B. Christensen u.a.: Administrative Zwangsmassnahmen im Kanton Appenzell Ausserrhoden

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Titel
Versorgt in Gmünden. Administrative Zwangsmassnahmen im Kanton Appenzell Ausserrhoden, 1884–1981


Autor(en)
Christensen, Birgit; Jenzer, Sabine; Meier, Thomas; Winkler, Christian
Erschienen
Zürich 2021: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
360 S.
Preis
CHF 48.00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Urs Germann, Institut für Medizingeschichte, Universität Bern

Bis in die 1980er-Jahre konnten in der Schweiz Menschen, die nicht den gängigen Konformitätserwartungen entsprachen oder die durch die Lücken der sozialen Sicherungsnetze fielen, ohne Gerichtsbeschluss in geschlossene Einrichtungen eingewiesen werden. Gemäß Schätzungen waren allein im 20. Jahrhundert mindestens 60.000 Personen von solchen administrativen Versorgungen betroffen. Auf Druck ehemaliger Zwangsversorgter anerkannte das Schweizer Parlament 2014 das Unrecht, das den Betroffenen zugefügt worden war. Gleichzeitig setzte es eine Unabhängige Expertenkommission (UEK) für die historische Aufarbeitung ein, die 2019 ihre Forschungsergebnisse in zehn Bänden samt einer Synthese vorlegte.1 Zusammen mit einigen älteren Untersuchungen und weiteren Auftragsstudien liegt inzwischen ein differenzierter Forschungsstand vor. Die administrative Versorgung gehört heute ohne Zweifel zu den am besten untersuchten Bereichen der schweizerischen Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts. In diesem forschungspolitischen Kontext steht die vorliegende Publikation über die administrativen Zwangsmaßnahmen im Kanton Appenzell Ausserrhoden, die von den Autor:innen im Auftrag der Kantonsregierung verfasst wurde.

Im Zentrum steht die 1884 eröffnete Zwangsarbeitsanstalt Gmünden, die seit der Gründung nicht nur Zwangsversorgte, sondern auch verurteilte Straftäter:innen und (bis 1950) Bussenschuldner:innen aufnahm. Wie die Autor:innen festhalten, trägt die Untersuchung deshalb streckenweise den Charakter einer Institutionengeschichte, ohne allerdings – das sei hier vorweggenommen – in einer solchen aufzugehen. Dies hat etwa zur Folge, dass Anstaltsversorgungen durch appenzellische Behörden vor 1884 und in anderen, auch ausserkantonalen Einrichtungen nur am Rand berücksichtigt werden (S. 12). Die Autor:innen können sich auf ein breites Quellenkorpus stützen, zu dem nicht nur Unterlagen zur Anstalt selbst, sondern auch Einweisungsbeschlüsse der Kantonsregierung, ausgewählte Fürsorge- und Vormundschaftsakten sowie einige Zeitzeugeninterviews gehören. Die 13 Kapitel des stattlichen Buchs beleuchten einerseits den rechtlich-institutionellen Kontext, andererseits geben sie Einblicke in den Betrieb und (Arbeits-)Alltag in Gmünden. Hinzu kommt eine Reihe biografischer Skizzen von Personen, die in Gmünden versorgt waren.

Zwischen 1884 und 1981 wurden 834 Personen ein- oder mehrmals in die Zwangsarbeitsanstalt Gmünden eingewiesen (S. 55). Die meisten stammten aus dem Kanton Appenzell Ausserhoden. Knapp 90 Prozent waren Männer, denen die Vernachlässigung von Familienpflichten, Alkoholismus oder schlicht „Arbeitsscheu“ vorgehalten wurde. Bei Frauen überwogen dagegen sexuell konnotierte Vorwürfe. Viele der Betroffenen stammten aus einfachen Verhältnissen, ohne dass sie deswegen, wie die Autor:innen betonen, pauschal zur Unterschicht gezählt werden können (S. 66). Diesbezüglich weicht der Befund für Gmünden kaum vom bekannten Bild anderer Kantone und Einrichtungen ab. Auch die Tatsache, dass die Errichtung der Anstalt 1884 erst nach mehreren, auch von finanziellen Bedenken begleiteten Anläufen zustande kam, ist keine Ausnahme. Auffallend ist, dass in Appenzell Ausserrhoden die Absicht, bestehende Armenhäuser von „renitenten“ Bewohner:innen zu entlasten, eine wichtige Rolle spielte. Die Einweisung in die Zwangsarbeitsanstalt diente dabei als disziplinarische Verschärfung. Kaum Anlass zu Diskussionen gab damals hingegen das administrative Einweisungsverfahren als solches, das bereits in anderen Kantonen bekannt war. Aufnahmen erfolgten gemäß dem Reglement der Anstalt von Gmünden (und 1934 zusätzlich aufgrund des Armengesetzes) auf Antrag der Heimatgemeinden durch die Kantonsregierung. Diese entschied auch über Verkürzungen oder Verlängerungen der Haft. Ein gerichtliches Rekursverfahren wurde 1936 bei der Debatte um ein neues (und schließlich abgelehntes) Zwangsversorgungsgesetz zwar diskutiert, jedoch aus Angst vor einem Autoritätsverlust der Regierung ausdrücklich verworfen. Dennoch waren administrative Versorgungen und die Vollzugsbedingungen in Appenzell Ausserrhoden immer wieder Gegenstand öffentlicher Kritik. Zu den Kritiker:innen gehörten etwa Anstaltsgeistliche oder der „Grütliverein“, der 1906 mit klassenkämpferischen Untertönen Vergleiche zur „administrativen Justiz“ im Zarenreich zog (S. 312). Ab den 1960er-Jahren verschärfte vor allem das Ostschweizerische Strafvollzugskonkordat den Druck und verlangte im Zug der Modernisierung der Anstalt eine Trennung von administrativ Versorgten und Strafgefangenen. 1963 wurde die Frauenabteilung aufgehoben, ab 1976 nahm Gmünden schließlich nur noch männliche Strafgefangene auf.

