U. Haefeli: Mobilität im Alltag in der Schweiz seit dem 19. Jahrhundert

Cover
Titel
Mobilität im Alltag in der Schweiz seit dem 19. Jahrhundert. Unterwegs sein können, wollen und müssen


Autor(en)
Haefeli, Ueli
Reihe
Verkehrsgeschichte Schweiz 4
Erschienen
Zürich 2022: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
224 S.
Preis
€ 48.00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Christoph Maria Merki, Liechtenstein-Institut Bendern

Mobilität hat als zentrales Phänomen des menschlichen Alltags eine spannende Geschichte: Seit dem 19. Jahrhundert haben sich immer wieder neue, moderne Fortbewegungsarten entwickelt, und die alten unterliegen einem ständigen Wandel. Ueli Haefeli untersucht diesen Wandel für den schweizerischen Raum seit der Gründung des modernen Bundesstaats im Jahr 1848. Er spricht dabei bewusst von Mobilität und nicht von Personenverkehr, weil es ihm mehr um die Nachfrageseite und weniger um die Angebotsseite von Mobilität geht. Herausgekommen ist dabei ein hervorragender und erschöpfender Überblick, der das Phänomen in all seinen Spielarten, in seiner ganzen Tiefe und Breite beschreibt und analysiert. Zum Zuge kommen sowohl wirtschafts- und sozialgeschichtliche als auch politik- und kulturgeschichtliche Ansätze, sodass am Schluss so etwas wie eine faszinierende Anthropologie zeittypischer Fortbewegungsarten entsteht. Besonders aufschlussreich ist das Buch dort, wo es den Wandel der Mobilitätssysteme in Zahlen fasst und mit langen Reihen abbildet. Auch die vielen Fotos verhelfen einem zu manchem Aha-Erlebnis.

In einem ersten Teil der Studie werden die externen Faktoren der Mobilitätsentwicklung abgehandelt: die Verkehrspolitik, die sozioökonomische Situation der privaten Haushalte und die Entwicklung der Infrastruktur, namentlich der Bau der Straßen-, Tram-, Bus- und Bahnsysteme. Bei der Infrastruktur liegt der Fokus auf dem Zusammenspiel der verschiedenen Ebenen des Föderalismus, auf der Verschränkung von städtischer, kantonaler und eidgenössischer Politik – im Laufe des 20. Jahrhunderts hat der Bund eine Reihe von Kompetenzen an sich gezogen, zuerst bei der Eisenbahn-, dann auch bei der Straßenpolitik. Ein zweiter Teil befasst sich mit den Mobilitätsbedürfnissen der Individuen, darunter auch mit der Multi- und Intermodalität, die seit einigen Jahrzehnten eine zunehmende Rolle spielt. Die Rede ist in diesem Teil auch immer wieder von der bis in die Zwischenkriegszeit hinein wichtigsten Fortbewegungsart der Bevölkerung, dem Fußverkehr. Ein dritter, abschließender Teil fragt danach, wer zu welcher Zeit über welche Mobilitätskompetenzen und über welche Verkehrsmittel verfügte. Der dritte Teil präsentiert schließlich noch fünf Abschnitte der Zeit seit 1848, in denen die Essenz der jeweiligen Mobilitätssysteme in kondensierter Form herausgearbeitet wird, von der Verkehrs- und Kommunikationsrevolution der 1850er-Jahre über den Automobilismus der 1960er-Jahre bis zur Komplexität der Mobilitätsmuster der Gegenwart.

Ueli Haefeli versteht sein Buch als Synthese eines größeren Forschungsprojekts zur Mobilitätsgeschichte, das vom Schweizerischen Nationalfonds finanziert und am Historischen Institut der Universität Bern angesiedelt war. Er stützt sich bei seinen Ausführungen in erster Linie auf die Literatur, die er zweifelsohne souverän beherrscht, und nur wenig auf Quellenarbeit. So sind auch keine Archivverweise nötig. Allerdings hat die Distanz zur Quellensprache zur Folge, dass die Studie mitunter in einem etwas arg technokratisch-abstrakten Duktus daherkommt.

Zu kritisieren gibt es an und für sich wenig. Es ist schade, dass weder der Wasser- noch der Luftverkehr zur Sprache kommen – bei einem kleinen Binnenland wie der Schweiz ist dies jedoch halbwegs verständlich. Schwerer wiegt die Absenz einer international vergleichenden Perspektive, was die Anschlussfähigkeit der Studie an die internationale Forschung beeinträchtigt. Mit der Bemerkung, dass die Schweiz bei der Mobilität keinen Sonderweg beschritten habe, ist es leider nicht getan. Außerdem ist diese Ansicht so nicht richtig. Die schweizerische Mobilität hat durchaus ihre spezifischen, geographischen Rahmenbedingungen. So ist die Schweiz (auch) ein Alpenland, was aber bei Haefeli überhaupt nicht vorkommt: Von all den Seil- und Zahnradbahnen, von den Tunneln und Skiliften, die die Berglandschaft prägen, erfährt man nichts. Die Wanderwege werden nur en passant erwähnt. Haefeli beschränkt sich also weitgehend auf die Mobilität im schweizerischen Mittelland. Das Mittelland wiederum ist mit seinen vielen und eher kleinen Städten, die allmählich zu einer einzigen, großen Agglomeration verschmelzen, durchaus etwas Besonderes, was sich allerdings nur in vergleichender Perspektive (etwa zur niederländischen Randstad) herausarbeiten ließe.

Komplett fehlt schließlich die Perspektive der Energie- und Klimapolitik. Dies ist schade, wo doch jede Fortbewegungsart, sogar der Fußmarsch, einen Input an Energie benötigt. Und ob der Umstieg auf die Elektromobilität, der im Moment im Gange ist, den CO2-Abdruck des Personenverkehrs wirklich schmälert und umweltpolitisch sinnvoll ist, wäre eine durchaus diskussionswürdige Frage.

Zum Schluss noch ein Wort zu der gendergerechten Sprache Haefelis, zu all den "Kritiker∗innen", "Gegner∗innen" und "Historiker∗innen", die in seinem Buch vorkommen. Freunde des generischen Maskulinums werden schaudern, zumal es an Konsequenz fehlt: Neben den "Zuzüger∗innen" und "Expert∗innen" existieren auch noch die "Akteure" und "Passagiere", und in zusammengesetzten Wörtern feiert das verachtete, traditionell gute Deutsch fröhliche Urständ – da heißt es dann "Arbeiterschaft" und "Pendlerströme". Bei all dem Gendern wird übersehen, dass gerade dadurch wichtige geschlechtergeschichtliche Differenzierungen verloren gehen: Es ist eben ein Unterschied, ob es in den 1920er-Jahren "Autofahrer∗innen" oder "sechs Prozent Autofahrerinnen" gab.

Andererseits: Lesegenuss und Erkenntnisgewinn werden durch diese Kritik nicht beeinträchtigt. Insofern sei das Buch jedem Mobilitätsinteressierten zur Lektüre empfohlen. Es ist zu hoffen, dass es nicht nur in der Historikerzunft Beachtung findet, sondern auch bei Verkehrs- und Raumplanern oder bei Mobilitätspolitikern.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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