J. Lepore: Die geheime Geschichte von Wonder Woman

Cover
Titel
Die geheime Geschichte von Wonderwoman. Aus dem Englischen übersetzt von Werner Roller


Autor(en)
Lepore, Jill
Erschienen
München 2022: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
549 S., mit 141 Abb. und 39 farbigen Abb. auf Tafeln
Preis
€ 29,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Renée Winter, Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien

Die bereits 2014 im englischen Original erschienene „geheime Geschichte von Wonder Woman“ der an der Universität Harvard tätigen Historikerin Jill Lepore erzählt Hintergründe und historische Kontexte der Figur „Wonder Woman“. Wonder Woman, die 1941 erstmals in einem Comic in Erscheinung trat, sei, so Lepore eingangs, das fehlende Glied in der Geschichte feministischer Bewegungen, ein Link zwischen Erster und Zweiter Frauenbewegung (S. 15).

Anders als der Titel nahelegt, geht es in der Publikation jedoch über weite Strecken weniger um die Geschichte von Wonder Woman als um die ihres Autors, des Psychologen William Moulton Marston (1893–1947). Mehr noch, das Buch unternimmt eine Kollektivbiographie von Marston, der Psychologin Elizabeth Holloway Marston (1893–1993) und der Autorin Olive Byrne Richard (1904–1990), in deren gemeinsamem Haushalt Wonder Woman entstanden ist. Auf Basis umfassender Archivrecherchen, Korrespondenzen, Fotografien und Manuskripten aus (Teil-)Nachlässen und Interviews mit Nachkommen erzählt Lepore eine Kulturgeschichte entlang von Wonder Woman, die sich nicht nur an ein wissenschaftliches Publikum richtet.

Chronologisch werden anhand der biographischen Darstellungen in drei Teilen historische Kontexte ausgeführt, deren Verbindungen zu den Wonder-Woman-Comics visuell oder narrativ hergestellt werden. Auf diese Weise verknüpft die Autorin viele Erzählungen. Anhand der Psychologie-Studierenden William Moulton Marston und Elizabeth Holloway schildert Lepore nicht nur die Anfänge der Psychologie als wissenschaftlicher Disziplin in den USA, sondern ihr gelingt auch eine dichte Beschreibung der geschlechtergetrennten Campuskulturen und der Studienbedingungen für Frauen und Männer an amerikanischen Universitäten der 1910er- und 1920er-Jahre einschließlich der Schilderung einer Debatte um das öffentliche Sprechen der britischen Frauenwahlrechtsaktivistin Emmeline Pankhurst 1911 in Harvard. Anhand von Olive Byrnes Mutter (Ethel Byrne) und Tante (Margaret Sanger) wird die Geschichte des Birth Control Movements als eine Geschichte feministischer Kämpfe erzählt, die vorläufig 1965 in der Entscheidung des Supreme Court über die Verfassungswidrigkeit des Verbots der Empfängnisverhütung (Griswold v. Connecticut) einen Erfolg fand.1 Eng mit William Moulton Marstons Berufslaufbahn als Psychologe war die Entwicklung von Lügendetektoren verbunden. Diese Geräte fanden nicht nur oft Eingang in Wonder-Woman-Comics, Lepore erzählt entlang von Gerichtsakten, Zeitungsberichten und wissenschaftlichen Auseinandersetzungen auch eine Geschichte des Einsatzes von Lügendetektoren durch Justiz und Polizei in den USA.

Diese Verknüpfung der historischen Kontexte mit den Comics stellt die Autorin vor allem im ersten Teil oft indirekt her, indem einzelne Comicstrips oder Panels an der jeweiligen Stelle wiedergegeben werden. So wird etwa auf Abbildungen die Figur des Erzfeindes von Wonder Woman „Dr. Psycho“ eingeführt, während die historische Erzählung um die Ankunft und Tätigkeiten des deutschen Psychologen (und Lehrers von Marston) Hugo Münsterberg in Harvard kreist (S. 49–60). Seltener wird ein direkter Bezug hergestellt und werden historische Personen als Vorlagen für Figuren benannt, wie etwa Mary Sears, eine Mitstudentin von Olive Byrne, als Inspiration für die Figur Etta Candy (S. 153f.).

