B. Stambolis u.a. (Hrsg.): Good-Bye Memories?

Cover
Titel
Good-Bye Memories?. Lieder im Generationengedächtnis des 20. Jahrhunderts


Herausgeber
Stambolis, Barbara; Reulecke, Jürgen
Erschienen
Anzahl Seiten
458 S.
Preis
€ 27,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dietmar Klenke, Historisches Institut, Universität Paderborn

In ihrem Sammelband breiten die Herausgeber ein beeindruckendes Panorama von generationsgeschichtlichen Bezügen innerhalb der Popularmusik des 20. Jahrhunderts aus. Sie spannen einen zeitlichen Bogen von der Wilhelminischen Ära bis in die bundesdeutsche Gegenwart. In erster Linie geht es um die Rezeptionsgeschichte von Liedern als Ausdruck der symbolischen Kommunikation, soweit diese Bedeutung für generationelle Identitätsbildung hat. Der Hauptbezugspunkt der Beiträge ist der deutschsprachige Raum, in dem aber nicht nur deutschsprachigen Liedern eine bedeutsame Rolle zukommt, sondern seit dem Zweiten Weltkrieg auch der Popularmusik der angelsächsischen Welt. Der Sammelband trägt dem Umstand Rechnung, dass die Wirkungsgeschichte der Popularmusik im 20. Jahrhundert kaum mehr an den nationalen Grenzen Halt macht. Obwohl es sich hier neben der Einführung der Herausgeber um 26 thematisch breit gestreute Einzelbeiträge handelt, liegt keine Buchbinder-Synthese vor. Denn sämtliche Beiträge beziehen sich deutlich erkennbar auf die von Reulecke und Stambolis vorgegebene Themenstellung, symbolischen Ausdrucksformen generationeller Selbstverortungen in der Musikkultur nachzuspüren.

In bestimmten Liedern verdichten sich generationsspezifische Erfahrungs- und Empfindungswelten so sehr, dass sie den Herausgebern zufolge sogar zu einem zentralen Bezugspunkt von „Generationsfühligkeit“ werden können (S. 13). Dahinter verbirgt sich die Grundannahme, dass Singen ein bedeutsames Gemeinschaftsritual darstellt und wie kaum ein zweites Medium ein Gefühl von Gruppenverbundenheit zu erzeugen vermag. Dieser Gesichtspunkt hat die Auswahl der untersuchten Lieder und Gesänge bestimmt. Zu Recht stellen die Herausgeber ein analytisches Warnschild auf, indem sie darauf verweisen, dass die begriffliche Offenheit bei vielen Liedtexten generationell eingrenzbare Zuordnungen erschwert, wenn nicht gar unmöglich macht. Damit sprechen sie den allgegenwärtigen Bedeutungswandel von Liedern an, deren generationelle Identitätsfunktionen sich über größere Zeiträume hin grundlegend ändern können. Ein ähnliches komplexes Bild bietet sich, wenn man für ein und denselben Zeitraum konkurrierende Vereinnahmungen und Bedeutungszuweisungen durch rivalisierende politische Gesinnungsmilieus beobachtet. Diesbezüglich verweisen einige Beiträge auf überraschende symbolische Wanderungsbewegungen gerade von solchen Liedern, die man bislang eindeutig verortet glaubte. Erstaunlich ist, wie gut sich Lieder mitunter einpassen, wenn sie die Grenzen politisch-weltanschaulicher Lager überschreiten. Dies bestätigt einmal mehr die seit Jahrzehnten in der Musikwissenschaft vertretene Anschauung, dass die soziale Semantik melodischer und poetischer Zeichen in vielen Fällen zu unbestimmt ist, um den Wirkungskreis von Liedern und Gesängen einhegen zu können.

