Die Anzahl an Studien zu historischem Trauma, zu psychischen Traumakonzepten und deren sozialen, sozialpolitischen und gesellschaftlichen Folgen ist in den letzten beiden Jahrzehnten deutlich gewachsen. Hier anknüpfend nimmt sich der vorliegende Band viel vor1 – und löst viel ein. Das Ziel der Herausgeber ist kein Geringeres, als den räumlichen, zeitlichen, thematischen und theoretischen Rahmen für Forschungen zu historischen Traumata zu erweitern. Zeitlich und räumlich soll damit der Fokus der interdisziplinären Beschäftigung mit diesem Thema vom Ersten auf den Zweiten Weltkrieg und vom west- auf den osteuropäischen Kontext – mit Timothy Snyder die bloodlands – verlagert werden. Des Weiteren geht es darum, neben Soldat:innen beziehungsweise Veteran:innen, auf die Studien über Traumata bislang überwiegend zielten, weitere Gruppen wie zum Beispiel die Zivilbevölkerung in den Blick zu nehmen sowie schließlich die Analyse medizinischer Diskurse und der Behandlung psychischer Störungen durch die Untersuchung von Trauma-Erfahrungen zu ergänzen. Nicht zuletzt soll der Band, so die Herausgeber, Diskussionen über neue Wege zur historischen Erforschung von Traumata anregen.
Die meisten der Autorinnen und Autoren kommen aus den historischen Disziplinen. Bereichert werden ihre Studien um Beiträge aus der Soziologie, Anthropologie und Psychologie. Die regionale und inhaltliche Bandbreite an Fallstudien ist entsprechend groß und macht das Ausmaß der Forschungslücken zu diesen Themen sichtbar. Der Band setzt sich aus drei Teilen zusammen. Im ersten Teil, der mit „Comparative Approaches“ überschrieben ist, führen die Historiker Peter Leese und Mark S. Micale eindringlich die Notwendigkeit der Erweiterung von Studien zu historischem Trauma um den osteuropäischen Raum vor Augen. In der den Band abschließenden „Coda“ skizziert der Historiker Mark Edele mögliche künftige Entwicklungslinien einer Geschichte historischer Traumata in Europas Osten.
Im zweiten Teil des Bandes finden sich die eigentlichen empirischen Studien. Dabei handelt es sich um neun Fallstudien aus der Sowjetunion beziehungsweise der Ukraine, aus Finnland, Jugoslawien, Polen, Litauen, Ungarn, der Tschechoslowakei und dem Raum Ostgalizien, die nicht nur ganz neue Fragestellungen aufmachen, sondern mithilfe teils neuer Quellen bereits überzeugende Antworten finden. So widerlegt Robert Dale in seiner Studie, die sich unter anderem auf Memoiren und Tagebucheinträge sowie Funde im Archiv des ukrainischen Gesundheitsministeriums stützt, die sich bis heute haltende These der Nicht-Kommunizierbarkeit von psychischem Trauma in sozialistischen (in diesem Fall sowjetischen) Gesellschaften. Ana Antićs Studie bestätigt dies aus einer anderen Perspektive, indem hier untersucht wird, welche Formen die Kommunikation über psychische Erschütterungen des Zweiten Weltkrieges im jugoslawischen Spielfilm der Jahre 1950 bis 1970 angenommen hat.
Dass psychiatrische Akten ein herausragendes Quellenmaterial darstellen, um der Frage nach der Wahrnehmung und Artikulation von psychischem Trauma nachzugehen, beweist wiederum der Beitrag von Ville Kivimäki. Seine Diskussion von Traumaerfahrungen finnischer Soldaten im Zweiten Weltkrieg knüpft zugleich an aktuelle Debatten der interdisziplinären Traumaforschung an, welche unter anderem um die im Titel seines Beitrags („Experiencing Trauma Before Trauma“) aufscheinende Frage kreisen, ob Trauma erfahren (und untersucht) werden kann, ohne dass es in der untersuchten Zeit einen Begriff dafür gegeben hat. Seine Antwort ist ein überzeugendes Ja.