Der zweite Teil des Buches – und darauf spielt letzten Endes auch das „Geheime“ im Titel an – dreht sich um die Lebens- und Arbeitsgemeinschaft von William Moulton Marston, Elizabeth Holloway Marston und Olive Byrne Richard, die nicht den monogamen gesellschaftlichen Normen der Zeit entsprach. Die drei wohnten und arbeiteten mit vier gemeinsamen Kindern (zwei von Marston, zwei von Byrne) jahrzehntelang in einem Haushalt. Nach außen existierten eine Reihe von Deckerzählungen; Olive Byrne, die die Inspiration für einige Features von Wonder Woman gewesen sein soll, wurde nie offiziell als Partnerin benannt, so Jill Lepore auf Basis von Gesprächen mit einer Nachkommin. Beim Lesen entsteht stellenweise der Eindruck, dass es bei den Schilderungen der polygamen Beziehung und der angedeuteten sexuellen Vorlieben auch darum geht, eine pikante Geschichte zu erzählen und dabei die Liebes- und Lebensgemeinschaft zumindest en passant zu spektakularisieren. Lepore ermöglicht es jedoch auch, das von den beteiligten Personen gemeinsam getroffene Arrangement aus einer Perspektive der Vereinbarkeit von Familie und (wissenschaftlicher, schreibender) Berufstätigkeit von Frauen in den 1920er- und 1930er-Jahren zu betrachten. So war es Elizabeth Holloway Marston (und William Moulton Marston) möglich, ihren schreibenden und kreativen Tätigkeiten (größtenteils außeruniversitär) nachzugehen, indem Olive Byrne Richard zuständig für Haushalt, Kinder und Sekretariatstätigkeiten war.2

Die Wonder-Woman-Comics selbst, die in ihnen verhandelten Geschlechterbilder und darin eingearbeiteten politischen Realitäten von Arbeitskämpfen und Kriegsalltag, werden im dritten Teil des Buches behandelt. Lepore arbeitet hier auch die starke Abwehrhaltung gegenüber Comics in den USA der 1940er-Jahre im Allgemeinen und gegenüber Wonder Woman im Besonderen heraus. Die vor allem von katholischer und konservativer Seite vorgetragenen Zensurbestrebungen beruhten oft auf unverhohlener Misogynie und Homophobie.

Im Epilog schließlich kommt Lepore auf ihre Ausgangsthese von Wonder Woman als missing link der Feminismusgeschichte zurück. Sie beschreibt, wie US-amerikanische Feministinnen der 1970er-Jahre sich auf Wonder Woman bezogen, und zitiert die in der Frauenbewegungsgeschichtsschreibung verwendete Wellenmetapher: „Der Kampf um Frauenrechte entwickelte sich nicht in Wellenbewegungen. Wonder Woman war ein Produkt der Frauenwahlrechts-, der feministischen Bewegung und des Birth Control Movements der 1900er- und 1910er-Jahre und wurde zu einer Inspirationsquelle der Women's Lib- und der feministischen Bewegung der 1960er- und 1970er-Jahre. Der Kampf für Frauenrechte ist ein Fluss gewesen, der sich auf den Weg gemacht hat.“ (S. 397)

Mit der Metapher des Flusses verbleibt Lepore in einer Sprache der Naturgewalten und damit in der Beschreibung von sozialen Bewegungen als etwas vermeintlich Naturgesetzen Folgendes.3 Damit verstellt sie leider sowohl den Blick auf die strategischen und selektiven Bezugnahmen feministischer Bewegungen auf historische Kämpfe als auch auf die Differenzen und Widersprüche zwischen feministischen Aktivist:innen. „Die geheime Geschichte von Wonder Woman“ versucht vor allem positive und identifikatorische Bezugnahmen auf die dargestellten Protagonist:innen und Auseinandersetzungen der Frauenbewegung anzubieten.