Gleichwohl können die Verfasser genügend Beispiele präsentieren, bei denen der Symbolgehalt von Liedern zumindest innerhalb einer Generation relativ stabil bleibt. Verliert sich der generationelle Erfahrungs- und Erlebniszusammenhang im Wandel der Zeiten, erlebt Liedgut unweigerlich einen Bedeutungswandel, sofern es nicht gänzlich in Vergessenheit gerät. Ausgesprochen kurzweilig macht die Lektüre, dass der Lebenszyklus mancher Lieder dem Leser den Eindruck einer diachronen Achterbahn-Fahrt vermittelt. Dies gilt vor allem für Lieder, die bereits in der Weimarer Republik verbreitet waren und sich im symbolpolitischen Kräftefeld bis ins späte 20. Jahrhundert forthangelten.

Bei der Auswahl der Autoren beweisen die Herausgeber eine ausgesprochen glückliche Hand. Die große Mehrzahl der Beiträge besticht durch ihre Rechercheleistung und das Bemühen, die wirkungsgeschichtlichen Verästelungen und Umformungen innerhalb einer Liedbiographie umfassend in den Blick zu nehmen. Auch die Nachforschungen zu den teilweise nur schwer rekonstruierbaren Ursprüngen fördern überraschende kultur- und politikgeschichtliche Querbezüge zutage, etwa bei Liedern wie „Wir lagen vor Madagaskar“ oder „Negeraufstand ist in Kuba“ (Beiträge von Ute Daniel und Thorsten Beigel). Erfrischend wirkt, dass die Autoren der Gefahr getrotzt haben, die mitunter abstoßenden Texte durch die Brille einer gegenwartsbezogenen ‚political correctness’ zu betrachten. Auf diese Weise hält selbst ein Beitrag über das in der Forschung viel zitierte Lied „Wildgänse rauschen durch die Nacht“ neue Einsichten bereit, die über eine platte Abqualifizierung als militaristisch hinausgehen (Aufsatz von Wilhelm Schepping).

Für die nach dem Zweiten Weltkrieg Aufwachsenden war eine Öffnung für Popularmusik aus dem angelsächsischen Raum kennzeichnend. Dieser Prozess war im Westen Deutschlands so durchschlagend, dass erst in den 1980er-Jahren mit der „Neuen deutschen Welle“ und deutschsprachigen Rockgruppen der muttersprachliche Gesang Terrain zurückerobern konnte. Zur Lebendigkeit der gegenwartsnahen Aufsätze trägt bei, dass die Autoren ihre eigene lebensgeschichtliche Betroffenheit nicht verbergen, sondern erfreulich reflektiert mit den eigenen Erfahrungen umgehen.

Nicht alle Beiträge können hier erwähnt werden; einige seien herausgegriffen. Hermann Kurzke führt am Beispiel des ursprünglich sozialdemokratisch konnotierten Liedes „Wann wir schreiten Seit an Seit“ vor, wie sehr die semantische Unbestimmtheit von Text und Musik dieses Lied für ideologische Umwertungen und Umformungen anfällig gemacht hat. Das Schicksal, von den Nationalsozialisten vereinnahmt zu werden, teilte es mit der Hymne „Brüder zur Sonne zur Freiheit“. Hinsichtlich des letztgenannten Liedes ist die nationalsozialistische ‚Zweckentfremdung’ nach 1945 teilweise hartnäckig geleugnet worden, aber den Habitus des aufopferungsvoll-visionären Kämpfers, der aus diesem Lied spricht, hatten nun einmal Rechte wie Linke gemeinsam. Jürgen Reulecke zeigt, wie bündisches Liedgut nach dem Ersten Weltkrieg im Übergang von der Front- zur Nachkriegsgeneration seinen Stimmungsgehalt wechselte, von melancholisch-schwermütigen hin zu naiv-sentimentalen Empfindungen. Die Nationalsozialisten wussten den erfahrungsbedingten Wandel der Rezeptionsmuster für sich zu nutzen. Winfried Mogge klärt in seinem Beitrag über das Lied „Es zittern die morschen Knochen“ die bislang offene rezeptionsgeschichtliche Frage, welche Bedeutung den unterschiedlichen Textvarianten zukommt. Indem er mit beeindruckend hohem Rechercheaufwand den Wandlungen dieses Liedes nachgeht, kann er nachweisen, dass es ursprünglich keineswegs das typische HJ-Lied war, für das es zumeist gehalten wird. Der Entstehung nach ist es der bündischen Jugend zuzuordnen, erlebte nach der Vereinnahmung durch die Hitlerjugend aber mehrfache Umformungen, wobei die Zeile „und heute gehört uns Deutschland“ nach dem Zweiten Weltkrieg rückblickend zum Inbegriff des stupide kraftstrotzenden Überschwangs der Nationalsozialisten wurde. Dass diese Textvariante weit verbreitet war, ist in der Forschung wiederholt angezweifelt worden, laut Mogges schlüssigen Nachforschungen aber zu Unrecht.

