D. B. Stienen: Verkauftes Vaterland

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Titel
Verkauftes Vaterland. Die moralische Ökonomie des Bodenmarktes im östlichen Preußen 1886–1914


Autor(en)
Stienen, Daniel Benedikt
Reihe
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft
Erschienen
Göttingen 2021: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
356 S., 22 Tab.
Preis
€ 65,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Kopsidis, Leibniz-Institut für Agrarentwicklung in Transformationsökonomien (IAMO), Halle (Saale)

Thema des vorliegenden Buches sind die Reaktionen der polnischen und deutschen Akteure auf dem Bodenmarkt auf die forcierte staatliche Bodenaufkaufs- und Ansiedlungspolitik in den Provinzen Posen und Westpreußen des späten Kaiserreichs. Diese war 1886 mit der Gründung der Königlichen Ansiedlungskommission institutionalisiert worden und zielte darauf ab, in polnisch geprägten Siedlungsgebieten im Osten Preußens den deutschen Anteil am Agrarland und an der ländlichen Bevölkerung substantiell zu erhöhen. Rechtfertigung für diese Germanisierungspolitik, die in den ersten Jahrzehnten zumindest formal noch den rechtsstaatlichen Rahmen wahrte, indem sie auf rechtlich und ökonomisch-theoretisch gesehen freiwillige Verkäufe und Käufe von Land setzte, war die vermeintliche Bedrohung des Deutschtums durch die slawische Bevölkerung an der Ostgrenze.

Stienen verfolgt einen akteurszentrierten Ansatz und richtet sein Augenmerk auf die Aushandlungsprozesse, durch die Käufe und Verkäufe von Land an die Ansiedlungskommission vorangingen. Auf diese Weise möchte er klären, wieso die nationalpolitisch erwünschten Landverkäufe durch polnische Eigentümer an die Kommission vergleichsweise selten zustande kamen, während der Großteil des aufgekauften Grund und Bodens von deutschen Grundbesitzern stammte. Ältere Erklärungsansätze, die den ethnodemographischen Zweck der Kommission für eher vorgeschoben hielten und diese vielmehr als staatliche Sanierungsanstalt für wirtschaftlich bedrohte deutsche Großagrarier ansahen, kann Stienen überzeugend relativieren, ohne die Sanierungsfunktion jedoch gänzlich zu negieren.

Die Studie erschließt damit ein wichtiges Forschungsdesiderat. Im Mittelpunkt steht nicht so sehr das Agieren der Behörde als Nachfrager von Land, das im Idealfall von polnischen Eignern übernommen und an deutsche Siedler übertragen werden sollte. Vielmehr geht es um die Motivationen, Restriktionen und Handlungen der deutschen und polnischen Anbieter von Land. Indem er die gesellschaftliche Einbettung des Handelns der Marktakteure, vor allem auf der polnischen Seite, überzeugend herausarbeitet, gelingt es Stienen, das Scheitern der Ansiedlungskommission schlüssig zu erklären. Sein kulturgeschichtlicher Ansatz, der neben Käufern und Verkäufern auch gesellschaftliche Akteure und normative Rahmenbedingungen der fraglichen Marktprozesse in den Blick nimmt, stellt alles in allem eine wichtige Erweiterung des doch sehr verengten methodologischen Individualismus ökonomischer Theorien und Modelle dar.

Wie Stienen im ersten Teil seiner Studie zeigt, konnten polnische Akteure durch intensive mediale Begleitung der Arbeit der Ansiedlungskommission und Skandalisierung einzelner Transaktionen einen wirksamen sozialen Ostrazismus gegenüber verkaufswilligen polnischen Gutsbesitzern etablieren. Folglich unterblieb wohl eine große Zahl von Transaktionen aus Angst vor den gesellschaftlichen Folgen für die Betroffenen. Auf deutscher Seite gelang es nicht, vergleichbaren sozialen Druck auf verkaufswillige Großgrundbesitzer aufzubauen. Stienen führt überzeugend aus, dass polnische urbane bürgerliche Eliten mit der Landfrage den Alleinvertretungsanspruch des Adels für die polnische Bevölkerung erfolgreich in Frage stellten. Deutsche Großgrundbesitzer schafften es dagegen, in den für sie relevanten Kreisen der deutschen Öffentlichkeit durchzusetzen, dass das Wohl ihrer Familien und besonders der erbenden Kinder nicht hinter nationalpolitischen Erwägungen zurückstehen dürfe.

