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Titel
Der Geist der Potentiale. Zur Genealogie der Begabung als pädagogisches Leistungsmotiv


Autor(en)
Heßdörfer, Florian
Anzahl Seiten
244 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Alexander Mayer, Historisches Institut, Universität der Bundeswehr München

Konzepte wie „Begabung“, „Anlage“ und „Talent“ können als politisch-soziale Grundbegriffe der Moderne gesehen werden. Vor dem Hintergrund meritokratischer Gesellschaftsvorstellungen dienen sie dazu, fortbestehende soziale Ungleichheiten zu legitimieren. Im Verbund mit entsprechenden Prüfungs- und Testverfahren sollen derartige Konzepte eine Lösung für das Problem der Verteilung von Bildungs- und Berufschancen bieten.1 Im Kontext rassenbiologischer Vorstellungen motiviert der „Anlage“-Begriff aber auch Ordnungsvorstellungen, die keinem meritokratischen Impuls folgen, sondern von der Annahme fundamentaler Ungleichheit ausgehen. Auseinandersetzungen über die Wirkmächtigkeit von „Anlagen“ und den Einfluss sozialer Verhältnisse waren auch aus diesem Grund stets von eminenter politischer Bedeutung.2

Floran Heßdörfer legt mit „Der Geist der Potentiale“ eine diskursanalytische Studie vor, die der Frage nachgeht, wie sich die „pädagogische Konstellation“ verändere, „wenn ihre Orientierung weniger durch übergeordnete Ideale als durch vorgeordnete Potenziale erfolgt“ (S. 15). Sein Ziel ist es dabei, über den Weg einer historischen Genealogie gegenwärtige pädagogische Begrifflichkeiten zu problematisieren.

Das „Potential“ dient Heßdörfer als „analytischer Oberbegriff“ (S. 19) für eine Reihe von Quellenbegriffen wie „Anlage“, „Begabung“ und „Talent“, deren gemeinsame diskursive Funktionen in der pädagogischen Debatte herausgearbeitet werden sollen. Der Schwerpunkt des Untersuchungszeitraums liegt zwischen dem späten 19. Jahrhundert und dem Ende der Weimarer Republik. Analysiert werden überwiegend deutschsprachige pädagogische und psychologische Publikationen, an prominenter Stelle aber auch einzelne nicht-deutschsprachige Autor:innen, was die Frage nach der (trans)nationalen Verortung der analysierten Diskursformation aufwirft, zu der sich Heßdörfer allerdings nicht explizit positioniert.

An den Anfang der Monographie stellt Heßdörfer ein umfangreiches „vorgreifendes Resümee“, in dem er die grundlegenden Elemente der um die Figur des Potenzials herum aufgebauten Diskursformation vorstellt. Das pädagogische Denken der Potentialität begreife den einzelnen Menschen als Besitzer von naturgegebenen Anlagen, die durch Beobachtung und psychologisch fundierte Tests zu ermitteln seien, trotz dieses verdinglichenden Zugriffes aber für ihren Besitzer zugleich ein Sollen begründeten. Denn die Integration des Einzelnen in die Gesellschaft werde als quasi-ökonomische Aufgabe der bestmöglichen Passung von individueller Eignung und kollektivem Bedarf an Arbeitskraft konzipiert. Diese Passung solle zugleich die Kraft der Gemeinschaft wie das Lebensglück des Einzelnen begründen.

Fünf Kapitel, die als Einzelstudien angelegt sind und größtenteils auf bereits publizierten Aufsätzen basieren, widmen sich jeweils einzelnen Aspekten dieses Diskurs-Komplexes. Hier stehen meist die pädagogischen und psychologischen Texte einzelner Autor:innen im Zentrum. Die ersten beiden Kapitel beschäftigen sich schwerpunktmäßig mit Ellen Keys rassenhygienischen Überlegungen zu Kindheit und Mutterschaft und Theodor Litts Konzeption einer „Menschenökonomie“. Es folgt ein Kapitel über den Dresdener Stadtschulrat und – unter dem NS-Regime – sächsischen Volksbildungsminister Wilhelm Hartnacke, der das Konzept unabänderlicher naturgegebener Unterschiede gegen den zum „Volkstod“ führenden „Bildungs- und Aufstiegswahn“ in Stellung brachte. Das vierte Kapitel rekonstruiert die diskursiven Strategien mittels derer der Psychologe Hugo Münsterberg „nahezu universale Beratungsautorität“ (S. 168) für die mit experimentalpsychologischem Wissen über individuelle Eignungen ausgestatteten Experten postulierte. Das fünfte Kapitel zeigt Zusammenhänge zwischen der Konzeption der zu fördernden Naturanlagen und dem pädagogischen Interesse am Spiel als Erziehungs- wie als Testmethode auf. Das Buch schließt mit einem Ausblick auf die Transformationen des Diskurses durch den Kompetenzbegriff, wie ihn der US-amerikanische Psychologie David McClelland seit den 1970er-Jahren propagierte.