Aus der klinischen Psychologie kommt der Beitrag von Danutė Gailienė, welcher die Suizidraten in Litauen von den 1920er-Jahren bis in die frühen 2000er-Jahre analysiert und deren Steigen sowie Fallen an eine Interpretation traumatischer Ereignisse wie etwa der zweiten sowjetischen Besatzung des Landes im Jahre 1944 und dem sich anschließenden, bis 1953 andauernden Widerstandskampf knüpft. Mit Umwelttraumata setzt sich die Soziologin Outi Autti auseinander. Sie diskutiert die Ergebnisse ihrer ethnographischen Feldstudien, in denen sie nicht nur die Verwüstungen des Zweiten Weltkrieges in Nordfinnland, sondern insbesondere auch die psychischen und mentalen Verwerfungen, die mit dem Wiederaufbau dieses Raumes nach dem Krieg für die Bewohner einhergingen, thematisiert. Tuomas Laine-Frigren wiederum beschäftigt sich mit der Frage der Instrumentalisierung von durch Krieg und Verfolgung traumatisierten Waisenkindern in Ungarn in den späten 1940er- sowie frühen 1950er-Jahren und ergänzt dies um eine Analyse autobiographischer Zeugnisse von Menschen, die sich um eben diese Kinder kümmerten.
In den bloodlands war die Gewalt im Zweiten Weltkrieg allgegenwärtig und sie richtete sich auch gegen die eigenen Nachbarn. Hier wüteten nicht nur SS-Einsatzgruppen und die Wehrmacht; vielmehr verrieten, vertrieben und ermordeten Nachbarn einander. Die Nachwirkungen dieser Gewalt und die dadurch verursachten Traumata untersucht Hana Kubátová in ihrer Fallstudie zur Slowakei, wo diese von Nachbarn an Nachbarn ausgeübte Gewalt im Jahre 1965 durch den Film „Obchod na korze“ [Das Geschäft auf der Hauptstraße] thematisiert wurde. Kubátovás Beitrag belegt überzeugend die Notwendigkeit der Einbeziehung des östlichen Europas in die Forschungen zur Holocaust-Erinnerung und widerlegt gleichzeitig die These von der Ausblendung des Holocaust in der Zeit des Kalten Krieges im Ostblock.
Mit autobiographischen Quellen arbeiten schließlich die Beiträge von Anna Wylegała und Marta Kurkowska-Budzan. Wylegałas Quellen bestehen aus Material, welches im und nach dem Krieg verfasst wurde, ergänzt durch Interviews mit Menschen, die im Zweiten Weltkrieg im Kindesalter waren. Die von ihr so genannten „entangled bystanders“ sind eben diese Kinder, die dem Grauen des Krieges sowie der alltäglichen Gewalt an ihren Mitmenschen ausgesetzt waren und die psychischen Spuren bis heute in sich tragen. Kurkowska-Budzan verwendet Quellenmaterial, das erst nach der Systemwende von 1989/90 entstanden ist. Das in der historischen Forschung noch junge Thema des „Tätertraumas“ aufnehmend untersucht sie autobiographische Zeugnisse von Exekutoren der polnischen Heimatarmee. Ihre Schlussfolgerung, dass es in der gegenwärtigen polnischen Öffentlichkeit jedoch kaum einen Resonanzboden für die Thematisierung moralischer Wunden wie der des Exekutors Stefan Dąmbski gibt, ist gleichzeitig eine Antwort auf die in der Einleitung gestellte Frage nach Vorteilen und Grenzen des Traumas als analytischem Konzept der Geschichtsforschung.
Leese bezeichnet die hier versammelten Beiträge als „grassroot“-Studien, viele von ihnen hätten auch die Bezeichnung „Pionierstudien“ verdient. Denn der Sammelband legt zweifellos offen, wie notwendig – weil lange überfällig – der Blick auf die Traumaerfahrungen im Osten Europas ist. Wie Ederle in seinem Nachwort festhält, gelingt es ihm allerdings nicht, den Blick auf Transfers, Verknüpfungen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Erfahrungen oder Praktiken im Umgang mit und in der Kommunikation über historische Traumata zu richten und damit schlussendlich auch vergleichende Perspektiven zu ermöglichen. Das wird weiteren Studien vorbehalten sein, deren Autor:innen im vorliegenden Band aber eine unverzichtbare Lektüre finden werden.
Anmerkung:
1 Explizit angeknüpft wird an den wegweisenden Band von Joland Withuis / Annet Mooij (Hrsg.), The Politics of War Trauma. The Aftermath of World War II in Eleven European Countries, Aksant 2010.