Titel
Cars for Comrades. The Life of the Soviet Automobile


Autor(en)
Siegelbaum, Lewis H.
Erschienen
Anzahl Seiten
IXX, 309 S.
Preis
€ 33,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Luminita Gatejel, Berliner Kolleg für Vergleichende Geschichte Europas

Auto und Sozialismus bilden ein ungewöhnliches Paar. Vor allem der Pkw verträgt sich nur schwer mit dem auf kollektiven Werten basierenden Sozialismus. Diesem für den sowjetischen Kontext äußerst kontroversen Konsum- und Technikgegenstand ist das neue Buch von Lewis Siegelbaum gewidmet. Dabei nimmt sich der Autor vor, die sowjetische Geschichte dezentral zu erzählen. Er lehnt sowohl eine Perspektive von unten als auch von oben ab, um sich dem Thema von der Seite her („from the side“) zu nähern – ein Blick, der ihm erlaubt, das sowjetische Auto als ein Produkt von Politik, Arbeitsrichtlinien, Wirtschaftsentscheidungen, Design und internationalen Beziehungen darzustellen. Die Monographie soll sowohl Vertreter der historischen Mobilitätsforschung als auch der sowjetischen Studien ansprechen: Für die Erstgenannten will sie den Beitrag leisten, das Automobil jenseits der westlich-kapitalistischen Sichtweise zu situieren, während die Studie im Rahmen der sowjetischen Geschichte mit Narrativen abzurechnen sucht, die von einer absoluten Zentralisierung der politischen Entscheidung und der Verteilung von Ressourcen sprechen.

Diese Versprechen löst Siegelbaums Buch bestens ein. Chronologisch aufgebaut und in fünf thematische Schwerpunkte untergliedert, zeichnet es „das Leben des sowjetischen Automobils“ genau nach. Aufstieg und Niedergang bzw. das gequälte post-sozialistische Nachleben der drei großen „sowjetischen Detroits“ werden in den ersten drei Kapiteln festgehalten. Die Fabriken in Moskau, Nischni Nowgorod/Gorki und Togliatti stehen für drei unterschiedliche Aufbauphasen des sowjetischen Projektes: das Pathos der Anfangsjahre, die „glorreichen Jahre nach dem Krieg“ (S. 62f.) und die Wiederaufnahme der sozialistischen Großprojekte in den späten 1960er-Jahren. Siegelbaum macht nicht bei der Produktion der Autos halt, sondern integriert den Mikrokosmos Autofabrik auf eindrucksvolle Weise in ein engmaschiges Gewebe von politischen Entscheidungen, Plananforderungen, Arbeitsmoral, Sozialpolitik und Mangelwirtschaft. Die sowjetischen Autostädte boten Zuflucht für zahlreiche junge und mit der Zeit zunehmend qualifizierte Arbeiter, die sich dort ein besseres Leben als in der Provinz erhofften. Durch die Prominenz der Automobilindustrie innerhalb der Wirtschaftsplanung waren deren Arbeiter relativ gut gestellt im Vergleich zu den allgemeinen Arbeits- und Lebensbedingungen im ganzen Lande. Diese Fabriken fungierten wie ein Staat im Staat; obwohl von der Ressourcenverteilung in Moskau abhängig, agierten sie vor Ort als allmächtige Gesellschaften, die das ganze Leben in den umliegenden Städten und Bezirken bestimmten.

Das Thema der Zusammenarbeit mit dem Westen zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der sowjetischen Autoproduktion. Es waren der Import von westlichen Technologien und die Requirierungen nach dem Zweiten Weltkrieg, die die Automobilindustrie voran brachten. Auf die Frage, ob die sowjetische Autoproduktion abhängig von diesen Importen war, findet Siegelbaum keine eindeutige Antwort. Eine eigene sowjetische Autoindustrie wäre ohne westliche technologische Beihilfe nicht möglich gewesen, jedoch haben es die sowjetischen Spezialisten verstanden, das fremde Know-how erfolgreich in das bestehende System zu integrieren.

Fortgesetzt wird die Darstellung mit einem Kapitel zur Planung und zum Ausbau des sowjetischen Wegesystems. Die berühmte Rasputniza (wetterbedingt unbenutzbare Wege im Frühling und Herbst), die Planungseuphorie der ersten Jahre, die Vernachlässigung des asiatischen Teiles und schließlich die massiven Investitionen der letzten Jahrzehnte, die aber die Sowjetunion nicht aus ihrer sprichwörtlichen „Wegelosigkeit“ helfen konnten, kommen nicht zu kurz. Auf einer übergeordneten Ebene nimmt Siegelbaum das Straßennetz als Ausgangspunkt, um auf zentrale Themen der sowjetischen Geschichte zu sprechen zu kommen. So kontrastiert er beispielsweise die Kampagnen für die (mehr oder minder) freiwillige Arbeit am Straßenbau mit den immer größer werdenden Arbeitslagern der Straßenaufsichtsbehörde. Oder er beschreibt, wie durch die Augen der Fahrer und begleitenden Journalisten während der Autorennen der 1930er-Jahre die Peripherie für die Zentralmacht „sichtbar“ wurde.