Den „Geist der Potentiale“ sieht Heßdörfer noch im heutigen pädagogischen Denken nachwirken. Zugleich diagnostiziert er allerdings eine grundlegende Transformation durch den neuen Leitbegriff der Kompetenz, der sich „von den Altlasten eines verdinglichenden Zugriffs auf die Fähigkeitsressourcen der Einzelnen zu distanzieren bemüht“ (S. 206) und die Erfassung von Kompetenzen nur noch als momentanes „feedback“ in einem „prinzipiell offenen Lern- und Veränderungsprozess“ vorsieht (S. 208). Hier drängt sich die Frage auf, ob damit der für die Ordnung des historischen Materials höchst nützliche Begriff der Potentialität nicht überdehnt wird, vor allem wenn man an die völlig verschiedenen gesellschaftspolitischen Implikationen dieser Modelle denkt. So hat etwa Wilfried Rudloff gezeigt, dass sich die Bildungspolitik in den 1960er-Jahren von der Vorstellung eines durch Naturgegebenheiten begrenzten Begabungsreservoirs abwandte, was eine wichtige Voraussetzung für den Ausbau des Bildungssystems war.3 An die Stelle der Auslese trat tendenziell – das hebt Heßdörfer selbst hervor – das Leitbild des lebenslangen Lernens (S. 208).

Bei aller analytischen Schärfe, mit der Heßdörfer tragende Diskurselemente herausarbeitet, erscheinen die untersuchten Texte doch auf sonderbare Weise dekontextualisiert. Dass eine sich als Diskursanalyse verstehende Studie die Institutionalisierung und Wirkung der untersuchten pädagogischen Konzepte ausklammert, mag noch nachvollziehbar sein (wenngleich Begriffe wie „Machttypus“ und „Regierung“ (S. 104) auf eine solche Wirkung verweisen, die aber erst – mit anderen Quellen – zu beweisen wäre). Problematischer erscheint hingegen, dass der diskursive Wandel kaum durch außerdiskursive Phänomene erklärt wird, sich also quasi autonom zu vollziehen scheint. Nur vereinzelt – und dann meist recht abstrakt – wird zum Beispiel auf die „Auslesefunktion der Schule“ (S. 163) verwiesen. Dass es sich bei den pädagogischen und psychologischen Diskussionen über „Auslese“ nach „Anlagen“ und „Eignung“ um Reaktionen auf zeitgenössische politische Auseinandersetzungen (etwa die Debatten über eine angebliche „Überfüllung“ des höheren Bildungswesens4) handelt, bleibt oft im Dunkeln.

Ist es ungerecht, eine Studie, die sich in erster Linie als Beitrag zur Selbstverständigung der Pädagogik über ihre grundlegenden Begriffe versteht, mit den Erwartungen des Historikers/der Historikerin zu lesen und entsprechende Maßstäbe anzulegen? Gerade eine Studie, die einen diskursiven Befreiungsschlag von überkommenen Kategorien beabsichtigt, hätte wahrscheinlich davon profitiert, die historischen Kontexte und vor allem die konkreten Interessenslagen aufzuzeigen, aus denen heraus die problematisierten Begrifflichkeiten entstanden sind. Vom Topos der nicht gänzlich ausgeschöpften Potentiale kann sich der Rezensent daher nicht befreien, auch wenn Florian Heßdörfers Studie einen anregenden Blick auf wichtige diskursive Phänomene eröffnet und manche Zusammenhänge klarer werden lässt.

Anmerkungen:
1 John Carson, The Measure of Merit. Talents, Intelligence, and Inequality in the French and American Republics, 1750–1940, Princeton 2006; Gillian Sutherland, Ability, Merit and Measurement. Mental Testing and English Education 1880–1940, Oxford 1984.
2 Constantin Goschler / Till Kössler (Hrsg.), Vererbung oder Umwelt? Ungleichheit zwischen Biologie und Gesellschaft seit 1945, Göttingen 2016.
3 Wilfried Rudloff, Ungleiche Bildungschancen, Begabung und Auslese. Die Entdeckung der sozialen Ungleichheit in der bundesdeutschen Bildungspolitik und die Konjunktur des „dynamischen Begabungsbegriffs“ (1950–1980), in: Archiv für Sozialgeschichte 54 (2014), S. 193–244.
4 Hartmut Titze, Der Akademikerzyklus. Historische Untersuchungen über die Wiederkehr von Überfüllung und Mangel in akademischen Karrieren, Göttingen 1990.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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