„[...] dass man in Gmünden besser eine Kuh wäre als ein Mensch“, bemängelte 1972 ein Pfarrer in der „Appenzeller Zeitung“ (S. 245). Wie die Autor:innen anschaulich und detailliert zeigen, waren die Lebensbedingungen in der Zwangsarbeitsanstalt Gmünden über Jahrzehnte hinweg tatsächlich äußerst prekär: überlange Arbeitszeiten, Kontakteinschränkungen Disziplinarstrafen wie Arrest, Schläge, kalte Wasserduschen, Zwangsjacken oder Kahlscheren prägten den Alltag. Auch sexuelle Übergriffe kamen vor. Hinzu kommt, dass administrativ Versorgte zumindest tagsüber bei der Arbeit zusammen – und nur an der Häftlingskleidung zu unterscheiden – mit Strafgefangenen untergebracht waren. Auch wenn „kleine Freiheiten“ im Anstaltsalltag aus pragmatischen Gründen geduldet wurden, ließen größere Vollzugslockerungen bis in die 1970er-Jahre auf sich warten. Gmünden fügt sich damit ins allgemeine Bild, das das schweizerische Anstaltswesen bis weit in die Nachkriegszeit hinterlässt: harte, wenige produktive Arbeit, spartanische Haftbedingungen, ein Klima willkürlicher Gewalt und eine Abwehrhaltung gegenüber zeitgemäßen Resozialisierungsansätzen. Neues bietet die Untersuchung vor allem dort, wo das Quellenmaterial Einblicke ins betriebliche Feingetriebe erlaubt. So können die Autor:innen zeigen, wie die Regierung das Kostgeld, für das die Heimatgemeinden aufkamen, noch in den 1970er-Jahren (!) tief hielt, um die Auslastung der Einrichtung zu optimieren. Deutlich wird dadurch, dass die Versorgungspraxis, zumindest was die Wahl der Einrichtungen betraf, auf subtilen Anreizsystemen beruhte (S. 188, 337). Ebenfalls gut aufgezeigt wird die Bedeutung, die die Zwangsversorgten für das Gedeihen des Anstaltsbetriebs und seiner Arbeitszweige hatten (u.a. Forst- und Landwirtschaft, Werkstätte, Kiesabbau). Da sie in der Regel länger als Strafgefangene inhaftiert waren und die Entschädigung sehr gering war, trugen sie maßgeblich dazu bei, dass der Betrieb bis in die 1960er-Jahre selbsttragend war und die öffentliche Hand entlastet wurde (S. 227).

Die Autor:innen legen eine überaus sorgfältig recherchierte, differenziert argumentierende und flüssig zu lesende Untersuchung über die Zwangsversorgung im Kanton Appenzell Ausserhoden vor. Auch dank der zahlreichen Kastentexte gelingt es ihnen, den Blick über die Einrichtung hinaus zu richten. Bedauerlich ist hingegen, dass die Autor:innen auf eine analytische Einordnung ihrer Befunde weitgehend verzichten. Antworten auf die Frage, wie die Anstalt Gmünden im schweizerischen Kontext situiert werden muss und welche neuen Erkenntnisse das untersuchte Fallbeispiel zur aktuellen Forschungsdiskussion über die Mechanismen staatlicher Zwangsfürsorge beiträgt, bleiben deshalb – und zwar buchstäblich bis zum letzten Satz – den (informierten) Leser:innen überlassen. Ob die Zurückhaltung, über das Quellenmaterial und den lokalen Kontext hinauszugehen, dem beschränkten Forschungsmandat geschuldet ist, oder ob hier ein grundlegendes Dilemma einer stark erinnerungspolitisch getriebenen Aufarbeitungs-Geschichte zutage tritt, muss an dieser Stelle offenbleiben. Ungeachtet dieser kritischen Bemerkung sei das Buch aber allen nachdrücklich zur Lektüre empfohlen, die sich vertieft mit der Geschichte fürsorgerischer Zwangsmaßnahmen in der Schweiz beschäftigen.

Anmerkung:
1 Unabhängige Expertenkommission Administrative Versorgungen (Hrsg.), Veröffentlichungen der Unabhängigen Expertenkommission Administrative Versorgungen, 10 Bde., Zürich 2019.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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