Letztendlich schlägt hier die privilegierte gesellschaftliche Position einer staatstragenden Klasse von Großgrundbesitzern durch, die unter den Bedingungen des Kaiserreichs weder von einer Behörde noch von öffentlichen Kampagnen radikalisierter Extremnationalisten aus akademisch-mittelständischen Milieus ins Wanken gebracht werden konnte. Die harten strukturellen Gegebenheiten der ländlichen Gesellschaft Ostelbiens hätten angesichts dieses Befundes etwas stärker betont werden müssen, um das Scheitern einer auf moralischem Druck aufbauenden Bodenmarktpolitik auf deutscher Seite zu erklären. Aushandlungsprozesse werden eben nicht nur von Normen, sondern in erheblichem Maße von Machtgefällen geprägt.

Dieser Einwand ändert aber nichts daran, dass Stienens Erklärungen für den Erfolg und Misserfolg von moralischen Strategien auf einem politisierten Bodenmarkt insgesamt überzeugen. Wie Stienen aufwendig rekonstruiert, gab es für deutsche Grundeigentümer vielfältige Wege, sich sozialem und medialem Druck zu entziehen. Ein vergleichsweise knapp diskutierter Aspekt besteht darin, dass sozialer Ausschluss aus ihrer Community für Mitglieder einer diskriminierten Minderheit weitaus schwerwiegendere Konsequenzen hat als für Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft.

Mit großem Gewinn sind auch die nachfolgenden Kapitel zur Zuspitzung und zur Entgrenzung des staatlichen Handelns 1898 bis 1914 zu lesen. Einhegungsversuche kamen hierbei oft aus dem Staats- und Justizapparat und beriefen sich auf ein ausgeprägtes preußisches Rechtsstaatsverständnis. Dennoch setzten staatlich-preußische Stellen nicht nur mit dem infamen Enteignungsgesetz von 1908 verfassungsrechtlich garantierte Eigentums- und Bürgerrechte der polnischen Minderheit außer Kraft. Auch in diesem Entgrenzungsprozess spielten mediale Kampagnen eine große Rolle, die vermeintlich höheren Zielen wie der Erhaltung des deutschen Volkstums Vorrang vor rechtsstaatlichen Prinzipien einräumten.

Abschließend seien einige kritische und weiterführende Anmerkungen zu diesem wichtigen Buch erlaubt, das beispielhaft demonstriert, wie sich Kultur- und Wirtschaftsgeschichte gewinnbringend verbinden lassen. Der von Stienen prominent verwendete Begriff der „moralischen Ökonomie“ des Bodenmarktes scheint mir für den untersuchten Fall doch eher irreführend zu sein. Das Konzept der moralischen Ökonomie suggeriert ein radikales Gegenmodell zur kapitalistischen Preisbildung, das statt auf Angebot und Nachfrage primär auf ein außerökonomisch begründetes Konzept von Gerechtigkeit rekurriert. Tatsächlich stellten die Aktivitäten der Ansiedlungskommission den liberalen, auf freiwilligen Transaktionen zu Marktpreisen basierenden Bodenmarkt in den preußischen Ostprovinzen zumindest bis 1908 ausdrücklich nicht in Frage. Selbst das Enteignungsgesetz von 1908 sah noch Entschädigungen vor und wollte unbedingt den Eindruck vermeiden, die Prinzipien des ‚freien‘ Bodenmarktes grundsätzlich in Frage zu stellen. Die Frage war vielmehr, wer auf diesem Markt ‚frei‘ agieren durfte und wer nicht. Selbstredend stellten die preußischen Gesetze einen schweren Markteingriff dar. Dieser implizierte aber kein Gegenmodell zum herrschenden liberalen Bodenmarkt, sondern sanktionierte schlichtweg die Diskriminierung (potenzieller) Marktteilnehmer. Derartige Diskriminierung beim Marktzugang gab es damals in vielfältiger Form (z.B. gegenüber Frauen) in allen europäischen Ländern. Die ökonomische ‚Systemfrage‘ hat der preußische Staat auf dem Bodenmarkt ganz bewusst nie gestellt.