Rassistische Darstellungen in den Wonder-Woman-Heften werden kurz thematisiert, jedoch mit Verweis auf ihre Entstehungszeit schnell abgehakt: „Der Rassismus von Wonder Woman ist der Rassismus, der in Comic-Heften der 1940er-Jahre allgegenwärtig ist.“ (S. 297) Auch die Verbindungen der Birth Control Movement-Aktivistin Margaret Sanger zu Eugenikern wird in einem Satz abgehandelt und nicht wieder aufgegriffen. In welchem Ausmaß die Geschichte von Wonder Woman eine weiße Geschichte ist, wird auch anhand der häufigen Darstellungen von Wonder Woman in Ketten und Fesseln deutlich. Lepore diskutiert diese Darstellungen in Bezug auf Bondage-Praktiken einerseits und in ihrer Kontinuität zu Darstellungen der Frauenwahlrechtsbewegung der 1910er-Jahre, deren Aktivistinnen sich bei Protestaktionen demonstrativ in Ketten legen ließen, andererseits. Anhand dieser Repräsentationen könnte jedoch auch thematisiert werden, inwiefern diese Darstellungen Elemente Schwarzer Geschichte und Erfahrungen von Versklavung als Erzählfiguren und Schablonen für Forderungen weißer Frauen benutzen, ohne diese jedoch explizit mit antirassistischen Forderungen zu verbinden oder auch nur Differenzen der Forderungen (gerade beispielsweise in Bezug auf Empfängnisverhütung) von Schwarzen und weißen Frauen wahrzunehmen.

„Die geheime Geschichte von Wonder Woman“ ist eine materialreiche, auf blumigen Beschreibungen basierende Erzählung. Im Haupttext wird oft eine Eindeutigkeit der Narration geschaffen, die in den Anmerkungen und Quellenverweisen, die rund ein Fünftel des Buches ausmachen stellenweise relativiert wird. Die gewöhnungsbedürftige häufige Verwendung von direkter Rede in der Schilderung vergangener Begebenheiten (die Lepore Briefen und Interviews mit Nachkommen entnimmt), nähert schließlich den Text formal seinem Gegenstand an und erzählt eine süffig zu lesende, ausführlich recherchierte, Hintergrund- und Fan-Geschichte von Wonder Woman.

Anmerkungen:
1 Auch diese Entscheidung des Supreme Courts zur Empfängnisverhütung wurde 2022 von Supreme Court Richter Clarence Thomas im Zuge der Debatte um die Aufhebung von Roe vs. Wade in Frage gestellt. Für eine Aufhebung dieser Entscheidung fanden sich jedoch keine Mehrheiten.
2 Die Historikerin Johanna Gehmacher hat häusliche Arbeitsteilung und ihre gegenderten Strukturen als Grundlage für wissenschaftliche und schreibende Tätigkeiten und die erfolgreiche Konstruktion einer wissenschaftlichen Persona beschrieben: Johanna Gehmacher, Im/possible Careers. Gendered Perspectives on Scholarly Personae around 1900, in: European Journal of Lifewriting XI (2022), S. 70–102. Hugo Münsterberg, in Lepores Lesart die Vorlage für Dr. Psycho, den Erzfeind von Wonder Woman, wird auch in Gehmachers Text zitiert und zwar mit seiner Ansicht, dass eine wissenschaftliche Karriere von Frauen entweder mit dem Verzicht auf Familie einhergehen müsse oder in der Rolle als Unterstützerin eines brillanten Ehemannes zu finden sei. (ebd., S. 77).
3 Naturmetaphern für die Beschreibung von Frauenbewegungen als Wellen, Vulkanausbruch oder Echo problematisierte unter anderem Heidi Niederkofler, The “Women’s Movement”: Raising Questions about Meaning and Terminology, in: Inquiries into Past and Present. IWM Junior Visiting Fellows‘ Conference Proceedings XVII (2005), https://files.iwm.at/jvfc/17_7_Niederkofler.pdf (12.08.2022).