Für die Rezeptionsgeschichte von „Lili Marleen“ legt Wilhelm Schepping schlüssig dar, wieso aus einem deutschen Soldatenschlager des Zweiten Weltkriegs ein Weltschlager werden konnte, der nach 1945 selbst unter den Veteranen der Siegermächte noch lange fortwirkte. Eindrucksvoll unterstreicht der Eigensinn dieses Liedes die Grenzen der propagandistischen Vereinnahmung durch den Nationalsozialismus. Diese Grenzen hat auch der Beitrag von Barbara Stambolis über beliebte katholische Kirchenlieder im Blick; ihr zufolge endete die vom NS-Regime beanspruchte Oberhoheit über die Gesangskultur an den Pforten der Kirchen, die ihre Abwehrstellung mit Gesängen wie „Ein Haus voll Glorie schauet“ in kulturkämpferischer Weise ausbauten. Davon heben sich Kirchenlieder der Gegenwart deutlich ab, so etwa das in der Beliebtheitsskala kaum zu übertreffende „Danke“-Lied, das Peter Buhmann als typischen Ausdruck einer zivilgesellschaftlich geläuterten Religiosität begreift.

Der Ausbreitung angelsächsischer Popularmusik nach dem Zweiten Weltkrieg widmet sich Jürgen Beine. Er wartet mit überraschenden Befunden auf, wenn er am Beispiel des Rock’n’Roll-Hits „Rock around the clock“ die erfolgreichen Bemühungen um eine Zähmung dieser an eine unangepasste Jugend gerichteten Musik beschreibt. Die in der Forschung bisher vertretene These, dass der Rock’n’ Roll vorzugsweise das „Halbstarken“-Milieu angesprochen habe, verweist Beine ins Reich der Legenden. Mit schlüssigen Argumenten schreibt er der angloamerikanischen Popularmusik auflockernde Wirkungen zu, für die sich eine unter dem verkrampften Klima der Nachkriegszeit leidende Jugend insgesamt sehr empfänglich zeigte – weit über die unteren Schichten hinaus. Marco Neumaier geht der Wirkung der Beatles auf die Jugendlichen der 1960er-Jahre nach. Er rückt nicht die immer wieder zitierten Kult-Songs in den Mittelpunkt, sondern das „Sergeant-Pepper“-Album, das die damalige Fangemeinde mit anspruchsvollen musikalischen Formexperimenten irritierte und deutlich werden ließ, dass Lieder nur dann als symbolischer Ausdruck generationeller Selbstvergewisserung taugen, wenn sie melodiös gefällig bleiben. An ähnliche Grenzen stieß hinsichtlich seines generationellen Kultstatus Frank Zappas satirisch gemeinter Experimental-Rock, der sich nur einem eng begrenzten intellektuellen Personenkreis unter der Post-68er Jugend erschloss, wie Detlef Briesen darlegt.

Über weite Strecken hält der Sammelband ein erstaunlich hohes analytisches Niveau durch, was für dieses Genre nicht eben selbstverständlich ist. Der theoretische Anspruch von Stambolis und Reulecke, Lieder als Ausdruck generationeller Befindlichkeiten gesellschaftsgeschichtlich zu kontextualisieren, fiel bei den mitwirkenden Autorinnen und Autoren offenkundig auf fruchtbaren Boden. Auf dem Gebiet der kulturgeschichtlichen, volkskundlichen und musikwissenschaftlichen Liedforschung setzt das Buch Maßstäbe, an denen sich rezeptionsgeschichtliche Untersuchungen künftig orientieren müssen.