Museum August Kestner u.a. (Hrsg.): Provenienzforschung in den kulturhistorischen Sammlungen der Stadt Hannover

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Titel
Spuren der NS-Verfolgung. Provenienzforschung in den kulturhistorischen Sammlungen der Stadt Hannover


Herausgeber
Museum August Kestner; Schwartz, Johannes; Vogt, Simone
Erschienen
Anzahl Seiten
257 S.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lea Grüter, Provenienzforschung Museum Acquisitions from 1933 onwards, Rijksmuseum Amsterdam

Die Publikation „Spuren der NS-Verfolgung“ präsentiert Forschungsergebnisse der kulturhistorischen Provenienzforschung der Stadt Hannover. Dies geschieht anhand von Fallbeispielen basierend auf umfassenden Recherchen in Museums-, Bibliotheks- und Stadtarchiven. Angelehnt an die gleichnamige Ausstellung im Museum August Kestner Hannover (2019) werden kulturhistorische Objekte der Stadt im Kontext einer personenbezogenen NS-Verfolgungsgeschichte und deren Entwicklungen bis in die Gegenwart vorgestellt. Der Sammelband ist eine beeindruckend umfangreiche Sammlung zur Verbindung von Vernichtungs- und Kulturpolitik sowie persönlichen Lebenswegen. Er liefert einen wichtigen Beitrag zur aktuellen Restitutionsdebatte. So wird der Band eingeleitet mit einer detaillierten Erläuterung der Washingtoner Prinzipien. Hauptgedanke dieser Vereinbarung von 1998 zu im Kontext des Holocausts enteigneten Kulturgütern ist die Überlegung, dass öffentliche Institutionen nicht von der NS-Verfolgung profitieren sollten und daher „faire und gerechte Lösungen“ gefunden werden müssen (S. 16-25). Die Frage, was darunter im Umgang mit in der NS-Zeit enteigneten Kulturgütern zu verstehen ist, wird akademisch jedoch fast ausschließlich von Juristen diskutiert, obschon der Kern der Debatte ein gesellschaftspolitischer ist. Die vorliegende Publikation trägt dazu bei, diese historische Dimension des gesellschaftlichen Verbrechens herauszuarbeiten.

Es ist eine Stärke des Bandes, dass er die verschiedenen Spuren der beraubten Personen in ihrer Komplexität nebeneinanderstehen lässt. Dabei zeigen Objekte mit unterschiedlichen materiellen Werten, dass die dahinterstehenden Verbrechen dadurch nicht voneinander abzugrenzen sind und sich an ihnen alle Gesellschaftsschichten beteiligten. Letztlich steht hinter all den Objekten die Intention der Vernichtung des Individuums und seiner gesellschaftlichen Spuren in der Stadt Hannover.

Das Beispiel des „Heimeinkaufsvertrags“ von Klara Berliner zeigt in ergreifender Weise, wie sehr der bürokratisierte Raub ein Schritt auf dem Weg zum Holocaust war. Der Vertrag war eine „freiwillige“ Erklärung Berliners über die Abgabe ihres gesamten Besitzes zur eigenen Unterbringung im Konzentrationslager. Die Nichte des Erfinders der Schallplatte und des Grammophons starb 1943 einsam an einer Lungenentzündung durch die hygienischen Umständen in Theresienstadt. Die Verschleierung des Verbrechens beginnt in der Sprache. Klara Berliner ist sich dessen bewusst, wenn sie in einem Brief zu dem Vertrag bezeugt: „Habe falls dieser aus irgendwelchen Gründen aufgehoben wird keinerlei Recht auf irgendwelcher Rückerstattung und dann also praktisch nicht mal mehr die Mittel mir einen Strick zum Aufhängen zu kaufen. D.h. wenn das überhaupt noch nötig sein sollte […] ich musste ‚freiwillig‘ 100% eintreten.“ (S. 104) Spur des Besitzes Berliners ist ein Rokokoschrank, den das Museum August Kestner im Jahr 1942 erwarb.

Dem Kunsthistoriker Ferdinand Stuttmann wird als Direktor des Museum August Kestner aufgrund seiner bedeutenden Rolle bei der städtischen Taxierung jüdischer Kulturgüter ein einleitendes Kapitel gewidmet (S. 34-49). Immer wieder nimmt er in den verschiedenen Fallbeispielen Einfluss. Das Verdrängen der subjektiven Verantwortung durch eine Fokussierung auf das Objekt und die damit einhergehende Negierung des Verbrechens an der Person wird in der Publikation immer wieder verdeutlicht. In vollem Bewusstsein über die Deportation der Besitzerin widmet Stuttmann sich beispielsweise hingebungsvoll dem Ankauf des kulturell wertvollen Berliner Rokokoschranks zu Gunsten der Stadt Hannover (S. 107). Bis weit in die Gegenwart galt er als „umsichtiger Museumsmann, dessen Verdienste um die Sicherstellung der hannoverschen Bestände […] von Stadt und Land gleichermaßen gerühmt wurde“ (S.46).