Neben der von Stienen analysierten medialen Skandalisierung von Landverkäufen ist ein wichtiger Grund für die Beharrungskraft polnischer Landeigentümer und ihren Verbleib in der Landwirtschaft auch in der massiven Diskriminierung dieser Bevölkerungsgruppe zu suchen. Zu dieser Frage am Schnittpunkt von Kultur- und ‚harter‘ Wirtschaftsgeschichte ist noch viel Forschung nötig. Anknüpfend an die ökonometrische Studie von Kersting, Wohnsiedler und Wolf1, die regionale Variationen in der Verbreitung wachstumsfördernder kultureller Techniken wie Schriftlichkeit und Sparsamkeit (anders als Max Weber) nicht auf konfessionelle Unterschiede, sondern auf ethnische Diskriminierung zurückführen, ließe sich zumindest ein Teil des innerpreußischen West-Ost-Entwicklungsgefälles mit der Bildungs- und Arbeitsmarktdiskriminierung der polnischstämmigen Bevölkerung erklären. Da schlechter ausgebildete polnische Arbeitskräfte gezwungen waren, in der Landwirtschaft zu verbleiben, während sich deutschen Arbeitskräften immer mehr außerlandwirtschaftliche Alternativen auf dem Arbeitsmarkt eröffneten, waren vermehrte deutsche Abwanderung und verfestigte polnische Beharrung in der Landwirtschaft die Folge. So gesehen schuf die antipolnische Politik preußisch-deutscher Eliten erst das ‚Problem‘ der Polonisierung weiter Teile Ostelbiens.

Um zu einem vollen Verständnis der Effektivität der Königlichen Ansiedlungskommission und ihrer Auswirkungen auf den Bodenmarkt zu kommen, ist also eine Verbindung von Kulturgeschichte und Ökonomie unabdingbar. Die vorliegende Studie von Stienen liefert hierzu einen zentralen Baustein. Komplementär dazu wäre weiterhin zu klären, ob und wie sich die extreme Politisierung des Bodenmarktes in Posen und Westpreußen auf die Bodenpreise und die Agrarentwicklung auswirkten.

So ist anzunehmen, dass unsichere (bzw. ethnisch konditionierte) Eigentumsrechte am Boden sich negativ auf Investitionsverhalten und Produktivität niederschlugen. Demgegenüber lässt sich jetzt schon sagen, dass sich nach Oliver Grant die Totale Faktorproduktivität (TFP) in der Landwirtschaft in der Provinz Posen 1880/84–1905/09 am zweitbesten von 21 deutschen Provinzen beziehungsweise Regionen entwickelte. Auch Westpreußen lag weit über dem deutschen Durchschnitt.2 Die politisch motivierten Eingriffe in den Bodenmarkt in diesen beiden schwach entwickelten preußischen Provinzen standen einem erfolgreichen aufholenden Wachstum somit eher nicht im Wege. Dies wirft interessante Fragen bezüglich der Rolle von Institutionen für die Agrarentwicklung im Kaiserreich auf. Verglichen mit den politischen Folgen der preußischen Bodenpolitik für das Verhältnis von Polen und Deutschen, auf die Stienen sich konzentriert, scheinen deren ökonomische Auswirkungen eher zweitrangig gewesen zu sein.

Alles in allem bleibt festzuhalten, dass die Arbeit von Daniel Benedikt Stienen einen theoretisch fundierten, in der Quellenauswertung umfassenden und gründlichen innovativen Ansatz darstellt, um das Handeln der Akteure auf dem Bodenmarkt im östlichen Preußen während des Kaiserreiches zu verstehen. Selbst unter den Bedingungen des eingeschränkten preußischen Rechtsstaates standen der polnischen Minderheit offenbar genug Spielräume zur Verfügung, ihre Position in der Landwirtschaft zu behaupten – unter anderem durch Nutzung der Massenmedien und Schaffung einer polnischen Öffentlichkeit. Der rechtsstaatlich fragwürdige deutsche Druck scheint innerhalb der polnischen Teilgesellschaft eher Kohäsions- als Auflösungskräfte freigesetzt zu haben.

Anmerkungen:
1 Felix Kersting / Iris Wohnsiedler / Nikolaus Wolf, Weber Revisited. The Protestant Ethic and the Spirit of Nationalism, CESifo Working Papers 8421 2020, July 2020, https://www.cesifo.org/en/publications/2020/working-paper/weber-revisited-protestant-ethic-and-spirit-nationalism (11.06.2024).
2 Oliver Grant, Agriculture and economic development in Germany, 1870–1919, in: Pedro Lains / Vicente Pinilla (Hrsg.), Agriculture and economic development in Europe since 1870, Abingdon 2009, S. 178–209.

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