Abgerundet wird die Studie in den letzten beiden Abschnitten von einer Sozial- und Kulturgeschichte der Automobilnutzung. Hier galt es vor allem, den Durchbruch der automobilen Revolution auf sowjetischem Boden samt den verursachten Problemen und unbeabsichtigten Nebeneffekten nachzuzeichnen. Ein immer besserer Zugang zu Autos ging einher mit der Vernachlässigung der Infrastruktur und der Instandhaltung der Autos, die fast ganz der Schattenwirtschaft überlassen wurden. Vor allem das letzte Kapitel zu der Spätzeit ist die Weiterführung eines früheren Forschungsinteresses Siegelbaums: das Auto als ein Artefakt zu betrachten, das die Grenzen zwischen Privatem („Persönlichem“ im sowjetischen Sprachgebrauch) und Öffentlichem verwischte und dadurch die Beziehungen zum Staat, sowie zwischen den Individuen in neue Bahnen lenkte.1 Einerseits trug die Massenmotorisierung zur Verbreitung des Individualkonsums bei, andererseits brachte sie die Starrheit der Planökonomie sowjetischen Typs zum Vorschein, die vom komplexen Dienstleistungssystem für Privatwagen überfordert war. In den alltäglichen Sorgen der Sowjetbürger um ihr Auto kam zunehmend ihre Desillusionierung bezüglich des sozialistischen Systems zum Ausdruck (S. 251). In dieser Hinsicht beschleunigte der verbreitete individuelle Autobesitz den Verfall der kollektiven Werte in der Sowjetunion.

Wirklich innovativ ist die Auswahl der Quellen. Wie der Autor selbst zugibt, war er ursprünglich skeptisch, ob es ernsthafte Forschung sein könnte, Autozeitschriften und seichte Filme auszuwerten oder sich wiederholt die Parkplätze ehemaliger sozialistischer Wohnblockanlagen anzuschauen. (S. x). Für die material culture studies gehören derartige Untersuchungen mittlerweile jedoch zum Standard; es ist nur zu begrüßen, dass sich diese Praxis auch auf die Sowjetstudien ausgeweitet hat.

Diesem ersten Versuch zur Geschichte des sowjetischen Automobils ließe sich lediglich die zu starke Fokussierung auf die 1930er- und 1940er-Jahren vorwerfen. Wundern kann diese Ausrichtung wenig, da Siegelbaum einer der ausgewiesenen Stalinismus-Experten, insbesondere für die Arbeits- und Wohlfahrtsgeschichte, ist. Auch wenn er die Zäsur von 1956 mit seinem aktuellen Vorhaben deutlich überschreitet, konzentrieren sich seine Ausführungen in erster Linie auf die frühere Sowjetunion. So werden zum Beispiel Fragekomplexe wie Autobesitz und Autonutzung für die letzten zwei Jahrzehnte der Sowjetunion nur leicht gestreift, ohne dass darauf näher eingegangen wird.

Ein Detail wäre noch zu erwähnen. Die Kapitelüberschriften können etwas Verwirrung stiften. Auch für Eingeweihte lassen sich die häufigen Namensänderungen der Autofabriken, wie zum Beispiel „AMO-ZIS-ZIL-AMO-ZIL: Detroit in Moskau“, nicht auf den ersten Blick entschlüsseln. Zwar ist damit eine der Thesen des Buches verknüpft – ein Hinweis auf die vielen Reformen, Brüche und das erneute Anknüpfen an frühere Zeiten, welche die Entwicklung in der Automobilindustrie kennzeichneten – doch wäre es besser gewesen, diese Hinweise erst in den jeweiligen Kapiteln einzuführen. Insgesamt jedoch ist „Cars for Comrades. The Life of the Soviet Automobile” eine hochspannende Lektüre. Dieses sehr schön geschriebene Buch mit äußerst passenden Illustrationen zeigt eindringlich, wie das Automobil die Sowjetunion nachhaltig verändert hat.

Anmerkung:
1 Siegelbaum, Lewis (Hrsg.), Borders of Socialism: Private Spheres in Soviet Russia, New York 2006.

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