Es ist als vorbildhaft hervorzuheben, dass ein Schwerpunkt der Fallbeispiele das kritische Betrachten der Spuren und ihrer Einbindung in Machtverhältnissen bis hin zu aktuellen Restitutionsansprüchen und Erbensuchen bildet. Hannover wird dabei zum konkret kritisch hinterfragten Erinnerungsort, gleichzeitig jedoch zum Brennglas der bis in die Gegenwart fortdauernden Lücken der NS-Verfolgung. So beschäftigt sich die Publikation auch immer wieder mit der Unzulänglichkeit und Problematik von individuellen und zeitgeschichtlichen Erzählungen. Während ein Artikel beschreibt, wie Profiteure der Enteignungspolitik nach kurzen Entnazifizierungsverfahren ungehindert an ihren Erfolg anknüpfen konnten und vom wirtschaftlichen Aufschwung der Nachkriegszeit profitierten (S. 48), verdeutlicht ein anderer, wie die Erbengemeinschaft des jüdischen Antiquitätenhändlers Philipp Lederer über Jahrzehnte unter anderem mit der Argumentation von abgelaufenen Fristen behördlich abgespeist wurde (S. 157f.).

Aus meiner Sicht ließe sich anhand der beschriebenen Fälle klar die Bedeutung der am Objekt hinterlassenen Spuren für den gegenwärtigen Diskurs aufzeigen. Denn auch die Wiedergutmachungspolitik nach den Washingtoner Prinzipien der 1990er-Jahre ist keineswegs frei von erinnerungspolitisch aufgeladenen Narrativen. Hier wäre eine konkretere und mutigere Ausformulierung der Bedeutung der Spuren in der Gegenwart wünschenswert gewesen. Es finden zwar Reflexionen über mögliche „faire und gerechte Lösungen“ in den Schlussfolgerungen der Beiträge statt, aber auch eine gebetsmühlenartige Bezugnahme auf die Erfüllung der gleichnamigen Prinzipien.

Besonders deutlich wird diese weniger kritische Betrachtung der verwendeten Narrative in Bezug auf die Gegenwart im Artikel „Das Vorleben der Dinge im Museum. Die Biographie eines Schatzfundes 385-1934 n. Chr.“ (S. 120-135). Möglicherweise durch die Positionierung des Artikels mitten in der Publikation schafft er eine merkwürdige Relativierung des Subjektfokus. Denn in allen anderen in der Publikation komplex recherchierten Sammlungen von Fragmenten werden die Transaktionen von Objekten eindrücklich als lebendige Spuren dargelegt, die komplexe individuelle und gesellschaftliche Zusammenhänge und Umbrüche verknüpfen und bezeugen. In dieser Zeugenschaft sehe ich einen entscheidenden Unterschied zum „Lebenslauf eines musealen Sammlungsgutes“ (S. 122). Denn die Zeugenschaft bezieht sich auf die Welt wie eine „Flaschenpost“ (S. 203) und macht diese nicht umgekehrt zu einem Beiwerk des Objekts. Das populäre anthropologische Idiom der „Objektbiographie“ ist gerade im Kontext subjektiver Verdinglichung sprachlich problematisch und im Kontext aktueller Restitutionsdebatten zu hinterfragen.1 Es gelingt dem Band dennoch aufzuzeigen, dass kulturhistorischer Wert und Zeugenschaft des Objekts innerhalb einer Publikation nebeneinanderstehen und sich ergänzen können.

Die Zerstörung der Wahrheit beginnt mit der Reduktion der pluralen Spuren im abstrakten Begriff von Erinnerungskultur. Diese muss immer wieder neu ausbuchstabiert werden und dazu bietet der vorliegende Band eine Reflexionsgrundlage. Er zeigt, dass „Erinnerung“ nicht nur aus Opfernarrativen besteht, sondern auch aus den Rechtfertigungen der Profiteure und dem Vergessen der Vielen. Die Publikation verdeutlicht, dass die Betrachtung der Spuren selbst innerhalb der andauernden Restitutionsdebatten ernster genommen werden sollte. Die Wahrheit lässt sich beinahe 80 Jahre nach dem Verbrechen in den wenigsten Fällen komplett „restituieren“ oder wiederherstellen und konfrontiert uns in der Gegenwart vor allem mit Lücken. In der Begegnung mit den Fragmenten und Objekten können wir jedoch in eine Auseinandersetzung mit diesen treten und ein Gespräch neu beginnen. Der Band beweist, dass die Wahrheit, die sich an den Objekten unsichtbar manifestiert, darin in der Gegenwart sehr viel lebendiger ist, als wenn sie nur ein administratives Problem in Bezug auf Besitzverhältnisse wäre. Restitutionspolitik lässt sich in diesem Sinne nicht allein als Lösungsversuch denken, sie wird zur konstruktiven gesellschaftlichen Frage nach Gerechtigkeit. Die Publikation lässt die Suche nach ihnen für sich selbst sprechen und ist dabei dennoch quellenkritisch und informativ sowie auch für den fachfremden Leser verständlich.

Anmerkung:
1 Siehe hierzu auch Dan Hicks, Necrography: Death-Writing in the Colonial Museum, in: British Art Studies 19 (2021), https://doi.org/10.17658/issn.2058-5462/issue-19/conversation (19.11.2021).

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