten – von der Kollaboration mit den Nazis und der Rückkehr nach Russland in den Reihen der Wehrmacht bis zur Unterstützung der Sowjetarmee und dem Aufruf, sich Stalins Sowjetpatriotismus anzuschließen.

Am 12. Februar 1945 kommt es sogar zu einer Begegnung der Spitzen der Emigration mit dem sowjetischen Botschafter Bogomolov in Paris, annonciert als Versuch zur Versöhnung von russischer Heimat und Russland im Exil, aber von einem so prominenten Historiker wie Sergej Mel’gunov zurückgewiesen als „Gang nach Canossa“.5 Die „Versöhnung“ zwischen Russland I und Russland II scheiterte allerdings, da die sowjetische Seite nichts weniger als die bedingungslose Kapitulation verlangte. Nur wenige fanden den Übertritt zum Sowjetpatriotismus des Stalin-Reiches. Manche Emigranten sind von der nach Osteuropa vorgerückten Sowjetmacht eingeholt worden und haben dafür nach ihrer Rückkehr mit Verurteilungen und Haft bezahlt – so Vasilij Šul’gin, der Abgeordnete der Duma vor 1917 und bekennende Antisemit, der in Belgrad verhaftet wurde, aber am Ende seines Leben noch zum Abgeordneten des Obersten Sowjets avancierte; oder der Literaturwissenschaftler A. Bem, der in Prag verhaftet Selbstmord beging.

Die Kapitel werden zusammengehalten durch knappe und sehr informative Einführungen zur Geschichte von Exil und Emigration, schon beginnend im Zarenreich und nach 1917 in drei großen Wellen: die erste Emigration nach Revolution und Bürgerkrieg, die zwei Welle der nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs im Westen gebliebenen, der Zwangsrepatriierung sich entziehenden Sowjetbürger, die dritte Welle in der Spätzeit der Sowjetunion, die sich aus verschiedenen Gruppen – Dissidenten, Juden, Sowjetdeutsche – speiste. In Budnickijs Darstellung steht die Emigration nach Revolution und Bürgerkrieg im Zentrum, in der Russland um eine ganze Kulturschicht gebracht wurde.

Seine Darstellung konzentriert sich nicht zufällig auf Personen, die für den Aufbruch Russlands in die Moderne stehen, für die Vertreter einer Intelligenz und Öffentlichkeit, die weder konservativ-monarchistisch noch pro-bolschewistisch gestimmt war, eine Generation zwischen 1870 und den 1960er-Jahren. Indem er sich Repräsentanten dieses modernen Russland zuwendet – etwa den Anwälten Sergej Maklakov und Oskar Gruzenberg, der Menschewikin Lidija Dan, einem exilierten Historiker, aber auch einem Unternehmer, der Blüte des „Silbernen Zeitalters“ also – zeigt er, welch kaum messbaren Aderlass Russland erlitten hat (von dem die Aufnahmeländer wiederum profitiert haben). Es ist auch das Porträt einer Generation, die um ihre Lebenschancen gebracht wurde, Emigranten, die mehr als einmal sich auf den Weg machen mussten – Revolutionäre, 1917 erst in ihre Heimat zurückgekehrt, nach dem Sieg der Bolschewiki wieder ins Exil getrieben, 1933 aus dem Zufluchtsland Deutschland geflohen, bis sie über weitere Stationen endlich in der Neuen Welt angekommen waren. Sie stehen paradigmatisch für das „neue Geschlecht der Vogelfreien“ im 20. Jahrhundert, wie Hannah Arendt schon sehr früh die russischen Emigranten genannt hat.6

Jede Figur steht für ein einzigartiges Schicksal und bedeutende Lebenswege. Vladimir Burcev, dem die Welt die Entlarvung des Ochrana-Agenten Azef verdankte und die Entlarvung der Autorschaft der „Protokolle der Weisen von Zion“; Mark Aldanov (Landau), Mitbegründer des Novyj Žurnal in New York; eine Wissenschaftler-Karriere wie die des Historikers Aleksandr A. Kizevetter, oder Lidija Dan, deren Lebensweg 1878 in Odessa beginnt, ins vorrevolutionäre Exil führt, sie 1917 zurückbringt ins Zentrum und in unmittelbare Nähe zu Lenin, die Fedor Dan, ihrem Mann ins zweite Exil nach Deutschland folgt, dann nach Frankreich und in die USA, wo sie 1963 stirbt. Ein besonders faszinierender Abschnitt ist dem Briefwechsel zur „Affäre“ Nina Berberova gewidmet, in dem es um Mutmaßungen und die Widerlegung des Verdachts der später so erfolgreichen Autorin geht, sie habe während der Besetzung von Paris mit den Deutschen kollaboriert.

Oleg Budnickij hat mit seinen Editionen wichtiger Dokumente und den vorbildlich sorgfältigen Kommentaren das Forschungsfeld erweitert, das in einem zweiten Anlauf noch einmal zu bestellen ist. Es hätte dieser Leistung keinen Abbruch getan, wenn der Autor und Herausgeber außer seiner eigenen Literatur Bezug genommen hätte auf die auch außerhalb Russlands geleistete Forschung zum „Großen Exodus“ nach 1917. Man denke hier an Lazar’ Flejšmans Arbeiten oder eine so großartige Einzelstudie wie die schon 1972 veröffentlichte, auf Archivquellen gegründete Studie von Robert C. Williams „Culture in Exile“ zur russischen community in Deutschland bzw. Berlin.7

Es hat seine eigene Ironie, ja Tragik, dass die russische Exilforschung mit neuen Beiträgen aufwartet in einem Augenblick, da das Exil zu einer höchst gegenwärtigen Erfahrung für Abertausende von russischen Staatsbürgern geworden ist, die nach dem russischen Angriff auf die Ukraine und den drohenden Repressionen ihre Heimat verlassen mussten. Hundert Jahre nach der Zwangsexilierung einer Gruppe von prominenten Gelehrten, Wissenschaftlern, Politikern im Jahre 1921 auf dem sog. „Philosophendampfer“ haben wir es mit einer neuen Diaspora zu tun. Deren Kommunikation erfolgt vermutlich nicht mehr in Briefform, sondern in Formen auf der Höhe des 21. Jahrhunderts. Für deren Aufbewahrung und spätere Erschließung sollten sich Historiker jetzt schon rüsten.

Anmerkungen:
1 Leonid Škarenkov, Agonija beloj emigracii, Moskva 1981.
2 Oleg Budnickij, Sveršilos’. Prišli nemcy! Idejnyj kollaborationizm v SSSR v period Velikoj Otečestvennoj vojny, Moskva 2012; ders., zusammen mit L. G. Novikova, Garvardskij proekt: rassekrečennye svidetel’stva o Velikoj Otečestennoj voje, Moskva 2019.
3 Marc Raeff, Russia Abroad. A Cultural History of the Russian Emigration 1919–1939, New York 1990.
4 Robert C. Williams, Culture in Exile. Russian Emigrés in Germany 1881–1941, Ithaca 1972.
5 Sergej Melgunow, Der rote Terror in Russland 1918–1923, Berlin 1924.
6 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft [1955], München 2003, S. 426ff.
7 Lazar‘ Flejšman / Olga Raevsky-Hughes, Russkij Berlin, 1921–1923. Po materialam archiva B. I. Nikolaevskogo v Guverovskom Institute, Paris 1983.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch